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KAPITEL 5

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In der niedrigen Kantine, tief unter der Erde, rückte die Mittagessensschlange langsam vorwärts. In dem Raum herrschte bereits dichtes Gedränge und ohrenbetäubender Lärm. Aus dem Luftdurchlass an der Theke stiegen die Schwaden eines Eintopfes auf, mit einem säuerlich-metallischen Geruch, der die Dämpfe des Victory-Gins nicht ganz überdecken konnte. Auf der anderen Seite des Raumes befand sich eine kleine Bar, nicht mehr als ein bloßes Loch in der Wand, wo man für zehn Cent einen ordentlichen Schluck Gin kaufen konnte.

»Genau der Mann, den ich gesucht habe«, sagte eine Stimme hinter Winston.

Er drehte sich um. Es war sein Freund Syme, der in der Forschungsabteilung arbeitete. Vielleicht war »Freund« nicht ganz das richtige Wort. Heutzutage hatte man keine Freunde, sondern Genossen; aber es gab einige Genossen, deren Gesellschaft angenehmer war als die der anderen. Syme war Philologe, ein Spezialist für Neusprech. Er gehörte zu dem riesigen Team von Experten, das gerade mit der Erstellung der elften Ausgabe des Neusprech-Wörterbuchs beschäftigt war. Er war ein winziges Kerlchen, kleiner als Winston, mit dunklem Haar und großen, hervorstehenden Augen, die gleichzeitig schwermütig und spöttisch dreinblickten und während eines Gesprächs das Gesicht seines Gegenübers genau zu erforschen schienen.

»Ich wollte dich fragen, ob du vielleicht ein paar Rasierklingen für mich hast«, sagte er.

»Nicht eine«, erwiderte Winston schnell schuldbewusst. »Ich hab’s überall versucht. Es gibt keine mehr.«

Ständig wurde man von allen möglichen Leuten nach Rasierklingen gefragt. Ehrlich gesagt hatte er noch zwei unbenutzte Rasierklingen gehamstert. Seit Monaten waren sie nun schon Mangelware. Es gab ständig irgendeinen Gebrauchsartikel, den die Parteigeschäfte nicht liefern konnten. Manchmal waren es Knöpfe, manchmal Stopfgarn, manchmal Schnürsenkel; im Moment waren es Rasierklingen. Man konnte sie, wenn überhaupt, nur durch mehr oder weniger heimliches Suchen auf dem »freien« Markt ergattern.

»Ich benutze seit sechs Wochen dieselbe Klinge«, fügte er verlogen hinzu.

Die Warteschlange rückte ein Stück vor. Als sie zum Stehen kam, drehte er sich wieder zu Syme um. Jeder von ihnen nahm ein speckiges Metalltablett von einem Stapel am Ende des Tresens.

»Hast du dir gestern das Hängen der Gefangenen angesehen?«, fragte Syme.

»Nein, hab’ gearbeitet«, sagte Winston leichthin. »Ich schau’s mir wohl im Kino an.«

»Ein sehr unzureichender Ersatz«, meinte Syme.

Seine spöttischen Augen wanderten über Winstons Gesicht. »Ich kenne dich«, schienen diese Augen zu sagen, »ich durchschaue dich. Ich weiß sehr wohl, warum du nicht gegangen bist, um dir das Hängen anzusehen.« Auf intellektuelle Weise war Syme boshaft orthodox. Er konnte mit einer unangenehm hämischen Schadenfreude über Hubschrauberangriffe auf feindliche Dörfer, über Prozesse und Geständnisse von Gedankenverbrechern und deren Exekutionen in den Kellern des Ministeriums für Liebe sprechen. Wollte man sich vernünftig mit ihm unterhalten, musste man ihn erst einmal von solchen Themen abbringen und ihn, wenn möglich, in ein Gespräch über die technischen Einzelheiten von Neusprech verwickeln, über die er kompetent und interessant berichtete. Winston drehte seinen Kopf ein wenig zur Seite, um sich dem forschenden Blick der großen dunklen Augen zu entziehen.

»War ein ganz gutes Hängen«, sagte Syme in Erinnerung daran. »Ich finde ja, dass es die Sache verdirbt, wenn sie ihnen die Füße zusammenbinden. Ich sehe sie gerne zappeln. Und vor allem soll ihnen am Ende die Zunge raushängen, blau – so ganz leuchtend blau. Das ist der Punkt, der mir am besten gefällt.«

»Der Nächste, bitte!«, rief der weiß beschürzte Proll mit der Schöpfkelle.

Winston und Syme schoben ihre Tabletts über die Ausgabe. Auf jedes wurde schnell das Einheitsmittagessen geklatscht – eine Metallschüssel mit rosa-grauem Eintopf, ein Kanten Brot, ein Käsewürfel, ein Becher Victory-Kaffee ohne Milch und eine Süßstofftablette.

