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Der Spürsinn des kleinen Doktors I Die Konsultation ohne Patient

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»Hallo! Ist der Doktor selber am Apparat? … Hallo! Trennen Sie nicht …«

Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang verängstigt. Der kleine Doktor dagegen, wie alle ihn nannten, kam gerade von der Visite zurück und schnupperte den köstlichen Duft eines Hammelragouts, das in der Küche brutzelte. Draußen war es brütend heiß. Drinnen hatte man die Jalousien heruntergelassen, und die Kühle war erquickend wie ein Bad.

»Hören Sie, Doktor … Ich rufe aus der Maison-Basse an. Sie müssen sofort kommen.«

»Die junge Frau?«, fragte der kleine Doktor.

»Kommen Sie schnell. Ich kann mich doch auf Sie verlassen, nicht wahr? Sie müssen sofort kommen.«

»Muss ich …«

Er wollte fragen, ob er seine Tasche oder spezielle Medikamente mitbringen solle, aber man hatte schon eingehängt. In diesem Augenblick fiel sein Blick auf die Uhr im Esszimmer; es war nur ein vager Blick, wie bei den meisten Menschen, wenn sie gerade telefonieren.

Nun ja … Er steckte sich eine Zigarette an und sagte durch die halb offen stehende Küchentür, er werde erst in einer guten halben Stunde zurück sein. Sein Zweisitzer stand draußen in der prallen Sonne, und die Polster glühten.

Als er dann aus dem Dorf heraus und auf der schattenlosen Straße, zu deren beiden Seiten sich Gräben entlangzogen, Richtung Moor fuhr, runzelte der kleine Doktor die Stirn und wäre fast, so sehr war er in Gedanken versunken, mit einem Heuwagen zusammengestoßen.

Er ahnte nicht, dass er einen besonders bedeutsamen Augenblick erlebte, noch dass das, was ihm durch den Kopf ging, ernste Folgen haben würde, und erst recht nicht, dass diese Ereignisse eine neue Leidenschaft in ihm wecken würden und er eines Tages auf einem ganz anderen Gebiet als dem der Medizin berühmt werden sollte.

»Das ist unmöglich … Die Uhr war nicht stehengeblieben.«

Er sah das graugrüne Zifferblatt im Esszimmer vor sich, die weit auseinanderstehenden Zeiger, es war fünf Minuten vor halb eins. Auf seiner Armbanduhr war es halb eins.

Aber die Maison-Basse, hinten im Moor, unweit der Küste, war mit dem Telefonnetz von Esnandes verbunden, dem Dorf, das der Arzt bald erreichen würde, und das Postamt in Esnandes war, worüber in der Gegend reichlich geklagt wurde, von zwölf bis zwei Uhr geschlossen.

Fast wäre er wieder umgekehrt, dieser Anruf war sicherlich ein übler Scherz. Aber die Straße war nicht mehr breit genug zum Wenden, und so zuckte er mit den Schultern, fuhr durch Esnandes und bog dann links in einen holprigen Weg ein.

Wie war noch gleich der Name des Mannes gewesen? Drouin. Jean oder Jules Drouin. Es musste jetzt etwas über sechs Monate her sein, dass er die Maison-Basse gemietet hatte. Ein Haus, das seit Jahren leer stand, weil es zu weit weg vom Dorf war, mitten im Moor, und das man im Winter nur über Stege verlassen konnte. Ein langes, niedriges, einstöckiges weiß gekalktes Haus mit einem roten Ziegeldach wie alle Dächer im Département Charente.

Am Ende des Winters hatten die Fensterläden offen gestanden. Dann war man einem Paar begegnet, das in dieser Gegend sofort auffallen musste: ein großer, schlaksiger junger Mann, den man immer in grauer Flanellhose, Sandalen und einem gelben Pullover mit kurzen Ärmeln sah, und eine junge, sehr hübsche Frau, die im Garten Sonnenbäder nahm.

