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1.

Glücklich zu preisen sind die, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich – oder: trotz Mangel ein Glückskind sein

Die Zuhörer, Frauen und Männer auf dem Berg der Predigt Jesu, schauten etwas irritiert. Lang war der Weg, den sie hinter sich hatten, mitunter vom Zweifel besetzt, ob sich die Strapazen, diesen Ort aufzusuchen, nur um diesen jungen Mann aus Galiläa zu hören, auch lohnten. Es gab doch schon so viele, die gescheit dahergeredet haben. Und was hatte es gebracht? Viel Luft! Ob der Neue da wirklich mehr bringt? Aber was soll’s. Schauen wir mal.

Und da setzte er sich vor ihren Augen und sprach den ersten Satz: „Glücklich zu preisen sind die, die arm sind …“ Noch mal – wer ist glücklich? Es entstand Nebel in ihren Köpfen. Nichts war am Seelenhimmel zu entdecken, was diesen ersten Satz hätte verständlich machen können. Erst langsam, sehr, sehr langsam entstand ein Bild vor ihnen, entstand Klarheit, was dieses Wort alles bedeuten könnte.

Glücklich sind die Menschen, die den mörderischen Kampf gegen die eigene innere Armut und Unvollkommenheit aufgeben können.

Glücklich sind die Menschen, die nicht mehr ständig um Anerkennung buhlen müssen mit anbiederndem Gehabe und dem Verrat an ihren eigenen Gefühlen.

Glücklich sind die Menschen, die nicht mehr unter den eigenen Schwächen, nicht mehr unter dem Mangel leiden, den sie an sich selbst feststellen.

Die genannten Schlagworte beschreiben die dunklen Gefühle, mit denen sich Menschen herumschlagen. Der Kampf mit Minderwertigkeitsgefühlen, mit Unfähigkeit, Schwächen, all dem Negativen im eigenen Leben, das sich nicht abschütteln lässt.

Wer möchte nicht gern mehr glänzen und besser ankommen? Wer wollte nicht besser singen, tanzen, flirten, rechnen oder schreiben können? Wer wäre nicht gern hübscher, hätte schönere Haare, eine glattere Haut? Wer hätte nicht gern eine sympathischere Ausstrahlung, mehr Charisma und Kreativität, Humor und Witz? Wer käme nicht gern mit etwas mehr Intelligenz, Wortgewandtheit oder Attraktivität rüber?

Viele leiden unter ihrer Mittelmäßigkeit, daran, dass sie wie eine graue Maus, ein Mauerblümchen, ein Aschenbrödel oder ein Schwächling sind im Verhältnis zu den starken und imposanten Strahlemännern, Schönheitsköniginnen und Alphatypen, die einen immer wieder alt und unattraktiv aussehen lassen.

Psychologisch-spirituell heißt das: Wir Menschen machen die Erfahrung, als seien wir in der Tat aus dem Paradies vertrieben worden. Dieses ist als ein Ort der Ungebrochenheit gedacht, als Ort der Vollkommenheit, wo kein Mangel am eigenen Sein wahrgenommen wird. Solche Paradieserfahrungen machen in der Regel Embryos, Säuglinge und Kleinkinder. Im Mutterleib, wie auch am Anfang des Lebens, plagt sich kein kleines Mädchen damit, nicht schön genug zu sein. Doch später heißt es dann vor dem Spiegel: „Wer ist die Schönste im ganzen Land?“ Im Mutterleib und am Anfang des Lebens plagt sich kein kleiner Junge damit, nicht stark genug zu sein und dass er im Sport als Niete wahrgenommen wird.

Bildlich ausgedrückt: Im Paradies braucht Eva weder Promenier-Schmuck zu tragen noch edle Boutiquenkleidung, Silikonbrüste oder ein Tattoo, um bei Adam zu landen. Adam hingegen braucht weder eine Jacht noch einen Porsche, weder einen vergoldeten Golfschläger noch Trendklamotten und auch keine Muskelpakete, um Eva zu gewinnen.