»Da drüben, unter dem Teleschirm, ist ein freier Tisch«, sagte Syme. »Lass uns unterwegs noch einen Gin holen.«

Der Gin wurde ihnen in henkellosen Porzellanbechern serviert. Sie schlängelten sich durch den überfüllten Raum und schoben ihre Tabletts auf den Metalltisch, auf dem an einer Ecke jemand eine Eintopflache hinterlassen hatte, ein ekliges, flüssiges Zeug, das wie Erbrochenes aussah. Winston nahm seinen Becher Gin, sammelte einen Moment seinen Mut zusammen und kippte dann den ölig schmeckenden Fusel runter. Als er die Tränen, die ihm in die Augen geschossen waren, weggezwinkert hatte, stellte er plötzlich fest, dass er hungrig war. Er begann, Löffel für Löffel des Eintopfs in sich reinzustopfen, in dessen gräulichem Matsch auch Würfel eines schwammigen, rosafarbenen Zeugs trieben, das vermutlich irgendein Fleischprodukt war. Bis sie ihre Schüsseln geleert hatten, sprach keiner von ihnen ein Wort. Am Tisch links hinter Winston redete jemand schnell und ununterbrochen, ein unangenehmes Geplapper, fast wie das Quaken einer Ente, das den allgemeinen Lärm des Raumes durchdrang.

»Wie geht es mit dem Wörterbuch voran?«, fragte Winston mit erhobener Stimme, um den Lärm zu übertönen.

»Langsam«, sagte Syme. »Ich bin bei den Adjektiven. Ist sehr faszinierend.«

Bei der Erwähnung von Neusprech war er sofort aufgelebt. Er schob seine Schüssel beiseite, nahm in eine seiner feingliedrigen Hände das Stück Brot und in die andere den Käse und beugte sich über den Tisch, um ohne schreien zu müssen sprechen zu können.

»Die elfte Auflage ist die endgültige Ausgabe«, sagte er. »Wir bringen die Sprache in ihre endgültige Form – die Form, die sie haben wird, wenn niemand mehr etwas anderes spricht. Wenn wir damit fertig sind, werden Leute wie du die Sprache noch einmal ganz neu lernen müssen. Du denkst bestimmt, dass unsere Hauptaufgabe darin besteht, neue Wörter zu erfinden. Weit gefehlt! Wir vernichten Wörter – massenhaft, zu Hunderten, jeden Tag. Wir reduzieren die Sprache bis auf ihr nacktes Gerüst. Die elfte Ausgabe wird kein einziges Wort enthalten, das vor dem Jahr 2050 veraltet sein wird.«

Er biss hungrig in sein Brot und schluckte ein paar Bissen hinunter, dann sprach er weiter, mit einer Art pedantischer Leidenschaft. Sein dünnes dunkles Gesicht hatte sich belebt, seine Augen hatten ihren spöttischen Ausdruck verloren und waren beinahe träumerisch geworden.

»Das ist etwas Herrliches, diese Vernichtung von Worten. Natürlich liegt der größte Teil der Streichungen bei den Verben und Adjektiven, aber es gibt Hunderte von Substantiven, die ebenso gut abgeschafft werden können. Nicht nur die Synonyme, auch die Antonyme. Welche Existenzberechtigung hat denn schließlich ein Wort, das nur das Gegenteil eines anderen Wortes ist? Ein Wort enthält in sich selbst sein Gegenteil. Nehmen wir zum Beispiel ›gut‹. Wenn wir ein Wort wie ›gut‹ haben, wozu brauchen wir dann ein Wort wie ›schlecht‹? ›Ungut‹ funktioniert genauso gut – besser sogar, weil es das genaue Gegenteil ist, was das andere Wort nicht ist. Und wenn man eine Steigerung von ›gut‹ will, welchen Sinn haben dann diese ganzen Reihen von vagen, nutzlosen Wörtern wie ›ausgezeichnet‹ und ›großartig‹ und all die anderen? ›Plusgut‹ deckt die Bedeutung vollkommen ab, oder ›doppelplusgut‹, wenn man eine noch größere Steigerung will. Natürlich verwenden wir diese Formen bereits, aber in der endgültigen Fassung des Neusprech wird es nichts anderes mehr geben. Am Ende wird die gesamte Begrifflichkeit von Gut und Böse durch nur sechs Wörter abgedeckt sein – eigentlich nur durch ein einziges. Siehst du die Schönheit, die darin liegt, Winston? Das war natürlich ursprünglich G.B.s Idee«, fügte er nachträglich hinzu.

Bei der Erwähnung des Großen Bruders huschte eine Art von oberflächlichem Enthusiasmus über Winstons Gesicht. Dennoch bemerkte Syme sofort einen gewissen Mangel an Begeisterung.

