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1. Kapitel
Оглавление25. Juni 2007
Gaston Lloyd fuhr hinter die weiße Ferienanlage, die unmittelbar vor dem Becken des Hafens von Karlshagen auf Usedom lag. Er stieg aus dem silbergrauen BMW, einem Mietwagen von Europcar mit einer Wiesbadener Registriernummer aus, und schlenderte seelenruhig zum Eingang.
Die Haustür war geschlossen.
Lloyd zog einen Schlüsselbund aus der Tasche, öffnete die Türe mit dem durch einen roten Kunststoffring gekennzeichneten Schlüssel. Es begegnete ihm niemand auf der Treppe. Das herrliche Sonnenwetter hatte die Gäste in ihrer Mehrzahl an den Strand gezogen, oder zu Wanderungen ins Usedomer Hinterland verführt. Aus der Wohnung neben seinen Räumen hörte er leise Musik.
Als er die Tür der Ferienwohnung geschlossen hatte, schaute er sich in aller Ruhe um. Die Wohnung bestand aus einer kleinen Pantry, dem Wohnraum mit dem faszinierenden Ausblick auf den Hafen sowie einem Schlafzimmer. Er schaute in die Schränke des Schlafzimmers, des Wohnraumes und des Flurs. Zu seiner Zufriedenheit waren sie leer. Nur in der Pantry fand er komplett vor, was ein vierköpfiger Haushalt brauchte. Außer dem modernen Herd verfügte sie über einen Geschirrspüler, ferner eine Kaffeemaschine. In den Hängeschränken fand er die notwendigen Töpfe nebst Pfannen. Von der Wand ließ sich ein kleiner Tisch abklappen, der zwei Menschen ausreichenden Platz zum Essen bot.
Gaston Lloyd ging zum Fahrzeug zurück. Er entnahm dem Kofferraum des Wagens eine Reisetasche, eine längliche Lederhülle im Durchmesser von etwa sechzig Zentimetern und einer Länge von einem Meter. Sein Blick überflog den Rest der mitgebrachten Habseligkeiten. Er beschloss, sie vorerst zurückzulassen.
Er ging zur Ferienanlage zurück, blieb einen Augenblick stehen, als wolle er die Tasche in die andere Hand nehmen. Seine Blicke suchten den Hafen ab.
Vor ihm an der Pier, offensichtlich kurz vor dem Ablegen, zog eine Frau die Leine vom Poller auf das Vorschiff. Die Maschine arbeitete bereits, was er an dem leisen Motorengeräusch und dem Wasserausstoß bestätigt sah, der in unregelmäßiger Folge eine runde Aussparung an Backbord verließ. Plätschernd ergoss sich das Kühlwasser in den Hafen. Eilig ging die Frau zum Achterdeck, um dort ebenfalls die Vertäuung einzuholen, die das Schiff an Land festhielt. Auf dem erhöhten Steuerstand überwachte ein braun gebrannter Mittvierziger das Manöver. Als er sah, dass das Boot frei schwamm, ließ er es langsam anziehen. Dabei justierte er die ersten Meter mit dem Bugstrahlruder, um nicht die geringste Möglichkeit einer Kollision mit einem der anderen Boote zu gestatten. Majestätisch bot sich der Anblick der weißen Jacht, wie sie auf die Mitte des Hafenbeckens, dann in Richtung Norden Fahrt aufnahm.
Ein Stück begleiteten Lloyds Blicke die Stella Maris aus Hamburg. Abrupt wurde seine Aufmerksamkeit von einem Auto beansprucht, das kurz vor ihm zum Halten gezwungen war. Er machte eine entschuldigende Geste zu dem maulenden Fahrer, gab den Weg frei. Der Wagen rollte an ihm vorbei. Lloyd schaute zurück, zu dem zu dieser Stunde mäßig besuchten Lokal Veermaster. Dort werde ich essen gehen, bevor der Mittagsansturm einsetzt, dachte er.