Doch außerhalb des paradiesischen Urzustands haben wir den ungebrochenen Zustand, den unbekümmerten Status eines in sich selbst ruhenden Wesens, das ganz mit sich eins ist, verloren. Außerhalb des paradiesischen Urzustands erfahren und entdecken wir unsere Schwachstellen und Defizite an dem, was uns Glanz verleiht, unsere Unvollkommenheit, Begrenztheit und Fehlerhaftigkeit, bis hin zu den eigenen hässlichen Schattenseiten, unter denen wir leiden. Hier werden die dunklen Gefühle geboren, Neid und Eifersucht, all die Fantasien, wie man besser abschneiden könnte im andauernden Konkurrenzkampf um Anerkennung und Aufmerksamkeit, darum, verehrt und geliebt zu werden.

Hier entstehen die Versuche, die eigene Unvollkommenheit zu verbergen, zu verstecken, all die Versuche, sich aufzupolieren. Wenigstens die Fassade soll stimmen, sodass niemand bemerkt, wie mangelhaft es im eigenen Seelenhaus aussieht, wie kalt im eigenen Herzensraum, wie trostlos im innersten Zentrum der Psyche, dort, wo das Ich eigentlich mit einem Glücksgefühl zu Hause sein will.

Reichtum soll all die Schwächen verdecken. Er soll uns Glanz verleihen und uns attraktiv und anziehend machen, sodass wir Blicke auf uns ziehen, zum Hingucker werden. Nichts in und an uns soll blass und nichtssagend erscheinen. Je schwächer sich der Jüngling oder je makelbehafteter sich altersbedingt der Alte fühlt, desto aufgemotzter und getunter muss sein Auto sein – das ist jeden Tag auf der Straße zu beobachten. Warum wohl hängt die Zigarettenkippe so cool im Mundwinkel? Wo liegt der Grund für die überteuerten Markenschuhe? Irgendwie muss man sich doch wenigstens in der Clique Ansehen verschaffen, um nicht wie das arme Würstchen dazustehen, das man vielleicht ist. Niemals sollen Spötter über uns herziehen können, weil sie unsere armseligen Seiten entdeckt haben, da sie uns als Hänfling, Loser oder Lusche identifizieren mit mangelnder Attraktivität, als armes Huhn, hinter dem schon längst kein Hahn mehr her kräht.

So kämpfen und kämpfen Männer und Frauen einen mörderischen Kampf gegen sich selbst, oft unter Missachtung des eigenen Körpers und der eigenen Gesundheit, um ja gut anzukommen, um bei jemandem einen Stein im Brett zu haben, um wertgeschätzt und geachtet zu sein. Sie wollen den attraktiven Job behalten und auf der Karriereleiter weiter nach oben gelangen. Das Ganze wird begleitet von der permanenten Angst, dass man schon morgen wieder ausgestochen werden könnte, da ein anderer Mensch, der gerade auf der Bildfläche erscheint, mehr zu bieten hat. So schickt man sich in Selbstoptimierungsprogramme, um den letzten Hauch von Makel und Mangel auszumerzen. Und so steht die Seele, das innere Kind, der sehnsüchtige Mensch mitunter am Rande der Verzweiflung. Ein unverhoffter Zwischenfall, ein Patzer, ein grober Fehler – und man stürzt ab.

Genau hierhin gehört die erste Glücksthese Jesu: „Glücklich zu preisen sind die, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich.“

Glücklich sind die Menschen, die vor Gott zu ihrer Armut stehen können. Glücklich dürfen all die sein, die sich mit ihren Schwächen, ihrer Unvollkommenheit und ihren Schatten als von Gott wertgeschätzt und angenommen verstehen. Die beglückt und entspannt für sich feststellen: So bin ich, das bin ich, und das ist gut so. So liebt mich der Himmel, ich muss nicht anders sein. Ich darf das ausleben und zum Blühen bringen, was in mir angelegt ist, und meine Blüte wird ihre ganz eigene Schönheit haben, ihren eigenen Duft, und vor allen Dingen: Sie wird unverwechselbar sein.