»Du weißt Neusprech nicht wirklich zu schätzen, Winston«, sagte er beinahe traurig. »Selbst wenn du in Neusprech schreibst, denkst du immer noch in der Altsprache. Ich habe einige der Artikel gelesen, die du gelegentlich in der Times schreibst. Sie sind ganz gut, aber es sind nur Übersetzungen. Dein Herz hängt noch immer an der Altsprache, mit all ihren Ungenauigkeiten und ihren nutzlosen Bedeutungsschattierungen. Du verstehst die Schönheit der Zerstörung von Worten einfach nicht. Wusstest du, dass Neusprech die einzige Sprache der Welt ist, deren Wortschatz von Jahr zu Jahr kleiner wird?«

Das war Winston natürlich bewusst. Er lächelte, wie er hoffte auf eine sympathische Weise, da er sich nicht traute, etwas zu sagen. Syme biss ein weiteres Stück des dunklen Brotes ab, kaute kurz darauf herum und fuhr fort:

»Begreifst du denn nicht, dass das Ziel von Neusprech darin besteht, den Gedankenspielraum einzugrenzen? Zum guten Schluss werden wir Gedankenverbrechen buchstäblich unmöglich machen, weil es keine Worte mehr geben wird, um sie auszudrücken. Jeder Begriff, der jemals benötigt werden könnte, wird durch genau ein Wort ausgedrückt werden, wobei seine Bedeutung starr definiert wird und all seine Nebenbedeutungen ausgemerzt und vergessen werden. Wir sind schon jetzt, bei der elften Ausgabe, nicht mehr weit von diesem Punkt entfernt. Aber der Prozess wird auch dann noch weitergehen, wenn du und ich längst tot sind. Mit jedem Jahr wird die Anzahl der Worte immer geringer und der Gedankenspielraum wird immer kleiner werden. Natürlich gibt es auch heute keinerlei Grund oder Entschuldigung für das Begehen von Gedankenverbrechen. Das ist lediglich eine Frage der Selbstdisziplin, der Realitätskontrolle. Aber am Ende wird nicht einmal mehr das nötig sein. Die Revolution wird komplett sein, wenn die Sprache perfekt ist. Neusprech ist Engsoz und Engsoz ist Neusprech«, fügte er mit einer Art geheimnisvoller Befriedigung hinzu. »Ist es dir jemals in den Sinn gekommen, Winston, dass spätestens im Jahr 2050 kein einziger Mensch mehr leben wird, der ein solches Gespräch, wie wir es gerade führen, verstehen könnte?«

»Außer –«, begann Winston zweifelnd und brach dann ab.

Beinahe hätte er gesagt: »Außer den Prolls«, aber er hielt sich zurück, da er nicht ganz sicher war, ob eine solche Bemerkung nicht in gewisser Weise unorthodox gewesen wäre. Syme hatte jedoch erraten, was er sagen wollte.

»Die Prolls sind keine Menschen«, sagte er leichtfertig. »Bis 2050 – wahrscheinlich früher – wird alles wirkliche Wissen über die Altsprache verschwunden sein. Die gesamte Literatur der Vergangenheit wird vernichtet worden sein. Chaucer, Shakespeare, Milton, Byron – es wird sie nur noch in Neusprech-Fassungen geben, die nicht einfach nur in etwas anderes umgewandelt worden sind, sondern tatsächlich in etwas, das dem widerspricht, was sie einmal waren. Selbst die Literatur der Partei wird sich verändern. Sogar die Parolen werden sich ändern. Wie könnte eine Parole wie ›Freiheit ist Sklaverei‹ bestehen bleiben, wenn der Begriff der Freiheit abgeschafft worden ist? Das ganze Klima des Denkens wird sich ändern. Tatsächlich wird es überhaupt kein Denken mehr geben, zumindest nicht so, wie wir es jetzt verstehen. Orthodoxie bedeutet, nicht zu denken – nicht denken zu müssen. Orthodoxie ist Unbewusstheit.«

Eines Tages, dachte Winston plötzlich aus tiefster Überzeugung, wird Syme vaporisiert werden. Er ist zu intelligent. Er sieht zu klar und spricht zu offen. Die Partei mag solche Leute nicht. Eines Tages wird er verschwinden. Es steht ihm ins Gesicht geschrieben.

