Читать книгу Der Mörder - Georges Simenon - Страница 3
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ОглавлениеDie tägliche Routine, die gewohnten Verrichtungen und Bewegungen hatten sich so innig mit dem ungeheuerlichsten Abenteuer vermischt, dass Doktor Kuperus, Hans Kuperus aus Sneek (Niederländisch-Friesland), eine sozusagen wollüstige Erregung verspürte, die ihn an die Wirkung von Koffein erinnerte.
Er war wie an jedem ersten Dienstag im Monat in Amsterdam. Es war Januar; er hatte seinen Mantel mit Otterkragen umgelegt, und da es schneite, trug er Gummiüberschuhe.
Eigentlich sind diese Einzelheiten bedeutungslos, es soll damit auch nur gesagt werden, dass alles so wie an jedem ersten Dienstag im Monat war. Sogar diese Kleinigkeit: Nachdem er das schöne Bahnhofsgebäude aus rotem Backstein verlassen hatte, ging er gegenüber einen Genever trinken, wovon er nie erzählte, denn es gehört sich nicht, um zehn Uhr morgens allein ein vergünning-Café1 zu betreten und dort Alkohol zu konsumieren.
Es hatte die ganze Nacht geschneit, es schneite immer noch, aber es herrschte eine heitere Atmosphäre. Vereinzelte Flocken fielen sachte herab, ohne Gefahr zu laufen, in der Luft aufeinanderzutreffen, und von Zeit zu Zeit kam am bereits fahlblauen Himmel die Sonne zum Vorschein. Der Schnee blieb liegen. Männer kehrten ihn zu Haufen zusammen. Auf den Kanälen bildeten sich Eisschichten nahe an den Ufern, und Reifkristalle verliehen den Schiffsrümpfen einen eigenartigen Glanz.
Das Abenteuer nahm seinen Anfang mit dem zweiten Glas Bols, in das sich Kuperus etwas Bitter gießen ließ, um den Geschmack, den er nicht mochte, zu vertreiben. Er zahlte, wischte sich den Mund ab, schlug den Kragen hoch und ging hinaus, die Hände in den Taschen und die Mappe unter den Arm geklemmt.
Normalerweise hätte er mit der Straßenbahn zu seiner Schwägerin in das vornehme Viertel am Botanischen Garten fahren müssen. Er hätte dort gegessen, und um zwei Uhr hätte er sich zu Fuß in ein dreihundert Meter entferntes Gebäude aus glasierten Backsteinen begeben, wo sich an jedem ersten Dienstag im Monat die Ärzte der Biologischen Gesellschaft versammelten.
Er ging weder zu seiner Schwägerin, der dicken Frau Kramm, noch zu der Versammlung, und das versetzte ihn in einen fast schwebenden Zustand, als wäre zum ersten Mal in seinem Leben der Faden durchschnitten, der ihn am Boden festhielt.
Er bog in die breite Straße ein, die zum Theaterviertel führt, und blieb vor dem Schaufenster jedes Waffengeschäfts stehen. Er hätte in das Erstbeste hineingehen können. Er sah sich aber lieber vier oder fünf an, und während er die Waffen musterte, betrachtete er sich in der Schaufensterscheibe.
Dass er wie ein Provinzler aussah, war ihm klar, vor allem wenn er seinen Hut abnahm, denn er hatte es nie fertiggebracht, seine rotblonden Haare zu bändigen. Er war groß und breit. Leute, die es nicht besser wussten, sagten von ihm:
»Er ist ein Koloss!«
Er aber, der sich selbst kannte, der erpicht darauf war, sich zu kennen, hatte sich schon immer als weich empfunden. Sein Gesicht zum Beispiel! Diese zu schweren Augenlider, diese vorquellenden Augen … Und die Linie des Mundes, die leicht schiefe Nase …
Er war müde. Er war defizient, um ein Wort zu gebrauchen, das seine Patienten beeindruckte. Er wusste, dass er an Phosphatmangel litt, und wenn er noch eine Weile gegangen wäre, hätte er bestimmt eine Beklemmung in der Brust verspürt.
Nur spielte das von nun an keine Rolle mehr! Er nahm seine Kräfte zusammen, das heißt, er trieb sich noch vor drei Waffengeschäften herum und trat dann in einen ganz kleinen Laden, wo er einen alten Mann mit Käppchen hinter dem Ladentisch sah.
»Haben Sie automatische Revolver?«
Was für eine törichte Frage! Die Auslage war voll davon!
Ehrfürchtig und mit einem leichten Schauer fasste er die Waffe an, so wie seine Patienten das blanke Instrument berührten, das er gleich ergreifen würde, sei es, um eine eitrige Fingerentzündung aufzuschneiden, sei es, um ihren Magen zu untersuchen.
Er ließ die Waffe laden, steckte sie in die Tasche, schaute auf die Uhr und dachte daran, dass er normalerweise jetzt bei seiner Schwägerin, Frau Kramm, Tee trinken und Käsesandwiches essen müsste.
