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KAPITEL 4

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Mit dem tiefen, unbewussten Seufzer, von dem ihn bei Beginn seines Arbeitstages noch nicht einmal die Nähe des Teleschirms abhalten konnte, zog Winston den Sprechschreiber zu sich, blies den Staub aus seinem Mundstück und setzte seine Brille auf. Dann entrollte er vier kleine Papierzylinder, die bereits aus der Rohrpost auf der rechten Seite seines Schreibtisches geplumpst waren, und heftete die Blätter zusammen.

In den Wänden der Arbeitskabine befanden sich drei Öffnungen. Rechts neben dem Sprechschreiber eine kleine Rohrpost für schriftliche Mitteilungen, links eine größere für Zeitungen und in der Seitenwand, für Winston in bequemer Reichweite, ein großer länglicher Schlitz, der durch eine Drahtgitterklappe geschützt war. Letzterer diente der Entsorgung von Altpapier. Ähnliche Schlitze gab es zu Tausenden oder Zehntausenden im gesamten Gebäude, nicht nur in jedem Raum, sondern auch in kurzen Abständen auf jedem Korridor. Aus irgendeinem Grund hatte man ihnen den Spitznamen »Gedächtnislöcher« verpasst. Wenn man wusste, dass irgendein Dokument zur Vernichtung bestimmt war, oder wenn man auch nur ein Stück Altpapier herumliegen sah, hob man automatisch die Klappe des nächstgelegenen Gedächtnislochs an und warf es hinein, woraufhin es durch einen Strom warmer Luft zu den riesigen Verbrennungsöfen, die irgendwo in den Tiefen des Gebäudes versteckt waren, gewirbelt wurde.

Winston las die vier Zettel, die er entrollt hatte. Jeder Zettel enthielt eine nur ein oder zwei Zeilen lange Anweisung, in dem Kurzjargon – der kein echtes Neusprech war, aber überwiegend aus Neusprech-Wörtern bestand –, der im Ministerium für interne Zwecke benutzt wurde. Sie lauteten:

times 17.3.84 gb rede fehlberichtet afrika berichtigen

times 19.12.83 prognosen 3 jp 4. quartal 83 druckfehler aktuelle ausgabe richtigstellen

times 14.2.84 minfüll fehlzitiert schokolade berichtigen

times 3.12.83 bericht gb tagesbefehl doppeltplusungut nennt unpersonen komplett umschreiben präarchiv vorlage

Mit einem leisen Gefühl der Befriedigung legte Winston die vierte Anweisung beiseite. Das war eine komplizierte und verantwortungsvolle Arbeit, die besser zuletzt erledigt werden sollte. Die anderen drei waren Routineangelegenheiten, obwohl die zweite wahrscheinlich ein langwieriges Durchforsten von Zahlenlisten erfordern würde.

Winston wählte auf dem Teleschirm »Alte Nummern« und forderte die entsprechenden Ausgaben der Times an, die schon nach wenigen Augenblicken aus der Rohrpost glitten. Die Anweisungen, die er erhalten hatte, bezogen sich auf Artikel oder Nachrichten, die aus dem einen oder anderen Grund geändert oder, wie es in der offiziellen Formulierung hieß, richtiggestellt werden sollten. So stand beispielsweise in der Times vom 17. März, dass der Große Bruder in seiner Rede vom Vortag prophezeit hatte, dass es an der Südindien-Front ruhig bleiben würde, dass aber in Kürze eine eurasische Offensive in Nordafrika erfolgen würde. Tatsächlich hatte nun aber das eurasische Oberkommando seine Offensive in Südindien gestartet und Nordafrika unbehelligt gelassen. Es war daher notwendig, einen Absatz der Rede des Großen Bruders so umzuschreiben, dass er eben das vorhersagte, was tatsächlich geschehen war. Im zweiten Fall hatte die Times vom 19. Dezember die offiziellen Prognosen für die Produktion verschiedener Konsumgüter im vierten Quartal 1983 veröffentlicht, das gleichzeitig auch das sechste Quartal des neunten Dreijahresplans war. Die heutige Ausgabe enthielt eine Aufstellung über die tatsächliche Produktion, aus der hervorging, dass die Prognosen für sämtliche Sparten komplett danebengelegen hatten. Winstons Aufgabe war es, die ursprünglichen Zahlen so richtigzustellen, dass sie mit den späteren übereinstimmten. Was die dritte Anweisung betraf, so bezog sie sich auf einen sehr einfachen Irrtum, der innerhalb von ein paar Minuten korrigiert werden konnte. Noch im Februar hatte das Ministerium für Fülle eine Versicherung abgegeben (ein »kategorisches Versprechen«, so der offizielle Wortlaut), dass es im Jahr 1984 keine Kürzung der Schokoladenration geben würde. In Wirklichkeit sollte, wie Winston nun wusste, die Schokoladenration Ende dieser Woche von dreißig auf zwanzig Gramm herabgesetzt werden. Hier brauchte man nun nichts weiter zu tun, als das ursprüngliche Versprechen durch einen Hinweis zu ersetzen, dass es wahrscheinlich notwendig sein würde, die Ration irgendwann im April zu kürzen.