Winston hatte sein Brot und seinen Käse aufgegessen. Er drehte sich auf seinem Stuhl ein wenig zur Seite, um seinen Becher Kaffee zu trinken. Am Tisch zu seiner Linken sprach der Mann mit der schrillen Stimme immer noch unerbittlich weiter. Eine junge Frau, vielleicht seine Sekretärin, die mit dem Rücken zu Winston saß, hörte ihm zu und schien allem, was er sagte, eifrig beizustimmen. Von Zeit zu Zeit hörte Winston eine Bemerkung wie »Ich glaube, Sie haben vollkommen recht, ich bin absolut Ihrer Meinung« in einer jugendlichen und dümmlichen weiblichen Stimme. Aber die andere Stimme hörte noch nicht einmal dann auf zu reden, wenn das Mädchen sprach. Winston kannte den Mann vom Sehen, obwohl er nicht mehr über ihn wusste, als dass er einen wichtigen Posten in der Romanabteilung innehatte. Er war ein Mann um die dreißig, hatte einen muskulösen Hals und einen großen, lebhaften Mund. Den Kopf hatte er ein wenig zurückgelehnt, wodurch er so saß, dass seine Brille das Licht einfing und Winston zwei blanke Scheiben anstelle von Augen sah. Er fand es erschreckend, dass man aus dem Redeschwall, der aus seinem Mund strömte, kaum ein einzelnes Wort verstehen konnte. Nur ein einziges Mal schnappte Winston einen Gesprächsfetzen auf – »vollständige und endgültige Auslöschung des Goldsteinismus« –, der rapide und, wie es schien, ohne jegliche Unterbrechung ausgestoßen wurde. Der komplette Rest war nur ein Geräusch, nur quak-quak-quak. Und obwohl man nicht wirklich verstehen konnte, was der Mann sagte, konnte man keinen Zweifel an der allgemeinen Natur des Gesagten hegen. Ob er nun Goldstein anprangerte und härtere Maßnahmen gegen Gedankenverbrecher und Saboteure forderte, gegen die Gräueltaten der eurasischen Armee wetterte, den Großen Bruder oder die Helden an der Malabar-Front lobte – es machte keinen Unterschied. Was auch immer er sagte, man konnte sicher sein, dass jedes Wort davon Orthodoxie und Engsoz in Reinkultur war. Als er das augenlose Gesicht mit dem schnell auf- und zuklappenden Unterkiefer beobachtete, hatte Winston das seltsame Gefühl, dass es sich nicht um einen echten Menschen, sondern um eine Art Puppe handelte. Hier sprach nicht das Gehirn des Mannes, sondern sein Kehlkopf. Das Zeug, das aus ihm herauskam, bestand zwar aus Worten, aber es war keine Sprache im eigentlichen Sinne: Es waren unbewusst hervorgestoßene Laute, wie das Quaken einer Ente.

Syme war für einen Moment verstummt und zeichnete mit dem Griff seines Löffels Muster in der Eintopfpfütze. Die Stimme am anderen Tisch quakte immer weiter, gut hörbar trotz des Lärms ringsum.

»Es gibt ein Wort in Neusprech«, sagte Syme, »ich weiß nicht, ob du es kennst: Quaksprech, quaken wie eine Ente. Das ist eines dieser interessanten Wörter, die zwei widersprüchliche Bedeutungen haben. Gebraucht man es einem Gegner gegenüber, ist es eine Beschimpfung, gebraucht man es aber bei jemanden, mit dem man übereinstimmt, ist es ein Lob.«

Zweifellos wird Syme vaporisiert werden, dachte Winston erneut. Er dachte es mit einem gewissen Bedauern, obwohl er genau wusste, dass Syme ihn nicht leiden konnte, sogar verachtete und durchaus dazu fähig war, ihn beim geringsten Anlass als Gedankenverbrecher zu denunzieren. Mit Syme stimmte etwas nicht. Es gab etwas, was ihm fehlte: Verschwiegenheit, Zurückhaltung, ein rettendes Quäntchen Dummheit. Man konnte von ihm nicht behaupten, dass er unorthodox war. Er glaubte an die Prinzipien des Engsoz, er verehrte den Großen Bruder, er jubelte über Siege, er hasste Abweichler, und das alles nicht nur aufrichtig, sondern mit einem Übereifer und einer Wohlinformiertheit, an die ein gewöhnliches Parteimitglied nicht ansatzweise herankam. Und dennoch haftete an ihm immer etwas Anrüchiges. Er sagte Dinge, die besser ungesagt geblieben wären, er hatte zu viele Bücher gelesen, er besuchte das Café Kastanienbaum, einen Treffpunkt für Maler und Musiker. Es gab kein Gesetz, nicht einmal ein ungeschriebenes, das den Besuch des Cafés Kastanienbaum verbot, und doch schien der Ort irgendwie unter einem schlechten Stern zu stehen. Die alten, diskreditierten Führer der Partei hatten sich dort immer getroffen, bevor sie endgültig aus dem Weg geräumt worden waren. Goldstein selbst, so hieß es, sei dort vor Jahren und Jahrzehnten manchmal gesehen worden. Symes Schicksal war unschwer vorherzusehen. Und doch bestand kein Zweifel an der Tatsache, dass Syme, wenn er auch nur für drei Sekunden die wahre Natur von Winstons geheimen Absichten erkannt hätte, ihn sofort an die Gedankenpolizei verraten würde. Das würde im Übrigen auch jeder andere tun; aber Syme mit größerer Bestimmtheit als die meisten anderen. Eifer allein genügte nicht. Rechtgläubigkeit bedeutete Unbewusstheit.

Syme blickte auf. »Da kommt Parsons«, sagte er.