»Künstler!«, sagten die Leute.

Die beiden arbeiteten nicht. Sie hatten kein Dienstmädchen. Der Mann machte die Besorgungen beim Dorfkrämer. Nie trug er einen Hut auf dem kastanienfarbenen Haar, dafür hatte er einen kurzen, struppigen Bart.

Eines Abends, es war schon drei oder vier Monate her, hatte der Doktor ihn zu seinem Erstaunen in seinem Wartezimmer sitzen sehen. Der Unbekannte hatte sich vorgestellt.

»Drouin … Ich bin der neue Mieter der Maison-Basse. Ach, ich bin kein sehr interessanter Patient, und meine Freundin ist es noch viel weniger. Ich leide nur an Schlaflosigkeit. Ich möchte, dass Sie mir ein wirksames, aber möglichst harmloses Mittel geben.«

Der Arzt hatte ihm Tabletten verschreiben wollen.

»Ich hätte lieber etwas, das man in Wasser auflöst. Ich habe einen ziemlich empfindlichen Hals, und das Schlucken von Tabletten fällt mir schwer.«

Er war sympathisch, dem Doktor zumindest. Hatte etwas Anziehendes. Vor allem war da sein Lächeln, ein mattes, trauriges Lächeln wie das mancher Tuberkulosekranker, die wissen, dass sie nicht zu retten sind.

»Ich danke Ihnen, Doktor. Was bin ich Ihnen schuldig?«

»Das regeln wir bei einer anderen Gelegenheit.«

»Ich fürchte, es wird nicht viele Gelegenheiten geben.«

Der Arzt war dreißig Jahre alt. Er praktizierte erst seit zwei Jahren in der Gegend, und weil er so klein, freundlich und ein bisschen naiv war, vielleicht aber auch seines winzigen Autos wegen, das den ganzen Tag durch die Straßen ratterte, nannte man ihn liebevoll den kleinen Doktor.

Wie oft hatte er die Frau gesehen? Ein paarmal vielleicht, als er an der Maison-Basse auf dem Weg zum Hof von Renard vorbeigefahren war. Sie war gewiss sehr heiter und frei von Vorurteilen. Alles in allem hatte man den Eindruck, da erlebte ein sich leidenschaftlich liebendes Paar in völliger Abgeschiedenheit seine ›hohe Zeit‹.

Einmal allerdings … Der kleine Doktor hatte eine Panne im Moor. Sie kam vorbei.

»Nun, schläft Ihr Freund jetzt besser? Hat das Medikament gewirkt?«, hatte er sie gefragt.

Sie wirkte überrascht.

»Was meinen Sie damit?«

»Nichts … Ich wollte nur wissen, ob …«

Das Auto stand am Rand des Grabens, über den ein wackliger Holzsteg führte. Von den weißen Wänden des Hauses hob sich das grelle Rot der Geranien ab und das dezentere, sanftere Blau der Hortensien.

Die Läden waren geöffnet, die Fenster aber geschlossen. Niemand kam heraus, um den Doktor zu empfangen. Er klopfte an die Glastür, an der eine rotkarierte Gardine hing.

Vielleicht hatte der kleine Doktor auch da wieder das dunkle Verlangen umzukehren, aber schon griff seine Hand mechanisch nach der Eisenklinke. Die Tür gab nach. Angenehme Kühle kam aus der dunklen Küche, die zugleich das Esszimmer war.

»Hallo? Ist da jemand?«, rief er.

Die Situation war ihm peinlich. Er hatte das Gefühl, indiskret zu sein.

»Hallo? Monsieur Drouin?«

Er glaubte, im Nebenzimmer habe sich jemand bewegt, aber es war nur eine graue Katze, die an seinen Beinen entlangstrich und hinauslief. Das zweite Zimmer war das recht originell eingerichtete Schlafzimmer. Einige der Möbel hatte Drouin gewiss selbst gezimmert.