Sobald Winston sich mit einer Anweisung befasst hatte, heftete er seine sprechgeschriebenen Korrekturen an die entsprechende Ausgabe der Times und schob sie in die Rohrpost. Dann zerknüllte er mit einer beinahe unbewussten Bewegung die ursprüngliche Anweisung sowie jegliche Notizen, die er dazu gemacht hatte, und warf sie in das Gedächtnisloch, um sie von den Flammen verzehren zu lassen.

Was in dem unsichtbaren Labyrinth geschah, zu dem die Rohrpostleitungen führten, war ihm nicht im Detail, sondern nur in groben Zügen bekannt. Sobald alle Korrekturen, die für eine bestimmte Ausgabe der Times erforderlich waren, zusammengetragen und prüfend verglichen worden waren, wurde diese Ausgabe neu gedruckt, das Original vernichtet und die korrigierte Ausgabe an ihrer Stelle ins Archiv eingestellt. Dieser kontinuierliche Änderungsprozess wurde nicht nur auf Zeitungen angewandt, sondern auch auf Bücher, Zeitschriften, Broschüren, Plakate, Flugblätter, Filme, Tonspuren, Cartoons, Fotografien – auf jede Art von Literatur oder Dokumentation, die irgendeine politische oder ideologische Bedeutung haben könnte. Jeden einzelnen Tag und beinahe minütlich wurde die Vergangenheit auf den neuesten Stand gebracht. Auf diese Weise konnte durch dokumentarische Beweise nachgewiesen werden, dass jede Vorhersage der Partei richtig gewesen war, und es durften natürlich auch keine Aufzeichnungen über Nachrichten oder Meinungsäußerungen aufgehoben werden, die den augenblicklichen Gegebenheiten widersprachen. Die gesamte Geschichte war ein einziges Palimpsest, das so oft wie nötig gereinigt und neu beschrieben wurde. In keinem der Fälle wäre es möglich gewesen, nach Durchführung der Aufgabe zu beweisen, dass eine Fälschung stattgefunden hatte. Die größte Sektion der Dokumentationsabteilung, weitaus größer als die, in der Winston arbeitete, bestand aus Menschen, deren Aufgabe es war, alle Ausgaben von Büchern, Zeitungen und anderen Dokumenten, die überholt waren und zur Vernichtung anstanden, aufzuspüren und zu beschaffen. Eine Ausgabe der Times, die aufgrund von Veränderungen in der politischen Ausrichtung oder irrtümlichen Prophezeiungen des Großen Bruders vielleicht ein Dutzend Mal umgeschrieben worden war, stand nichtsdestoweniger mit dem ursprüngliche Datum im Archiv, und es existierte nirgendwo eine andere Ausgabe, die mit ihr im Widerspruch stand. Auch Bücher wurden immer wieder aus dem Verkehr gezogen und umgeschrieben und ohne jeglichen Hinweis auf vorgenommene Veränderungen neu aufgelegt. Sogar in den schriftlichen Anweisungen, die Winston erhielt und die er sofort vernichtete, sobald er sich mit ihnen befasst hatte, wurde nie erwähnt oder angedeutet, dass eine Fälschung vorgenommen werden sollte: Es handelte sich immer um Versehen, Irrtümer, Druckfehler oder falsch Zitiertes, die im Interesse der Genauigkeit korrigiert werden mussten.