Mit seiner ersten Glücksthese hat Jesus einer uralten religiösen Vorstellung widersprochen, die geradezu archaischen Charakter hat, und sich in der christlichen Religion wie auch in vielen anderen Religionen wiederfindet: die Idee, dass der Mensch ein Leben lang gegen seine innere Armut, seinen Mangel, seine Unvollkommenheit und Fehlerhaftigkeit ankämpfen muss, um die Götter beziehungsweise den Himmel einigermaßen gnädig zu stimmen, um nicht mit einem miesen Karma dort zu landen, wo er niemals hinwill.

Den religiös „unsauberen“ Zeitgenossen, denen, die nicht zur Mitte der religiösen Gesellschaft gehörten, weil sie längst für sich selbst akzeptiert hatten, dass sie außen vor waren, all denen, die sich als mangelhafte Wesen wahrgenommen hatten, signalisierte der junge Mann aus Nazareth eine überraschende, neue Sicht auf das eigene Leben: Ihr seid geliebt und wertgeachtet, ihr seid angenommen und müsst nicht mehr scheinen, als das, was ihr seid. Vielmehr noch: Ihr seid Kinder des Himmels, Kinder des Gottes, der „seine Sonne über Bösen und Guten aufgehen und … es regnen [lässt] für Gerechte und Ungerechte“ (ebenfalls Bergpredigt). Den richtenden Mangelfeststellgott, den miesen Buchhaltergott, der die Sünden zählt, gab es nie und wird es niemals geben. Entsprechende Götter waren Projektionen patriarchalisch geprägter Männer, die im eigenen Leben allzu oft Väter erlebt haben, die sie als Söhne arm aussehen ließen.

Damit hat Jesus eine Glücksbotschaft erster Güte in einer Welt verkündet, in der ständig unser Wert taxiert wird. Unglaublich, auf wie vielen Ebenen der Mensch heutzutage von einem Zensor verfolgt wird, beruflich, privat, zwischen Frau und Mann, finanziell sowieso, in der Bildung, im Studium, im Sport, in der Gesundheit etc. Ständig wird unser Marktwert gemessen, und die fehlenden „likes“ in den sozialen Netzwerken des Internets geben einem den Rest. Auch wissenschaftlich verbrämte Begriffe wie „Evaluierung“ können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es dabei entscheidend um eine Bewertung des Menschen geht. Gerhard Polt hat den Begriff entsprechend satirisch „übersetzt“ als: „Evaluierung: zeitgemäße, mit hohen Kosten verbundene Maßnahme zur Bewertung von Menschen auf ihre Nützlichkeit und Ertragsfähigkeit hin. Aufgrund grassierender Statistikhörigkeit und gegenseitigem Misstrauen greift ein Sich-gegenseitig-Bewerten epidemieartig um sich“.2 In der Tat leben wir ständig in der Gefahr, mit der Note „mangelhaft“ oder „ungenügend“ in die Hölle zur sozialen Verbrennung gestoßen zu werden oder auf ein Abstellgleis, um dort den Rest des Lebens zu verbringen. Genau für diese Art von Lebenserfahrung ist die Botschaft aus der Bergpredigt bestimmt: „Glücklich zu preisen sind die, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich.“

Der zweite Teil des Satzes „denn ihnen gehört das Himmelreich“ ist für die jeweilige Jetztzeit des Lebens bestimmt. Dort, wo uns Menschen begegnen, die uns so annehmen, wie wir sind, die uns liebevoll und wertschätzend in die Augen schauen, die uns unsere Schwächen, unsere Fehlerhaftigkeit zugestehen, ohne ein abwertendes oder gar vernichtendes Urteil über uns zu fällen, dort verwandelt sich unsere subjektive Welt zu einem Himmelreich. Es ist wahrhaft himmlisches Glück, in dieser Weise hin und wieder einer Frau oder einem Mann, einem Freund oder einer Freundin zu begegnen, einem Menschen, der unsere Gegenwart genießt, sich gern mit uns auf eine Wegstrecke des Lebens macht, mit uns plant, gestaltet und feiert und das Leben in seiner ganzen Fülle wahrnimmt.