Da er nichts dergleichen tun wollte und der Zug erst um drei Uhr fuhr, betrat er ein gutes Restaurant, das ihm sonst zu teuer war, und bestellte ein komplettes französisches Menü mit Horsd’œuvre, Wein, Eisbombe und Dessert. Er saß allein an einem Tisch. Ihm war warm. Er dachte daran, dass der Revolver die Tasche seines Mantels ausbeulte, der am Kleiderhaken hing. Darüber musste er lachen!
Schließlich ging er in ein Kino und sah den Anfang eines Films, dessen Ausgang er niemals erfahren würde.
Nach drei Uhr vermischte sich das Gewohnte noch inniger mit dem Abenteuer, denn Kuperus tat das, was er am Tag darauf hätte tun müssen, genau dasselbe, einfach nur um einen Tag verschoben.
Gewöhnlich kam er dienstags an, nahm nachmittags an der Sitzung der Gesellschaft teil und verbrachte den Abend und die Nacht bei seiner Schwägerin. Am Mittwochmorgen erledigte er einige Einkäufe, mit denen ihn seine Frau jedes Mal beauftragte, und um drei Uhr bestieg er den Zug nach Enkhuizen.
Um einen Tag verschoben! Dennoch änderte das alles! Sicherlich war dienstags Markt in Enkhuizen, denn der Zug war voll von ihm unbekannten Leuten, die einer anderen Klasse angehörten als seine Mitreisenden vom Mittwoch. Einige trugen Pelzmützen wie er selber auch, wenn er zu Hause in Sneek war, doch niemals in Amsterdam. Das hätte er nicht gewagt.
Diese Unbekannten grüßten ihn, denn man grüßt immer, wenn man ein Abteil betritt. Dann fingen sie an, über ihre Geschäfte zu sprechen, es war die Rede von dänischen und lettischen Schweinen.
Noch ein offensichtlich bedeutungsloses Detail, aber dennoch ein Detail: Mittwochs hätte er in seinem Abteil erster Klasse die Bürgermeister von Stavoren, Leeuwarden und Sneek getroffen, denn an jedem ersten Mittwoch im Monat fand in Amsterdam die Konferenz der Bürgermeister statt …
Zwei Stunden Fahrzeit nach Enkhuizen. Er befühlte ein paarmal den Revolver in der Tasche und unterdrückte ein Lächeln.
Der Unterschied zum Mittwoch machte sich jetzt immer deutlicher bemerkbar. Die ›Prinzessin Helena‹ lag wie immer am Quai. Es war ein schönes weißes Schiff, das seit einem Jahr seinen Dienst versah. Kuperus kannte den Kapitän, die Offiziere, die Stewards, kurz, er kannte jeden, aber er erkannte keinen der Fahrgäste.
Immer noch mit der Mappe unter dem Arm, stieg er in den großen Salon hinunter, wo er an dem Tisch im hintersten Teil, immer am selben Tisch, seine drei Bürgermeister hätte wiedertreffen müssen und wo man ihnen alsbald zwei Kartenspiele für Bridge und große Gläser mit Amstel-Bier gebracht hätte.
Denn die Überfahrt über die Zuidersee von Enkhuizen nach Stavoren dauerte nur eineinhalb Stunden, Zeit genug, um zwei oder drei Robber zu machen, wenn nicht einer darauf bestand zu bluffen. (Es war immer der Bürgermeister von Leeuwarden, der bluffte, wenn er am Verlieren war!)
Man brachte ihm das Bier ohne die Karten. Der Steward bemerkte:
»Sie sind einen Tag zu früh!«
Und er ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, voll Genugtuung zu erwidern:
»Ich bin ein Jahr zu spät!«
Auch an Bord waren dienstags ganz andere Leute als mittwochs. Lauter Unbekannte, die nach Leeuwarden fuhren, sicherlich zu einem Markt oder zu einem Kongress.
Die Nacht war hereingebrochen. Die Zuidersee war ruhig. Die Schraube drehte sich gleichmäßig. Ein Engländer las eine dicke englische Zeitung.
Ein Jahr zu spät! Das war es! Gierig griff Kuperus diesen Gedanken wieder auf.
Bis auf zwei Tage genau vor einem Jahr (es war an einem Freitag, der so kalt war, dass die Kinder schulfrei hatten) hatte er diese vielleicht mit Absicht schlechtgeschriebene Nachricht erhalten:
Hochverehrter Herr Doktor,
es tut weh, mit anzusehen, wenn ein Mann wie Sie insgeheim der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Jemand, der Sie schätzt, teilt Ihnen mit, dass Frau Kuperus Sie betrügt, jedes Mal wenn Sie unterwegs sind. Sie trifft sich mit einem Ihrer Freunde, Herrn de Schutter, in dessen Bungalow am See und verbringt dort manchmal auch die Nacht.
Jemand, der ihn kannte, ja! Aber jemand, der ihn schlecht kannte! Denn Schutter war nicht sein Freund!