Aber eigentlich, dachte er, als er die Zahlen des Ministeriums für Fülle anpasste, war es ja gar keine Fälschung. Es wurde lediglich ein Unsinn durch einen anderen ersetzt. Der größte Teil des Materials, das man bearbeitete, stand in keinerlei Zusammenhang mit irgendetwas in der realen Welt, nicht einmal in der Art von Zusammenhang, der in einer direkten Lüge enthalten ist. Statistiken waren in ihrer Originalfassung genauso ein Fantasieprodukt wie in ihrer korrigierten Version. Meistens wurde von einem erwartet, dass man sie sich einfach ausdachte. So hatte beispielsweise das Ministerium für Fülle in seiner Prognose die Stiefelproduktion für das Quartal auf 145 Millionen Paar geschätzt. Die tatsächliche Produktion wurde mit 62 Millionen angegeben. Beim Umschreiben der Prognose hatte Winston die Zahl jedoch auf 57 Millionen herabgesetzt, um der üblichen Behauptung Rechnung zu tragen, die Quote sei übererfüllt worden. In jedem Fall aber kamen 62 Millionen der Wahrheit nicht näher als 57 Millionen oder als 145 Millionen. Sehr wahrscheinlich waren überhaupt keine Stiefel produziert worden. Noch wahrscheinlicher war, dass niemand wusste, wie viele produziert worden waren, geschweige denn, dass sich überhaupt jemand darum scherte. Man wusste nur, dass in jedem Quartal astronomische Mengen von Stiefeln auf dem Papier produziert wurden, obwohl schätzungsweise die Hälfte der Bevölkerung Ozeaniens barfuß lief. Und so verhielt es sich mit allen aufgezeichneten Tatsachen, ob sie nun bedeutend oder unbedeutend waren. Alles verblasste in einer Schattenwelt, in der letztendlich sogar die Jahreszahl ungewiss geworden war.

Winston warf einen Blick durch die Halle. In der gegenüberliegenden Arbeitskabine arbeitete ein kleiner, pedantisch aussehender, dunkelhäutiger Mann namens Tillotson fleißig vor sich hin, eine gefaltete Zeitung auf den Knien, den Mund ganz dicht an der Muschel des Sprechschreibers. Er wirkte so, als versuche er das, was er sagte, zwischen ihm und dem Teleschirm geheim zu halten. Er blickte auf, und seine Brille schoss einen feindseligen Blitz in Winstons Richtung.

Winston kannte Tillotson kaum und hatte keine Ahnung, mit welcher Arbeit er beschäftigt war. Die Mitarbeiter der Dokumentationsabteilung sprachen nicht gerne über ihre Arbeit. In der langen, fensterlosen Halle mit ihrer Doppelreihe von Arbeitskabinen, aus denen das endlose Rascheln von Papier und das Gemurmel der Stimmen, die in die Sprechschreiber diktierten, zu hören waren, gab es ein gutes Dutzend Leute, die Winston noch nicht einmal dem Namen nach kannte, obwohl er sie täglich durch die Gänge eilen oder während des Zwei-Minuten-Hasses gestikulieren sah. Er wusste, dass sich in der Kabine neben ihm die kleine Frau mit den rotblonden Haaren Tag für Tag abrackerte, um aus der Presse die Namen von Personen herauszusuchen und zu löschen, die vaporisiert worden waren und die daher so behandelt wurden, als hätten sie niemals existiert. Das war auf irgendeine Art sogar ganz passend, da ihr eigener Mann einige Jahre zuvor vaporisiert worden war. Ein paar Kabinen weiter war ein sanfter, ineffektiver, verträumter Mensch namens Ampleforth, mit sehr behaarten Ohren und einem erstaunlichen Talent, mit Reimen und Versmaßen zu jonglieren, damit beschäftigt, verstümmelte Versionen – endgültige Texte, wie sie genannt wurden – von Gedichten herzustellen, die ideologisch anstößig geworden waren, die aber aus dem einen oder anderen Grund in den Anthologien beibehalten werden sollten. Und diese Halle mit ihren rund fünfzig Mitarbeitern war nur eine Unterabteilung, sozusagen eine einzige Zelle in dem enormen Komplex der Dokumentationsabteilung. Neben, über und unter ihnen waren weitere Scharen von Arbeitern mit einer unvorstellbaren Vielzahl von Aufgaben beschäftigt. Da waren die riesigen Druckereien mit ihren Redakteuren, Typografie-Experten und aufwendig ausgestatteten Studios für die Fälschung von Fotografien. Es gab die Teleprogramm-Abteilung mit ihren Technikern, Produzenten und ihrem Stab von Schauspielern, die speziell im Hinblick auf ihr Talent, Stimmen nachzuahmen, ausgewählt wurden. Es gab Heerscharen von Bibliothekaren, deren Aufgabe lediglich darin bestand, Listen von Büchern und Zeitschriften zu erstellen, die eingezogen werden sollten. Dann gab es die riesigen Lagerräume, in denen die korrigierten Dokumente aufbewahrt wurden, und die versteckten Verbrennungsöfen, in denen die Originalausgaben vernichtet wurden. Und irgendwo, ganz anonym, saßen die verantwortlichen Köpfe, die das Ganze koordinierten und die politischen Richtlinien festlegten, nach denen dieses Fragment der Vergangenheit zu bewahren, jenes zu fälschen und ein anderes zu vernichten war.