Beispielhaft wirkt in diesem Zusammenhang das Grimm’sche Märchen3 mit dem Titel „Hans mein Igel“4: Nach langer Kinderlosigkeit wurde die Ehefrau eines reichen Bauern schwanger. Es kam der Tag der Geburt des Wunschkindes. Doch ihr Entsetzen war groß, denn der Oberkörper des Kindes sah aus wie ein Igel, nur unten war’s wie ein Junge. Die Mutter reagierte mit Abscheu, dem Kleinen wurde die Brust verweigert, ebenso das Kinderbett. Acht Jahre musste er sein Leben hinter einem Ofen fristen, begleitet von dem Wunsch des Vaters, dass er doch bald sterben möge. „Hans mein Igel“ wurde dieses arme kleine Menschenkind genannt, das in keine liebevollen und zugewandten Augen schauen konnte, keine Wertschätzung beim Start ins Leben erfuhr. Eigentlich schien es dazu verdammt, armselig im Leben zu scheitern.

Schon bald wurde dem igeligen Hans klar, dass er diesen Unort des Lebens verlassen musste – ein geradezu göttlicher Impuls. Von seinem Vater erbat er sich einen Dudelsack, einen beschlagenen Hahn, ein paar Schweine und Esel, um das Elternhaus zu verlassen. Der Vater war heilfroh, den Sohn los zu sein. Angekommen in einem Wald, flog Hans mit seinem beschlagenen Hahn auf einen hohen Baum, um dort in der Höhe mit seinem Dudelsack zu musizieren. Dort oben wurde Hans mein Igel vom Himmel geküsst – er erfuhr Zuwendung auf einer anderen Ebene, Zuwendung, die er bis dahin nicht erfahren hatte. Die Klänge, die Melodien, die Musik, all das wurde seins, Ausdruck all dessen, was neben seiner igeligen Haut auch in ihm angelegt war wie ein verborgener Schatz. Es war ein Wohlklang für die Ohren, sodass, was im Märchen sein muss, zufällig vorbeireisende Könige verwundert waren, an diesem Ort solche bezaubernde Musik zu hören. Selbstverständlich nahmen sie mit dem außergewöhnlichen Musiker Kontakt auf. Nicht einfach war in Folge der Weg, den „Hans mein Igel“ zu gehen hatte, bis er eine Königstochter in seine Arme schließen konnte und als König der Erbe eines Königreiches wurde. Hans war, psychologisch verstanden, angekommen, hatte zu sich gefunden, zu dem Ort seines Lebens. Hans mein Igel, das Mangelwesen par excellence, durfte sich als Königssohn annehmen und verstehen.

Die Bergpredigt wird mit der Glücksthese für das Mangelwesen Mensch eröffnet. Es handelt sich also um ein erstrangiges Thema – ein Leitmotiv für alles Folgende.5

Da waren sie nun doch überrascht. Das ging ja in eine ganz andere Richtung als die, die sie anfangs vermutet hatten. Es kam keine Vertröstungsformel für die kleinen Leute, die nichts zu lachen hatten, deren Frust irgendwann einmal ausgeglichen würde, nachdem die Erde sie wieder verschluckt hat. Und dann handelte die Rede von einem Gott, der einen trotz aller Mängel, Fehler und Armseligkeit liebt. Unglaublich! Das hatten sie so noch nie gehört. Ob das so stimmte? Auf alle Fälle war es spannend zuzuhören. Da war der Weg auf diesen Berg wohl doch nicht umsonst gewesen.

Glückhochacht

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