Eine große Couch diente als Bett, und dieses Bett war ungemacht. Man sah noch, dass jemand darin gelegen hatte. Was das Telefon betraf …

Er nahm den Hörer ab, drehte zweimal, dreimal die Kurbel, aber niemand meldete sich, was klipp und klar bewies, dass der Anruf, der ihn um fünf vor halb eins erreicht hatte, nicht von hier gekommen war.

Bis dahin hatte sich der kleine Doktor, der eigentlich Jean Dollent hieß, ausschließlich mit Medizin befasst. Nicht in seinen kühnsten Träumen wäre ihm eingefallen, dass er sich mit etwas anderem befassen könnte. Für einen ungewöhnlich guten Beobachter hielt er sich nicht und erst recht nicht für sonderlich scharfsinnig.

Im Augenblick war er verlegen. Und außerdem – so lächerlich es klingen mag – hatte er Durst. Einen solchen Durst, dass …

Es war nicht sehr fein. Sei’s drum. Da standen Regale mit Büchern, den neuesten Romanen, aber gleich neben der Couch, also bequem von dort zu erreichen, war eine Anrichte voller Aperitifflaschen. Er nahm eine heraus, den mildesten Aperitif, fand ein Glas und trank einen großen Schluck.

Es war die dritte Überraschung des Tages. Was war das für ein Geschmack? Es war absurd, niemand würde doch auf die Idee kommen …

Aber es gab keinen Zweifel. Er trank noch einen Schluck und wusste, hier bedurfte es keiner Analyse. Jemand hatte tatsächlich doppeltkohlensaures Natron in Wermut aufgelöst!

Was war in dem Glas gewesen, das auf dem Tisch neben der Couch stand? Er roch daran. Wermut!

Wie konnte jemand so verrückt sein, doppeltkohlensaures Natron, das harmloseste aller Medikamente, das nur bei leichten Magenschmerzen hilft, in einem Aperitif aufzulösen?

»Hallo! Es muss doch jemand hier sein!«, rief der kleine Doktor aufgebracht.

Nur die Katze im Garten beobachtete ihn durchs Fenster, und schließlich setzte sich Jean Dollent ganz selbstverständlich auf den Rand der Couch.

Erstens: Da man sich die Mühe gemacht hatte, ihn anzurufen, ihn gebeten hatte, sofort zu kommen, brauchte man ihn hier wohl dringend.

Aber es war niemand da, der seine Hilfe benötigte.

Zweitens: Um diese Zeit hatte man nur von La Rochelle aus telefonieren können, das zehn Kilometer entfernt lag. Drouin hatte kein Auto, nicht einmal ein Fahrrad, und der letzte Bus war um acht Uhr morgens durchs Dorf gekommen. War Drouin die zehn Kilometer gelaufen? Hatte seine Geliebte ihn begleitet?

Drittens: Nur eine Person hatte in dieser Nacht auf der Couch geschlafen, und zwar die junge Frau, denn auf dem Kopfkissen lag ein langes blondes Haar.

Viertens: Nirgends eine Spur, dass man gefrühstückt hatte. Es war schwer vorstellbar, dass sie beim Aufstehen Wermut mit doppeltkohlensaurem Natron getrunken hatte. Das wäre der Gipfel der Absurdität gewesen.

Der kleine Doktor merkte gar nicht, dass er im Begriff war, eine Untersuchung durchzuführen, und dass diese Untersuchung geradezu beängstigend einer polizeilichen ähnelte.

Warum hatte man ihn kommen lassen? Um wen zu behandeln?

Es sei denn … Er runzelte die Stirn, denn dieser Gedanke veränderte alles … War es vielleicht unbedingt nötig gewesen, dass irgendjemand in die Maison-Basse kam? … Die Leute im Dorf hatten kein Telefon. Und mittags hätte man dort ohnehin nicht telefonieren können. Und was sollte man ihnen sagen? Warum sollten sie sich herbemühen? Während ein Arzt … Er ist der Einzige, der immer kommt, wenn man ihn ruft. Der moralisch dazu verpflichtet ist …

Aber warum?