Etwas im Ton seiner Stimme schien hinzuzufügen: »dieser Blödmann«. Parsons, Winstons Nachbar im Victory-Wohnblock, bahnte sich tatsächlich gerade einen Weg durch den Raum – ein kugelrunder, mittelgroßer Mann mit blondem Haar und einem froschartigen Gesicht. Mit seinen fünfunddreißig Jahren hatte er bereits am Nacken und an den Hüften Fettpolster angesetzt, seine Bewegungen waren jedoch schwungvoll und knabenhaft. Seine ganze Erscheinung war die eines kleinen, groß gewordenen Jungen, sodass es fast unmöglich war, ihn sich in etwas anderem vorzustellen als in den blauen Shorts, dem grauen Hemd und dem roten Halstuch der Spione, obwohl er den Einheitsoverall trug. Wenn man ihn sich vor Augen führte, sah man immer knubbelige Knie und pummelige Unterarme mit hochgekrempelten Hemdsärmeln vor sich. Parsons griff tatsächlich immer auf kurze Hosen zurück, wenn ihm eine Gemeinschaftswanderung oder eine andere körperliche Aktivität einen Vorwand dafür bot. Er begrüßte die beiden mit einem fröhlichen »Hallo, hallo!«, setzte sich an den Tisch und dünstete dabei einen intensiven Schweißgeruch aus. Schweißtropfen standen auf seinem gesamten rosafarbenen Gesicht. Seine Fähigkeit zu schwitzen war außergewöhnlich. Im Gemeinschaftszentrum konnte man an der Feuchtigkeit des Schlägergriffs immer erkennen, ob er Tischtennis gespielt hatte.

Syme hatte ein Blatt Papier mit einer langen Liste von Wörtern hervorgezogen, die er mit einem Tintenstift in der Hand betrachtete.

»Jetzt sieh sich mal einer an, wie der sogar in der Mittagspause arbeitet«, sagte Parsons und stupste Winston an. »Das nenne ich mal Eifer, ne? Was machen Se denn, alter Junge? Wahrscheinlich irgendwas, was zu hoch für mich is. Smith, alter Junge, ich sach Ihnen mal, warum ich hinter Ihnen her bin. Is wegen der Spende, die Sie mir noch schuldig sind.«

»Um welche Spende geht es?«, fragte Winston und tastete automatisch nach seinem Geld. Etwa ein Viertel des Gehalts musste man für freiwillige Zahlungen zur Verfügung stellen, und diese waren so zahlreich, dass es schwierig war, den Überblick zu behalten.

»Für die Hasswoche. Sie wissen schon – die Hauskollekte. Ich bin doch Schatzmeister für unseren Block. Wir geben uns richtich Mühe – und wir wollen echt was auf die Beine stellen. Ich sach Ihnen, is nich meine Schuld, wenn der alte Victory-Wohnblock nicht den besten Fahnenschmuck von der ganzen Straße hat. Zwei Dollar ham Sie mir versprochen.«

Winston fischte zwei zerknitterte und schmuddelige Scheine aus der Tasche und überreichte sie Parsons, der die Spende in der sorgfältigen Handschrift des Analphabeten in ein kleines Notizbuch eintrug.

»Übrigens, alter Junge«, sagte er. »Hab gehört, dass mein kleiner Bengel Ihnen gestern eins mit der Schleuder verpasst hat. Hab ihm dafür ordentlich eins hinter die Ohren gegeben. Hab ihm auch gesacht, dass er die Schleuder die längste Zeit gehabt hat, wenn er das noch mal macht.«

»Ich glaube, er war ein bisschen angesäuert, weil er nicht zur Hinrichtung durfte«, sagte Winston.

»Äh, na ja – was ich damit sagen will, der hat die richtige Einstellung, ne? Freche kleine Bengel sind das, alle zwei, aber an Eifer mangelt’s bei denen nu wirklich nich! Die ham nichts anderes im Kopf als die Spione – und den Krieg natürlich. Wissen Se, was meine Kleene letzten Samstag gemacht hat, als ihre Truppe auf ner Gemeinschaftswanderung nach Berkhamsted war? Hat sich zwei andere Mädels geschnappt, hat sich mit denen abgesetzt und hat den ganzen Nachmittag so nen merkwürdig aussehenden Mann verfolgt. Zwei Stunden lang ham die den verfolgt, mitten durch’n Wald, und als sie nach Amersham kamen, ham sie ihn der Polizeistreife übergeben.«

»Warum haben sie das gemacht?«, fragte Winston etwas verdutzt.

Parsons fuhr triumphierend fort: »Meine Kleene hat gemerkt, dass der so ne Art feindlicher Agent war – könnt ja zum Beispiel mit’m Fallschirm abgesetzt worden sein. Und jetzt kommt’s, alter Junge. Was glauben Se, was das Kind überhaupt auf den gebracht hat? Sie hat gemerkt, dass der komische Schuhe anhatte – sachte, sie hätte noch nie jemanden mit so welchen Schuhen gesehen. Also war’s ziemlich wahrscheinlich, dass das ein Ausländer war. Ganz schön schlau für’n siebenjähriges Gör, oder?«

»Was ist mit dem Mann passiert?«, fragte Winston.