Und dabei war die Dokumentationsabteilung selbst nur ein kleiner Zweig des Ministeriums für Wahrheit, dessen Hauptaufgabe nicht darin bestand, die Vergangenheit zu rekonstruieren, sondern darin, die Bürger Ozeaniens mit Zeitungen, Filmen, Lehrbüchern, Teleschirm-Programmen, Theaterstücken, Romanen – mit jeder erdenklichen Art von Informationen, Belehrungen oder Unterhaltung zu versorgen, sei es ein Denkmal oder eine Parole, ein lyrisches Gedicht oder eine biologische Abhandlung, eine Rechtschreibfibel für Kinder oder ein Neusprech-Wörterbuch. Und das Ministerium musste nicht nur die vielfältigen Bedürfnisse der Partei befriedigen, sondern sämtliche Arbeitsschritte noch einmal auf einem niedrigeren Niveau für das Proletariat wiederholen. Es gab eine ganze Reihe eigener Abteilungen, die sich mit proletarischer Literatur, Musik, Theater und Unterhaltung im Allgemeinen befassten. Hier wurden Boulevardzeitungen produziert, die nichts als Sport, Verbrechen und Horoskope enthielten, reißerische Fünf-Cent-Romanhefte, Sexfilmchen und sentimentale Schlager, die vollkommen mechanisch auf einem speziellen Kaleidoskop, einem sogenannten Versifikator, komponiert wurden. Es gab sogar eine ganze Unterabteilung – Pornoab, wie sie in Neusprech genannt wurde –, die sich mit der Herstellung der schmutzigsten Art von Pornografie beschäftigte, die in versiegelten Paketen verschickt wurde und die sich kein Parteimitglied außer denjenigen, zu deren Arbeit es gehörte, ansehen durfte.

Während Winston arbeitete, waren drei weitere Nachrichten aus der Rohrpost geglitten, bei denen es sich aber um einfache Angelegenheiten handelte, die er erledigt hatte, bevor ihn der Zwei-Minuten-Hass unterbrach. Als der Hass zu Ende war, kehrte er in seine Arbeitskabine zurück, nahm das Neusprech-Wörterbuch aus dem Regal, schob den Sprechschreiber zur Seite, reinigte seine Brille und machte sich an seine Hauptaufgabe des Morgens.

Winstons größte Freude im Leben war seine Arbeit. Das meiste davon war zwar langweilige Routine, aber es gab darunter auch so schwierige und komplizierte Arbeiten, dass man sich in ihnen verlieren konnte wie in den Tiefen eines mathematischen Problems – schwierige Fälschungen, bei denen man sich von nichts anderem leiten lassen konnte als von seiner Kenntnis über die Prinzipien des Engsoz und seiner Einschätzung dessen, was die Partei von einem erwartete. Winston war gut in solchen Dingen. Gelegentlich war er sogar mit der Berichtigung von Leitartikeln der Times betraut worden, die vollständig in Neusprech verfasst waren. Er entrollte die Anweisung, die er zuvor beiseitegelegt hatte. Sie lautete:

times 3.12.83 bericht gb tagesbefehl doppeltplusungut nennt unpersonen komplett umschreiben präarchiv vorlage

In Altsprache übersetzt bedeutete dies:

Die Berichterstattung über den Tagesbefehl des Großen Bruders in der Times vom 3. Dezember 1983 ist äußerst unbefriedigend und erwähnt nicht existierende Personen. Schreiben Sie ihn vollständig um und legen Sie Ihren Entwurf an höherer Stelle vor, bevor er ins Archiv übermittelt wird.

Winston las den beanstandeten Artikel durch. Der Tagesbefehl des Großen Bruders war anscheinend hauptsächlich eine Lobpreisung der Arbeit einer Organisation namens SFZK, welche die Matrosen in den Schwimmenden Festungen mit Zigaretten und anderen Komfortgütern versorgte. Ein gewisser Genosse Withers, ein prominentes Mitglied der Inneren Partei, war namentlich besonders hervorgehoben worden und mit einer Auszeichnung, dem Orden für besondere Verdienste Zweiter Klasse, ausgezeichnet worden.