Im Treppenhaus piepte das Handy. Er stellte das Gepäck kurz ab. Skagerrak Mélisande 25/14/15 Salamander.
Er schob das Handy in seine Tasche. Dann setzte den Weg zur Wohnung fort.
In der Wohnung angekommen, warf er die Tasche auf das Doppelbett im Schlafzimmer. Er packte ein Gestänge aus, steckte es im Wohnzimmer zusammen, sodass es dem Ständer einer Kameraausrüstung glich. Lloyd ging zum Schlafzimmer zurück. Er entnahm der Tasche ein kleines Bündel. Seitlich des Wohnzimmerfensters wickelte er ein Richtmikrofon aus, steckte es auf den Gestängeständer. Er ließ einen Sicherungsbügel über dem Mikrofon einrasten, das ein hochauflösendes Einrohrfernglas tragen würde, sofern er es aufsteckte. Er schaute auf seine Seiko-Astron-GPS-Weltzeituhr, einen 2.400 Euro teuren Solar-Herrenchronografen, den er sich von einem Teil der Entlohnung des letzten Auftrages gekauft hatte. Lloyd glaubte, sich das gönnen zu müssen. Wer weltweit operiert, sollte auch stets auf die weltweite Zeit zurückgreifen können. Schließlich pendelte er ständig zwischen seinem Geburtsort Wellington sowie London, seinem derzeitigen Hauptwohnsitz, hin und her. Da war eine solche Uhr von Nutzen. Eine halbe Stunde würde es ein warmes Essen geben.
Gaston Lloyd freute sich auf eine Mahlzeit mit einem schönen Stück Fisch. Zum Schluss prüfte er, ob der Akku des Aufzeichnungsgerätes für Tonaufnahmen über eine ausreichende Ladung verfügte. Das war der Fall.
Probehalber steckte er das Einrohrfernglas auf; er ließ seinen Blick durch das Glas über den Hafen gleiten, suchte durch Verstellung des Okulars die jeweils beste Auflösung zur erreichen. Wie genau es war, konnte er ermessen, wenn es ihm gelang, den Kassenbon, den die Verkäuferin in der Fischverkaufsstelle, die ein ortsansässiger Fischer mit seiner Familie betrieb, und die linksseitig zum Hafenbecken lag, mühelos zu entziffern. Ein Lächeln huschte ihm übers Gesicht. Ihm entging nichts. Nicht einmal die Fliegen, die sich auf die Fischreste stürzten, die einem Kind aus dem Brötchen gefallen waren. Bei der Wärme gäbe es bald ein Gewimmel von Maden.
Gerade als er das Stativ durch ein Tuch abdecken wollte, fiel ihm ein, das nur wenige Meter neben seinem Domizil befindliche Restaurant in Augenschein zu nehmen. Er sah ein jüngeres Pärchen den Veermaster verlassen. Es lief auf eines der nahe liegenden Segelboote am Pier zu. Zurück blieb die Bedienung des Restaurants. Der Anblick der Brünetten regte seinen Jagdinstinkt an. Es dauert nicht mehr lang, da setzt der Mittagsansturm ein, dachte Lloyd. Es ist besser, ich gehe gleich.
Gewissenhaft schloss er die Türe des Appartements ab, lauschte, ob er noch Musik der Nachbarwohnung hören könnte. Das war nicht der Fall. Beherzt setzte er den Weg fort. Kurze Zeit später stand er vor dem Veermaster. Auf einer der Segeljachten tingelte die Musik einer vergangenen Hitparade und hallte zu ihm herüber. Nicht übermäßig laut, dennoch konnte er ABBAs Hit Dancing Queen erkennen. Schon lange hatte er die Gruppe nicht mehr gehört. Leise summte er die Melodie mit. Eine Familie mit zwei Kindern kam auf ihn zu. Er wandte sich ab. Als sie an ihm vorbei waren, zog er eine Sonnenbrille mit sehr dunklen Gläsern aus der Brusttasche des Hemdes und setzte sie auf. Er ging die sechs Stufen hoch.