»Äh, hab keine Ahnung. Aber es tät mich nich wundern, wenn ...« Parsons machte eine Bewegung, als lege er ein Gewehr an, und imitierte mit einem Zungenschnalzen den Schuss.

»Gut«, murmelte Syme geistesabwesend, ohne von seinem Blatt aufzublicken.

»Natürlich können wir es uns nicht leisten, solche Risiken einzugehen«, stimmte Winston pflichtbewusst zu.

»Meine Rede, es herrscht ja schließlich Krieg«, sagte Parsons.

Wie zur Bestätigung erscholl ein Trompetensignal aus dem Teleschirm direkt über ihren Köpfen. Diesmal handelte es sich jedoch nicht um die Verkündung eines militärischen Sieges, sondern lediglich um eine Mitteilung des Ministeriums für Fülle.

»Genossen!«, rief eine eifrige jugendliche Stimme. »Achtung, Genossen! Wir haben wunderbare Neuigkeiten für Sie. Wir haben die Produktionsschlacht gewonnen! Die nun abgeschlossenen amtlichen Berichte über die Produktion von Konsumgütern aller Klassen zeigen, dass der Lebensstandard im vergangenen Jahr um nicht weniger als 20 Prozent gestiegen ist. In ganz Ozeanien kam es heute Morgen zu spontanen Demonstrationen, als Arbeiter aus Fabriken und Büros marschierten und mit Transparenten durch die Straßen zogen, um dem Großen Bruder für unser neues, glückliches Leben zu danken, das seine weise Führung uns geschenkt hat. Es folgen einige der endgültigen Zahlen. Lebensmittel –«

Der Satz »unser neues, glückliches Leben« wurde mehrmals wiederholt. Dieser Ausdruck war in letzter Zeit ein Lieblingsausdruck beim Ministerium für Fülle. Parsons, dessen Aufmerksamkeit durch das Trompetensignal geweckt worden war, saß da und hörte ernst glotzend, mit einer Art erbauter Langeweile zu. Er konnte den Zahlen nicht folgen, war sich aber bewusst, dass sie auf irgendeine Weise einen Anlass zur Zufriedenheit boten. Er hatte eine große, schmierige Pfeife hervorgeholt, die bereits halb voll mit verkohltem Tabak war. Bei einer wöchentlichen Tabakration von 100 Gramm konnte man seine Pfeife selten komplett füllen. Winston rauchte eine Victory-Zigarette, die er sorgfältig waagerecht hielt. Die neue Ration war erst morgen fällig, und er hatte nur noch vier Zigaretten. Im Moment hatte er seine Ohren vor den Hintergrundgeräuschen verschlossen und hörte sich das Zeug an, das aus dem Teleschirm tönte. Es hatten offensichtlich sogar Demonstrationen stattgefunden, um dem Großen Bruder für die Erhöhung der Schokoladenration auf zwanzig Gramm pro Woche zu danken. Dabei war doch erst gestern, überlegte er, angekündigt worden, die Ration auf zwanzig Gramm pro Woche zu reduzieren. War es möglich, dass die Leute das nach nur vierundzwanzig Stunden schlucken könnten? Ja, sie schluckten es. Parsons schluckte es problemlos, mit der Dummheit eines Tieres. Die augenlose Kreatur am Nebentisch schluckte es fanatisch, leidenschaftlich, mit dem rasenden Verlangen, jeden aufzuspüren, zu denunzieren und zu vaporisieren, der andeuten sollte, dass die Ration letzte Woche bei dreißig Gramm gelegen habe. Auch Syme schluckte es – allerdings auf eine komplexere Art und Weise, die Zwiedenk erforderte. War er damit also der EINZIGE, der ein Gedächtnis hatte?