Die Kühle war köstlich, es herrschte tiefer Friede. Das nächste Haus, der Hof von Renard, der wegen einer Wirbelentzündung bei Dollent in Behandlung war, lag mehr als sechshundert Meter entfernt. Nur die Fliegen brachten ein wenig Leben in die Stille.

Plötzlich … Er stand auf, ging zu einer alten Kommode, unter der er etwas bemerkt hatte. Er bückte sich und zog ein Paar Sandalen hervor, an deren Sohlen feuchte Erde klebte.

Und das war erstaunlicher als alles andere, denn es hatte wochenlang nicht geregnet, und die Gräben waren schon seit einer Ewigkeit ausgetrocknet.

Wo hatte Drouin seine Sandalen so beschmutzen können? Nicht an der Küste, denn die Erde am Ufer zwischen den Kieselsteinen war fast weiß, extrem kalkig, und das hier war die gute braune Erde der Wiesen oder Felder.

Machte sich Dollent nicht lächerlich? War es nicht besser, nach Hause zurückzufahren, wo Anna, seine Haushälterin, ein köstlich duftendes Hammelragout gekocht hatte?

Der Wermut mit dem doppeltkohlensauren Natron hatte seinen Durst nicht gelöscht, und er nahm eine andere Flasche aus der Anrichte, ein Aperitif mit Anisgeschmack. Er kostete ihn. Keine Arznei, kein doppeltkohlensaures Natron. Er goss sich ein Glas voll und ging dann hinaus.

Das Haus bestand aus fünf oder sechs Zimmern, alle zu ebener Erde. Es war ein ehemaliges Bauernhaus, und die Drouins – konnte man sie so nennen? – hatten es nur spärlich möbliert, es mit bunten Stoffen, Möbeln aus unbehandeltem Holz, Regalen wohnlich gemacht; das Ganze erinnerte an die Ateliers in Montparnasse. An einem Nagel hing sogar eine recht hübsche Hawaiigitarre, die wohl auch gespielt wurde, denn es fehlte keine Saite, und sie war gestimmt.

Wo hatte Drouin nur …

Und da ging der kleine Doktor, statt wieder in seinen Wagen zu steigen, um das Haus herum, gefolgt von der Katze, die hin und wieder einen Buckel machte und sich an seinen Beinen rieb. In dem Stück Garten hinter dem Haus war die Erde genauso trocken wie überall hier. Er beugte sich über den Brunnen: kaum fünfzig Zentimeter klares Wasser, durch das man die Kiesel hindurchschimmern sah.

Das Dorf schien sehr fern und die Landschaft unendlich weit. Kühe lagen auf den sumpfigen Wiesen und dösten vor sich hin.

Dabei fiel ihm etwas ein … Aber welcher Zusammenhang bestand zwischen dem Schlafmittel, das er Drouin verschrieben hatte, und …

Eine niedrige, vertrocknete Hecke. Er wäre beinahe weitergegangen. Dann bückte er sich doch. Die Erde auf einer kleinen Fläche jenseits der Hecke sah anders aus, nämlich so, als wäre sie umgegraben worden. Er stieg über die Hecke, hob einen losen Erdklumpen auf, fand darunter lockere feuchte Erde, genau wie die, die an den Sandalen im Haus klebte.

Aber was ging ihn das an? Wenn ihm etwas verdächtig erschien, brauchte er es nur auf dem Bürgermeisteramt in Esnandes zu melden, wo man die Gendarmerie benachrichtigen würde. Er war Arzt und weiter nichts.

Aber warum, zum Teufel, hatte man ihn kommen lassen? Um was zu entdecken?