Durch vier polygonale Kantsäulen wurde der Anbau an das Haupthaus, einem zweistöckigen rotgrau melierten Ziegelanbau, getragen. Im Parterre lag das Außenrestaurant, das wegen der unmittelbar davor am Pier liegenden Boote ein überaus begehrter Sommerplatz war. In diesem Moment wurde gerade wieder einer der Tische besetzt. Er beschloss, ins Innere des Restaurants abzutauchen. Beherzt betrat er die Speisewirtschaft. Sein Kalkül, dass er in dem dunklen Raum um diese Zeit auf wenige Gäste treffen würde, ging auf.
Das gleißende Sonnenlicht, dem er entkommen war, machte ihn für einen Augenblick fast blind. Einen Augenblick drängte es ihn, seine Brille abzusetzen. Er entschloss sich, das zu unterlassen.
»Suchen Sie etwas?« Es musste die Stimme der jungen Frau mit dem brünetten Haar sein, die er zuvor durch das Glas so bewundert hatte. Er empfand ihre Stimme als äußerst sympathisch.
»Einen Tisch.«
»Es ist nahezu alles frei. Sehen Sie das nicht?«
»Nein.«
»Wie wär es, Sie setzten die Brille ab«, sagte die Frau lachend.
»Das würde ich gern, aber …« Er hörte ihre Schritte, die auf ihn zukamen. Dann sah sie schemenhaft. »Ich hatte eine Augenoperation. Die Brille ist derzeit noch notwendig.«
Von einem der Nebentische kamen leise Stimmen. Eine junge Frau lachte auf.
»Kommen Sie.« Beherzt fasste sie seine Hand, und führt ihn zu einem großen runden Tisch.
»Ist Ihnen der Platz hier recht?«,, fragte sie.
»Wenn Sie in meiner Nähe sind.« Umständlich nahm er Platz. Langsam gewöhnten sich die Augen an die Dunkelheit. Er konnte das Gesicht der jungen Frau deutlich erkennen. Er fand, dass sie ihn hinreißend anlächelte. Was für ein Jammer, dachte er, dass sie eine Art Fata Morgana bleiben wird.
»Können Sie mir etwas zu essen empfehlen«, fragte Lloyd.
»Hirschsteak an sautierten Kräuterseitlingen und Rosmarinkartoffeln. Medaillons vom Schwein mit Kürbis-Chili-Kruste, mit Möhrenstiften in Butter-Macaire …«
»Nein«, beschied er knapp.
»Wie ist es mit Rinderhüftsteak mit Kürbis-Kruste und Kräuterseitlingen an getrüffeltem Kartoffelstampf?«
»Fisch. Ich bin am Meer, da möchte ich Fisch essen.«
Von der Tür kam eine rufende Stimme.
»Ich muss erst einmal draußen nach dem Rechten sehen«, sagte sie. »Hausgebeizter Lachs mit einer Senf-Dill-Soße, frischem Gemüse und Kartoffelrösti.« Sie stand auf.
»Das klingt schon besser.«
»Ich bin gleich zurück.«
Während die junge Frau dem Außenbereich zustrebte, schob er die Brille ein wenig hoch. Er musterte die Umgebung. Zufrieden ließ er sie erst auf die Nase zurückgleiten, als er sie kommen hörte. Durch ein Fenster zur Küche gab sie eine Bestellung auf. Sie kam zum Tisch zurück.
»Keinen Lachs?«
»Haben Sie nichts Besseres, etwas Typisches für den Veermaster?«
Sie war versucht, ihn nach seinem Dialekt zu fragen. Dazu fehlte ihr der Mut.