Aus dem Teleschirm strömten weiter die sagenhaften Statistiken. Im Vergleich zum vergangenen Jahr gab es mehr Lebensmittel, mehr Kleidung, mehr Häuser, mehr Möbel, mehr Kochtöpfe, mehr Benzin, mehr Schiffe, mehr Hubschrauber, mehr Bücher, mehr Babys – mehr von allem außer von Krankheit, Verbrechen und Wahnsinn. Jahr für Jahr und Minute für Minute erlebte alles und jeder einen rasanten Anstieg. Wie zuvor Syme hatte Winston seinen Löffel in die Hand genommen, malte damit in der bleichen Soße, die über den Tisch tropfte, und zog eine lange Schliere zu einem Muster aus. Er grübelte verstimmt über die physische Beschaffenheit des Lebens. War es schon immer so gewesen? Hatte das Essen schon immer so geschmeckt? Er sah sich in der Kantine um. Ein überfüllter Raum mit niedrigen Decken, dessen Wände durch den Kontakt unzähliger Körper schmutzig geworden waren; ramponierte Metalltische und -stühle, die so dicht beieinanderstanden, dass man sich beim Sitzen mit den Ellenbogen berührte; verbogene Löffel, verbeulte Tabletts, schäbige weiße Becher; alle Oberflächen schmierig, Dreck in jeder Ritze; und ein säuerlicher Geruch, zusammengesetzt aus schlechtem Gin, schlechtem Kaffee, metallischem Eintopf und schmutzigen Kleidern. Ständig rebellierten der Bauch und die Haut in einer Art Protest, einem Gefühl, dass man um etwas betrogen wurde, auf das man ein Anrecht hatte. Er hatte jedoch keine Erinnerungen daran, dass es jemals wirklich anders gewesen wäre. Soweit er sich zurückerinnern konnte, hatte es nie genug zu essen gegeben, hatte man nie Socken oder Unterwäsche gehabt, die nicht voller Löcher waren, die Möbel waren immer ramponiert und klapprig, die Zimmer ungenügend geheizt, U-Bahnen überfüllt, die Häuser verfallen, das Brot dunkel, Tee eine Seltenheit, Kaffee widerlich schmeckend, Zigaretten knapp gewesen – nichts war billig und ausreichend vorhanden außer dem synthetischen Gin. Und obwohl es natürlich mit zunehmendem Alter immer schlimmer für einen wurde, war dies nicht doch ein Zeichen dafür, dass dies NICHT die natürliche Ordnung der Dinge war, wenn einem das Herz schwer wurde bei all der Unbehaglichkeit, dem Dreck und dem Mangel, den endlosen Wintern, der Klebrigkeit der eigenen Socken, den Aufzügen, die nie funktionierten, dem kalten Wasser, der grobkörnigen Seife, den zerbröselnden Zigaretten, dem Essen mit seinem merkwürdig üblen Geschmack? Warum sollte man das alles als unerträglich empfinden, wenn man nicht eine Art Urerinnerung daran hatte, dass die Dinge einmal anders gewesen waren?

Er sah sich erneut in der Kantine um. Fast jeder hier war hässlich und wäre auch dann noch hässlich gewesen, wenn er etwas anderes als den blauen Einheitsoverall getragen hätte. Am anderen Ende des Raumes saß ein kleiner, seltsam käferartiger Mann allein an einem Tisch und trank eine Tasse Kaffee, wobei seine kleinen Augen argwöhnische Blicke von einer Seite zur anderen warfen. Wenn man sich nicht umsah, dachte Winston, war es leicht zu glauben, dass der von der Partei als Ideal aufgestellte Körpertyp – große muskulöse Jungen und vollbusige Mädchen, blond, vital, sonnenverbrannt, sorglos – wirklich existierte und sogar vorherrschte. Soweit er es beurteilen konnte, war die Mehrheit der Leute von Stützpunkt Eins klein, dunkelhaarig und hässlich. Es war merkwürdig, wie sich dieser käferähnliche Typ in den Ministerien vermehrte: kleine plumpe Männer, die bereits früh im Leben dick wurden, mit kurzen Beinen, schnellen, huschenden Bewegungen und schwabbeligen, undurchdringlichen Gesichtern mit sehr kleinen Augen. Genau dieser Typ schien unter der Herrschaft der Partei am besten zu gedeihen.

Die Durchsage des Ministeriums für Fülle endete mit einem weiteren Trompetensignal und wich einer blechernen Musik. Parsons, bei dem das Zahlenbombardement vage Begeisterung entfacht hatte, nahm seine Pfeife aus dem Mund.

»Das Ministerium für Fülle hat dieses Jahr echt gute Arbeit geleistet«, sagte er mit einem wissenden Kopfnicken. »Übrigens, Smith, alter Junge, Sie ham nicht zufällig ein paar Rasierklingen, die Sie mir überlassen könnten?«

»Nicht eine«, sagte Winston. »Ich benutze selbst seit sechs Wochen dieselbe Klinge.«

»Ah, na ja – ich dachte nur, ich könnt Sie ja mal fragen, alter Junge.«

»Tut mir leid«, sagte Winston.

Die quakende Stimme vom Nebentisch, die während der Ankündigung des Ministeriums vorübergehend verstummt war, erhob sich nun wieder so laut wie zuvor. Aus irgendeinem Grund dachte Winston plötzlich an Mrs. Parsons mit ihren strähnigen Haaren und dem Staub in den Falten ihres Gesichts. Innerhalb von zwei Jahren würden ihre Kinder sie bei der Gedankenpolizei denunzieren. Mrs. Parsons würde vaporisiert werden. Syme würde vaporisiert werden. Winston würde vaporisiert werden. O’Brien würde vaporisiert werden. Parsons hingegen würden niemals vaporisiert werden. Die augenlose Kreatur mit der quakenden Stimme würde niemals vaporisiert werden. Die kleinen käferähnlichen Männer, die so flink durch die labyrinthischen Korridore der Ministerien huschten, auch sie würden nie vaporisiert werden. Und das Mädchen mit den schwarzen Haaren, das Mädchen aus der Romanabteilung – sie würde ebenfalls nie vaporisiert werden. Es schien ihm, als wisse er instinktiv, wer überleben und wer umkommen würde; obwohl er nicht ohne Weiteres sagen konnte, was denn nun genau das Überleben sicherte.