Er war sicher, Drouins Stimme am Telefon erkannt zu haben. Wenn Drouin ihn also um fünf Minuten vor halb eins angerufen hatte …

Er sah auf seine Uhr. Es war schon eins, und Anna wurde gewiss bereits ungeduldig. Trotzdem ging er zurück zum Haus, öffnete ein paar Türen, entdeckte schließlich einen Werkzeugschuppen und ergriff dort einen Spaten.

Er dachte an das Haar auf dem Kopfkissen, an die junge Frau, die nie ausging und eine Atmosphäre überschwänglicher Leidenschaft um sich verbreitete.

Er zog seine Jacke aus. Die Erde war locker, er schippte ein paar Schaufeln heraus, dann …

Er hatte während seines Medizinstudiums viele Leichen seziert. Trotzdem, als er jetzt plötzlich diesen Finger aus der Erde auftauchen sah …

Er war bestürzt: Es war der Finger eines Mannes. Er grub weiter, grub die ganze Hand aus, eine ungepflegte Pranke.

Drouin? Nein, das war nicht möglich, denn er hatte telefoniert. Und wenn nun jemand seine Stimme imitiert hatte?

Aber jemand wie Drouin, der eine natürliche Vornehmheit besaß, was dem kleinen Doktor sofort aufgefallen war, hatte nicht solche Hände …

Nun, es half nichts, mit einem Fußtritt verjagte er die Katze, die laut miaute, dann grub er weiter und entdeckte schließlich ein von Erde und Blut verschmiertes Gesicht.

Wenn man ihn später fragte, was er dabei empfunden habe, würde er antworten:

»Überhaupt nichts, oder vielmehr, ich war wie vor den Kopf geschlagen …«

Und wirklich, er war wie vor den Kopf geschlagen, als er dort stand, allein zwischen Himmel und Erde, allein in einer unendlichen Weite, vor einem Loch, aus dem er nach und nach eine männliche Leiche ausgrub.

Am meisten erstaunte ihn, dass er diesen Menschen nicht kannte, ihn bestimmt niemand in der Gegend kannte.

Später, in seiner großen Zeit, würde er sagen:

»Er hatte eine widerliche Visage!«

Und das stimmte. Ein dickes, aufgedunsenes Gesicht, der Mund durch eine Hasenscharte entstellt.

Die Hitze … Aber ja! Es war die Hitze, nicht der Ekel. Er ging ins Haus zurück und goss sich einen zweiten und dann einen dritten Pernod ein.

»Warum, zum Teufel, hat man mich angerufen?«

Diese Frage ließ ihm keine Ruhe. Er hätte nie geglaubt, dass er so logisch zu denken vermochte. Wollte man, dass er die Leiche fand? Aber weshalb? Wenn Drouin der Mörder war, welches Interesse hatte er daran, dass die Leiche seines Opfers so schnell entdeckt wurde? Wenn er nicht der Mörder war, wusste er dann, dass eine Leiche in seinem Garten war?

Und welche Rolle spielte dabei die junge Frau, deren Namen der kleine Doktor nicht kannte? Wo war sie? Bei ihrem Geliebten?

Wenn sie aus irgendeinem Grund einen Mord begangen hatten, warum hatten sie sich dann nicht einfach aus dem Staub gemacht?

Es wären sicher Tage, vielleicht sogar Wochen vergangen, ehe sich die Bewohner von Esnandes über ihr Verschwinden gewundert hätten. Bis dahin wäre das Gras wieder gewachsen, und höchstwahrscheinlich hätte man die Leiche nie entdeckt.

Also … Also, es gab einen Grund, und dem kleinen Doktor wurde plötzlich klar, dass er keine Ruhe finden würde, bis er diesen Grund kannte.

Er konnte nicht die ganze Leiche exhumieren. Dazu war er nicht befugt. Er bedeckte den Kopf und die Hand mit einem vom Küchenfenster heruntergerissenen Vorhang. Dann setzte er sein Auto in Gang, das die ganze Fahrt brummte wie eine dicke, wütende Fliege.