»Natürlich. Gebratene Ostseescholle Finkenwerder Art mit Gurken-Dill-Schmand an Bratkartoffeln.« Sie spürte seine Unschlüssigkeit. Darum ergänzte sie. »Ostsee-Zanderfilet mit Bordelaiser Kruste, Rieslingsoße und Stampfkartoffeln, oder …«
»Oder?«
»Ostsee-Dorsch im Speckmantel mit geschmorten Römersalatherzen an Rahmlinsen.«
»Das nehme ich. Sagen Sie bitte dem Koch, er möchte eine besonders große Fischportion reichen. Ich zahle das.«
Sie stand auf. Doch bevor sie sich abwenden konnte, fragte er: »Wie heißen sie eigentlich?«
»Conny.«
»Conny?«
»Das kommt von Cornelia.«
»Von Cornelia«, stellte er lapidar fest. »Man könnte ebenso gut Nele sagen, oder?«
Sie nickte. »Darf ich Sie etwas fragen?«
»Nur zu!«
Das Klingelzeichen aus der Küche zeigte, dass die Bestellung für den Außenbereich des Lokals fertig war.
»Dorsch im Speckmantel. Ist das in Ordnung?«
»Okay.«
Die Serviererin entfernte sich.
Sie wird neugierig, dachte er. Gut, soll sie nur.
Als sie zurück an den großen, runden Tisch kam, an dem er saß, sagte sie leise: »Sie haben mich nach meinem Namen gefragt, ich habe ihnen den gesagt.«
Lloyd lächelte. »Gaston, nach meinem französischen Großvater … mütterlicherseits«, sagte er. »Mein Vater wiederum stammt aus Südafrika und hieß Lloyd. Also heiße ich Gaston Lloyd. Zufrieden?«
»Interessant, aber ihr Dialekt.«
»Südafrika«, log er.
»Wow«, entfuhr es der Frau anerkennend. »Sie sind ein faszinierender Mann. Und was arbeitet so ein abwechslungsreich lebender Mann?«
»Ich bin Journalist … Freelancer. Im Augenblick arbeite ich an einer Reportage über Bootsflüchtlinge, die in Italien ankommen.«
»Lampedusa?«
»Die Zahl der afrikanischen Flüchtlinge, die per Boot auf der Insel anlanden, steigt und steigt«, sagte Lloyd bedeutungsvoll. Seine Worte unterstreichend hob er die Augenbrauen. »Allerdings erfüllt sich für die meisten Menschen die große Hoffnung auf ein besseres Leben nicht. Ich schreibe jetzt ein Buch darüber.«
Als der Ton der Küchenglocke anzeigte, dass wieder ein Essen bereitstünde, sagte die Serviererin: »Es sind Ihre Linsen.«
Wenig später war die junge Frau mit anderen Gästen beschäftigt, die nach und nach, zuerst die Plätze draußen mit dem unmittelbaren Hafenblick einnahmen, dann auch ins Lokal kamen.
Lloyd hasste Menschen. Er fühlte sich als Menschenfeind par excellence. Hin und wieder ließ er eine Frau für einige Tage näher an sich heran. Aber es würde ihm nicht einfallen, es mit einer länger auszuhalten als zwei, drei Tage über ein Wochenende. Wenn es hochkam, waren es zwei Wochen am Stück. Doch das hatte bisher nur eine der Frauen geschafft. Als er fertig gegessen hatte, zahlte er.
»Werden Sie wiederkommen?«, fragte sie.
»Vielleicht, wenn sie so schön lächeln wie im Augenblick, Nele … bestimmt sogar.«
Er ging hinaus. An den Liegeplätzen der Steganlagen des größten Hafens im deutschen Teil der Insel lag abends Boot an Boot. Einige Boote waren schon unterwegs, um das Sonnenwetter auf See zu genießen. Zwei der Schiffe machten ihre Eigner gerade fertig, um auszulaufen. Er lief auf der linksseitigen Seite des Hafens entlang. Im Fischladen, bei dem er zuvor mit dem Fernglas den Rechnungsbon gelesen hatte, bewunderte er das Angebot. Tatsächlich aber war er dabei, sämtliche Liegemöglichkeiten für Schiffe in sich aufzunehmen. Jene, die er erwartete, fanden nur an dieser Längsseite des Hafens Platz. Beruhigt ging er nach dieser Feststellung zu der angemieteten Wohnung zurück.