Drei Monate später war die SFZK plötzlich und ohne Angabe von Gründen aufgelöst worden. Man musste davon ausgehen, dass Withers und seine Kollegen nun in Ungnade gefallen waren, jedoch war weder in der Presse noch auf dem Teleschirm über die Angelegenheit berichtet worden. Das war zu erwarten gewesen, da politische Straftäter üblicherweise nicht vor Gericht gestellt oder öffentlich angeprangert wurden. Die großen Säuberungsaktionen, die Tausende von Menschen umfassten, mit ihren öffentlichen Prozessen gegen Verräter und Gedankenverbrecher, die unterwürfig ihre Verbrechen gestanden und anschließend hingerichtet wurden, waren besondere Renommierprojekte, die nur alle paar Jahre einmal stattfanden. Für gewöhnlich verschwanden Menschen, die das Missfallen der Partei erregt hatten, ganz einfach, und man sah und hörte nie wieder etwas von ihnen. Man hatte nicht die geringste Ahnung, was mit ihnen geschehen war. In einigen Fällen waren sie vielleicht noch nicht einmal tot. Etwa dreißig Menschen, die Winston persönlich gekannt hatte, seine Eltern nicht mitgezählt, waren im Laufe der Zeit verschwunden.

Winston strich sich mit einer Büroklammer über die Nase. In der Kabine gegenüber kauerte Genosse Tillotson immer noch geheimnistuerisch über seinem Sprechschreiber. Er hob für einen Moment den Kopf: wieder der feindselige Blitz durch seine Brille. Winston fragte sich, ob Genosse Tillotson mit der gleichen Arbeit beschäftigt war wie er. Das war durchaus möglich. Eine so heikle Arbeit würde niemals einer einzigen Person anvertraut werden; sie andererseits einem Ausschuss vorzulegen, käme einem öffentlichen Eingeständnis gleich, dass eine Fälschung durchgeführt werden sollte. Sehr wahrscheinlich arbeiteten gerade ein ganzes Dutzend Leute an konkurrierenden Versionen dessen, was der Große Bruder tatsächlich gesagt hatte. Und bald darauf würde irgendein Superhirn in der Inneren Partei diese oder jene Version auswählen, sie neu herausgeben und die erforderlich werdenden komplexen Prozesse der Querverweise in Gang setzen, und dann würde die ausgewählte Lüge ins Archiv eingehen und zur Wahrheit werden.

Winston wusste nicht, warum Withers in Ungnade gefallen war. Vielleicht wegen Korruption oder wegen Inkompetenz. Vielleicht wollte sich der Große Bruder aber auch nur eines allzu beliebten Untergebenen entledigen. Vielleicht war Withers oder jemand, der ihm nahestand, wegen häretischer Ansichten verdächtigt worden. Oder vielleicht – was am wahrscheinlichsten war – war die Sache einfach passiert, weil Säuberungen und Vaporisierungen nun einmal notwendige Bestandteile des Regierungsmechanismus waren. Der einzige wirkliche Hinweis lag in den Worten nennt unpersonen, was darauf hindeutete, dass Withers bereits tot war. Man konnte nicht immer davon ausgehen, dass dies der Fall war, wenn Menschen verhaftet wurden. Manchmal wurden sie freigelassen und durften noch ein oder zwei Jahre in Freiheit leben, ehe sie hingerichtet wurden. In ganz seltenen Fällen tauchte ein Mensch, den man längst für tot gehalten hatte, bei einem öffentlichen Prozess geisterhaft wieder auf, wo er dann Hunderte andere durch seine Zeugenaussage belastete, bevor er wieder verschwand, diesmal für immer. Withers war jedoch bereits eine UNPERSON. Er existierte nicht. Er hatte nie existiert. Winston entschied, dass es nicht ausreichen würde, einfach die Ausrichtung der Rede des Großen Bruders umzukehren. Es war besser, sie von etwas handeln zu lassen, das gar nichts mehr mit ihrem ursprünglichen Thema zu tun hatte.