Er traf den Bürgermeister beim Mittagessen auf dem Bauernhof, den dieser bewirtschaftete und der am anderen Ende von Esnandes lag, Richtung Marsilly. Der kleine Doktor nahm eine gegrillte Sardine aus der Schüssel und aß sie, ohne an das zu denken, was seine Hände vorher berührt hatten.

»Im Garten der Maison-Basse liegt eine Leiche …«

»Was für eine Leiche?«

»Eine Männerleiche. Man hat sie dort begraben. Man sollte wohl besser die Gendarmerie benachrichtigen, vielleicht sogar die Kriminalpolizei.«

Noch eine Sardine. Die Aufregung hatte ihm Appetit gemacht.

»Es geht mich zwar nichts an, aber wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, dann begleiten Sie mich zu mir nach Hause. Von da aus können Sie mit La Rochelle telefonieren … Inzwischen sollten Sie den Gendarm in die Maison-Basse schicken, damit er niemanden hereinlässt.«

Der arme Gendarm, der bestimmt schon betrunken war!

»Wollen Sie nicht einen Happen mit uns essen?«

»Danke, aber …«

Während der Bürgermeister sich anzog, aß der kleine Doktor trotzdem heimlich ein halbes Dutzend Sardinen und gönnte sich zwei Glas Weißwein.

»Glauben Sie, es handelt sich um einen Mord?«

»Nun, wenn man jemanden hinten in einem Garten verscharrt, ohne die Behörden, den Pfarrer oder ein Bestattungsinstitut zu benachrichtigen …«

»Gehen wir!«

Erst die Gendarmerie. Dann die Kriminalpolizei. Das dauerte seine Zeit. Anna war wütend. Das Ragout war schließlich doch noch angebrannt.

»Man wird uns hier abholen«, sagte der Bürgermeister. »Ich habe die Staatsanwaltschaft benachrichtigen lassen. Ich hatte schon geahnt, dass diese Fremden mir Ärger bescheren würden …«

Für ihn traf die Bezeichnung ›Fremde‹ auf jeden zu, der nicht im Dorf geboren war.

»Erlauben Sie? Ich habe selber noch ein paar Telefonate zu führen …«

Zunächst rief Dollent das Postamt in La Rochelle an. Zehn Minuten später antwortete man ihm, der Anruf um fünf vor halb eins sei aus dem Café des Navigateurs am Hafen, dreihundert Meter vom Bahnhof entfernt, gekommen. Der nächste Zug fuhr erst um drei Uhr acht ab.

»Und die Busse?«

»Da müssen Sie sich an die Firma Brivin wenden.«

Gespräch Nummer zwei. Bei Brivin hieß es:

»Um zwölf Uhr vierzig fährt ein Autobus nach Surgères und um dreizehn Uhr zehn einer nach Rochefort.«

Bei Brivin erfuhr er auch, dass in den am Morgen um acht in Esnandes abgefahrenen Bus niemand eingestiegen war, auf den die von Dollent gegebene Personenbeschreibung zutraf. Auch keine Frau.

Blieben die Taxis. Drouin hätte eins aus La Rochelle kommen lassen können, aber das wäre in Esnandes nicht unbemerkt geblieben.

Also war Drouin – und wohl auch seine Begleiterin – am Vormittag die zehn Kilometer von der Maison-Basse nach La Rochelle zu Fuß gegangen.

Um fünf vor halb eins hatte Drouin bei dem Arzt angerufen und ihn gebeten, in die Maison-Basse zu kommen.