In diesem Moment wurde er mit einem heftigen Ruck aus seinen Träumereien gerissen. Das Mädchen am Nebentisch hatte sich etwas umgedreht und sah ihn an. Es war das Mädchen mit den schwarzen Haaren. Sie sah ihn mit einem verstohlenen Seitenblick, aber mit seltsamer Intensität an. In dem Moment, als sich ihre Blicke trafen, sah sie wieder weg.

Winston brach der Schweiß aus allen Poren. Ein furchtbarer Schreck durchzuckte ihn. Er war fast sofort wieder verschwunden, hinterließ aber eine Art nagendes Unbehagen. Warum beobachtete sie ihn? Warum verfolgte sie ihn ständig? Leider konnte er sich nicht erinnern, ob sie bereits an diesem Tisch gesessen hatte, als er gekommen war, oder ob sie erst nach ihm gekommen war. Jedenfalls hatte sie sich gestern, während des Zwei-Minuten-Hasses, direkt hinter ihn gesetzt, wozu keine offensichtliche Notwendigkeit bestanden hatte. Sehr wahrscheinlich hatte ihre Absicht darin gelegen, ihm ganz genau zuzuhören und sich davon zu überzeugen, ob er laut genug mitbrüllte.

Sein früherer Verdacht fiel ihm wieder ein: Wahrscheinlich war sie nicht wirklich ein Mitglied der Gedankenpolizei, andererseits stellten gerade die Amateurspitzel die größte Gefahr von allen dar. Er wusste nicht, wie lange sie ihn bereits beobachtet hatte, aber vielleicht schon fünf Minuten, und es konnte sein, dass er seine Gesichtsmimik nicht perfekt unter Kontrolle gehabt hatte. Es war fürchterlich gefährlich, seine Gedanken schweifen zu lassen, solange man sich an einem öffentlichen Ort oder in Reichweite eines Teleschirms befand. Die geringste Kleinigkeit konnte einen verraten. Ein nervöses Zucken, ein unbewusster ängstlicher Ausdruck, die Angewohnheit, vor sich hin zu murmeln – alles, was auch nur den Verdacht einer Abweichung weckte oder darauf hindeutete, dass man etwas zu verbergen hatte. Es war an sich schon ein strafbares Vergehen, einen unangemessenen Gesichtsausdruck zu tragen (zum Beispiel ungläubig auszusehen, wenn ein Sieg verkündet wurde). In Neusprech gab es sogar ein Wort dafür: Sichtbrech, Gesichtsverbrechen also, so hieß es.

Das Mädchen hatte sich wieder von ihm abgewandt. Vielleicht verfolgte sie ihn doch nicht, vielleicht war es reiner Zufall, dass sie zwei Tage hintereinander so nahe bei ihm gesessen hatte. Seine Zigarette war ausgegangen, und er legte sie vorsichtig auf die Tischkante. Er würde sie nach der Arbeit zu Ende rauchen, wenn inzwischen nicht der Tabak herausgefallen war. Mit großer Wahrscheinlichkeit war die Person am Nebentisch eine Spionin der Gedankenpolizei, und höchstwahrscheinlich würde er innerhalb von drei Tagen in den Kellern des Ministeriums für Liebe stecken, aber einen Zigarettenstummel durfte man nicht verschwenden. Syme hatte seinen Papierstreifen zusammengefaltet und in seiner Tasche verstaut. Parsons hatte wieder angefangen zu reden.

»Hab ich Ihnen jemals erzählt, alter Junge«, sagte er kichernd, das Pfeifenmundstück zwischen den Zähnen, »wie meine zwei Racker den Rock von ner alten Marktfrau angezündet ham, weil sie gesehen hatten, wie die Alte Würstchen in ein Plakat vom Großen Bruder wickelte? Ham sich von hinten an sie rangeschlichen und sie mit nen paar Streichhölzern angefackelt. Ich glaub, die hat sich ziemlich bös verbrannt. Kleine Bengel, ne? Aber sie sind nu mal Feuer und Flamme! Is’n erstklassiges Training, das die heutzutage bei den Spionen kriegen – sogar besser als zu meiner Zeit. Was glauben Se wohl, womit die die Racker neuerdings ausrüsten? Hörrohre zum Lauschen an Schlüssellöchern! Meine Kleene brachte neulich eins mit heim – hat’s an unserer Wohnzimmertür ausprobiert und meinte, sie könnte doppelt so viel hören, wie wenn sie das Ohr ans Loch hält. Is natürlich bloß ein Spielzeug. Bringt sie aber trotzdem auf die richtige Spur, ne?«

In diesem Moment ertönte aus dem Teleschirm ein durchdringendes Pfeifen. Es war das Signal, wieder an die Arbeit zu gehen. Alle drei Männer sprangen auf, um sich in das Gewühl bei den Aufzügen zu stürzen, und der verbleibende Tabak krümelte aus Winstons Zigarette heraus.

George Orwell: 1984

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