Er könnte die Rede in die übliche Anklage gegen Verräter und Gedankenverbrecher abändern, aber das war etwas zu offensichtlich; würde er jedoch einen Sieg an der Front oder einen Triumph der Überproduktion im neunten Dreijahresplan erfinden, würde dies die Dokumentation erheblich erschweren. Was man hier brauchte, war ein reines Fantasieprodukt. Plötzlich kam ihm, quasi fix und fertig, das Bild eines gewissen Genossen Ogilvy in den Sinn, der kürzlich unter heldenhaften Umständen im Kampf gefallen war. Es gab Gelegenheiten, bei denen der Große Bruder seinen Tagesbefehl dem Gedenken an ein einfaches Parteimitglied aus dem Fußvolk widmete, dessen Leben und Sterben er als nachahmenswertes Beispiel anführte. Heute sollte er des Genossen Ogilvy gedenken. Zwar gab es die Person des Genossen Ogilvy nicht, aber ein paar gedruckte Zeilen und einige gefälschte Fotos würden ihn schon bald ins Leben rufen.

Winston dachte einen Moment nach, zog dann den Sprechschreiber zu sich heran und begann im vertrauten Stil des Großen Bruders zu diktieren: einem zugleich militärischen und pedantischen Stil, der wegen eines Kniffs, Fragen zu stellen und diese dann direkt zu beantworten, leicht nachzuahmen war (»Welche Lehre ziehen wir aus dieser Tatsache, Genossen? Die Lehre – die auch eines der Grundprinzipien des Engsoz ist –, dass ...«).

Im Alter von drei Jahren hatte Genosse Ogilvy alle Spielzeuge außer einer Trommel, einer Maschinenpistole und einem Modellhubschrauber abgelehnt. Im Alter von sechs Jahren war er – durch eine Ausnahmeregelung ein Jahr früher als üblich – den Spionen beigetreten, mit neun Jahren war er bereits Truppenführer. Mit elf hatte er seinen Onkel bei der Gedankenpolizei denunziert, nachdem er ein Gespräch belauscht hatte, dem er kriminelle Tendenzen entnahm. Mit siebzehn war er Bezirksleiter der Anti-Sex-Juniorenliga geworden. Mit neunzehn hatte er eine Handgranate entwickelt, die vom Ministerium für Frieden übernommen wurde und gleich bei ihrem ersten Einsatz einunddreißig eurasische Gefangene mit einem Schlag getötet hatte. Mit dreiundzwanzig war er im Kampf gefallen. Bei einem Flug mit wichtigen Depeschen über den Indischen Ozean wurde er von feindlichen Düsenflugzeugen verfolgt, daher war er mit seinem Maschinengewehr als Ballast mitsamt den Depeschen aus dem Hubschrauber ins tiefe Meer gesprungen – ein Ende, sagte der Große Bruder, das man unmöglich ohne Neidgefühle betrachten könne. Der Große Bruder fügte einige Bemerkungen über die Integrität und Unbeirrbarkeit von Genosse Ogilvys Leben hinzu. Er war absoluter Abstinenzler und Nichtraucher gewesen, hatte sich außer einer Stunde täglich in der Turnhalle keine weitere Erholung gestattet und das Zölibatsgelübde abgelegt, da er die Ehe und die Versorgung einer Familie für unvereinbar mit einer vierundzwanzigstündigen Pflichterfüllung hielt. Er kannte kein anderes Gesprächsthema als die Prinzipien des Engsoz und kein Lebensziel als die Besiegung des eurasischen Feindes und die Jagd auf Spione, Saboteure, Gedankenverbrecher und Verräter im Allgemeinen.

Winston überlegte, ob er dem Genossen Ogilvy den Orden für besondere Verdienste verleihen sollte. Schließlich entschied er sich wegen der unnötigen Querverweise, die das mit sich bringen würde, dagegen.

Noch einmal warf er seinem Rivalen in der gegenüberliegenden Kabine einen Blick zu. Irgendetwas schien ihm mit Gewissheit zu sagen, dass Tillotson mit der gleichen Arbeit beschäftigt war wie er. Es war nicht abzusehen, wessen Arbeit schließlich übernommen werden würde, aber er war zutiefst davon überzeugt, dass es seine eigene sein würde. Genosse Ogilvy, von dem vor einer Stunde noch niemand etwas geahnt hatte, war jetzt eine Tatsache. Es kam ihm komisch vor, dass man Tote erschaffen konnte, aber keine Lebenden. Genosse Ogilvy, der in der Gegenwart nie existiert hatte, existierte nun in der Vergangenheit, und wenn erst einmal die Tatsache der Fälschung vergessen war, würde er ebenso authentisch und nachweislich existieren wie Karl der Große oder Julius Cäsar.

George Orwell: 1984

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