Zu ihm nach Hause, wo eine Leiche war …

Der Bürgermeister von Esnandes wartete, während der kleine Doktor im Zimmer auf und ab ging und plötzlich erklärte:

»Irgendwas stimmt da nicht.«

»Wie meinen Sie das? Sind Sie nicht sicher, dass es eine Leiche ist?«

»Ich meine, irgendjemand hat einen Fehler begangen … Anders ist es nicht möglich. Sie werden sehen …«

Er vollendete den Satz nicht, denn in diesem Augenblick klingelte das Telefon. Er nahm den Hörer ab.

»Hallo …«

»Sind Sie’s, Doktor?«

Er zuckte nicht zusammen. Er hatte die Stimme erkannt. Es war die von Drouin. Man spürte, er war ängstlicher als am Mittag. Er wagte kaum zu sprechen. Fürchtete er, dass das Gespräch mitgehört würde?

»Hallo. Sie erkennen mich, nicht wahr?«

»Ja.«

Ein Blick zum Bürgermeister, der zuhörte, sich aber auf all das keinen Reim machen konnte.

»Waren Sie dort?«

»Ja.«

»Und … Wie soll ich sagen? Haben Sie nichts …«

»Von wo telefonieren Sie?«

Verlegenes Schweigen.

»Ich verstehe. Gut.«

»Sie verstehen? Also …«

»Ja!«

»Sie haben ihn …«

»Ja.«

»Das hätte ich mir denken müssen. Und Sie … Sie haben … Antworten Sie mir offen … Ich ahne, was Sie über mich denken … Vielleicht werde ich später mit Ihnen darüber sprechen können … Ist die Polizei …«

»Ja, sie ist benachrichtigt.«

»Hallo, Doktor … Sind Sie noch am Apparat? Ist … ist …«

In diesem Augenblick hörte man ein Knistern in der Leitung. Das Fräulein vom Amt schaltete sich ein:

»Hallo, Rochefort … Fertig?«

»Trennen Sie nicht!«, rief Drouin erregt. »Hallo, Doktor …«

»Ja.«

»Sind Sie noch am Apparat? Wie lange, glauben Sie, wird es dauern, bis …«

Der kleine Doktor wandte sich dem Bürgermeister zu, der noch zuhörte und immer weniger verstand.

»In einer Stunde«, sagte Dollent schließlich, »werden alle Bahnhöfe, alle Busse überwacht werden.«

»Ich danke Ihnen. Kann ich Sie noch einmal anrufen?«

»Das Telefon wird auch überwacht werden.«

»Dann … Moment! Bleiben Sie am Apparat. Ich habe noch eine Frage … Es könnte sein, dass heute Nacht eine verletzte Person zu Ihnen kommt … Verstehen Sie mich?«

»Ja.«

»Dass sie ganz allein kommt. Dass sie wirklich Ihres Beistands bedarf …«

Schweigen. Anna horchte von Zeit zu Zeit an der Tür und wurde immer ungeduldiger.

»Sagen Sie … Wie ist das mit dem Berufsgeheimnis?«

»Es gibt da keine Vorschrift. Ich kann aussagen oder schweigen. Ich habe das mit meinem Gewissen abzumachen. Wenn ich finde, dass die betreffende Person …«

»Wozu werden Sie sich entschließen?«

»Ich kann Ihnen nichts versprechen. Es kommt ganz darauf an …«

Ein Auto auf dem Hof. Leute aus La Rochelle. Kriminalbeamte und die Vertreter der Staatsanwaltschaft.

»Wenn das Leben dieser Person, die unschuldig ist …«

Anna hatte die Tür geöffnet.

Die Herren traten sich die Schuhe auf der Strohmatte ab.

Der kleine Doktor legte lieber auf.

»Guten Tag, Herr Assessor.«

»Guten Tag, Doktor … Man sagt mir … Aber Sie waren doch gerade am Telefon …«

»Ach, nur ein Patient … Treten Sie bitte ein. Anna, bringen Sie den Herren einen Armagnac …«

Es blieb ihm nicht verborgen, dass der Bürgermeister ihm einen seltsamen Blick zuwarf.

Der Spürsinn des kleinen Doktors

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