In den Augen der Leute, vielleicht. Aber nicht im tiefsten Inneren! Monsieur de Schutter, der Rechtsanwalt, der es nicht nötig hatte, vor Gericht aufzutreten, weil er vermögend war, gehörte wie Kuperus zur Billardakademie. Er war sogar ihr Vorsitzender, während Kuperus auf der letzten Vollversammlung nur zum Kassierer gewählt worden war …
Schutter war adlig. Er hieß Graf de Schutter, aber er tat so, als läge ihm nichts an seinem Titel und als würde er böse, wenn man ihn benutzte, aber damit unterstrich er noch den Unterschied zu den anderen.
Er war so alt wie Kuperus, fünfundvierzig Jahre, aber er wirkte trotz seiner silbrigen Haare wie fünfunddreißig, weil er schlank war und sich von einem englischen Schneider in Amsterdam ausstatten ließ.
Schutter sprach Französisch, Englisch und Deutsch, und er war in der ganzen Welt herumgekommen, wovon die vergrößerten Fotos Zeugnis ablegten, die die Wände seines Hauses schmückten.
Und was für ein Haus das war! Das schönste in Sneek! Neben dem Rathaus. Fast noch schöner als das Amtsgebäude, aus derselben Zeit stammend, in schwarzem Backstein erbaut und mit kleinen rosa Fensterscheiben und Kaminen aus echtem Delfter!
Schutter war Mitglied des Stadtrates. Er hätte zum stellvertretenden Bürgermeister ernannt werden können, und er ließ sich dieses Amt auch bei jeder Wahl antragen, aber nur des Vergnügens wegen, es abzulehnen!
Schutter hatte ein Boot auf den Seen, aber kein Sechsmeterboot, auch kein Neunmeterboot, auch keine Tjalk: Es war eine Hochseejacht, die er Southern Cross getauft hatte und die man aus der Konkurrenz hatte nehmen müssen, weil sie sämtliche Rennen gewann.
Schutter hatte schmale Lippen, die ihm ein überlegenes, ein verächtliches und gleichzeitig nachsichtiges Lächeln verliehen, ein Lächeln »à la Voltaire«, wie gewisse Mitglieder der Billardakademie sagten.
Schutter fuhr jedes Jahr an die Côte d’Azur und in die Berge.
Schutter …
Vor allem aber war er der einzige Mann in Sneek, der sich einen schlechten Ruf leisten konnte. Einen solchen Mann brauchte man: Er war es! Ein Mann, dem man nachsagen konnte:
›Er kriegt sie alle …‹
Alle Frauen! Auch die verheirateten! Ein anderer wäre im ganzen Ort schlecht angeschrieben gewesen, wäre auf den Index gesetzt und aus den Zirkeln ausgeschlossen worden.
Schutter aber war die große Kokette, der alles erlaubt ist. Einstimmig, ohne dass er sich zur Wahl gestellt hatte, war er zum Vorsitzenden der Billardakademie gewählt worden, während jedermann wusste, dass Kuperus seit Jahren auf diesen Posten hoffte.
Das war Herr de Schutter!
Und Frau Kuperus, Alice Kuperus, war eine Frau von fünfunddreißig Jahren, rundlich und ziemlich kräftig, aber rosig und weich, mit einem frischen Lächeln und hellen Augen, eine Frau wie viele, anständig und ohne Bösartigkeit.
Kuperus schlug ihr nichts aus. Sie ließ sich ihre Sportkleidung beim selben Schneider anfertigen wie die Frau des Bürgermeisters. Seit zwei Jahren besaß sie den schönsten Persianer von Sneek. Im Jahr zuvor hatte man den Salon völlig neu möbliert, damit sie in einem modernen Dekor zum Tee bitten konnte, und Kuperus hatte auch die Kosten für eine tragbare Cocktailbar nicht gescheut.
Das Schiff brummte. Von Zeit zu Zeit war zu hören, wie eine Eisscholle am Vordersteven zerschellte und wie der Schiffsrumpf am Eis entlangscheuerte.
Der Steward, der Kuperus kannte, wartete darauf, dass Kuperus noch ein Bier bestellte.
»Einen Cognac!«
Das war bereits ein anstoßerregendes Benehmen. An Bord, wo er zu bekannt war, hatte er noch nie Cognac getrunken. Doch er lächelte vor sich hin und dachte an den Revolver.
Alice Kuperus, das war …
Er hatte es nicht geglaubt. Bevor er anfing, sich Klarheit zu verschaffen, hatte er zwei Monate gewartet, weil man sich in der Biologischen Gesellschaft über seine Abwesenheit gewundert hätte und alles so schwierig war …
Man musste sich so viele Tricks ausdenken! So tun, als würde man mit dem Zug wegfahren! Sich bis zum Einbruch der Dunkelheit irgendwo verstecken. Doch jedermann in Sneek kannte Doktor Kuperus! Schließlich den folgenden Abend abwarten, um nach Hause zurückzukehren! …
Er hatte es getan! Zur Zeit der Schneeschmelze hatte er bei seiner Amme in Hindeloopen übernachtet und ihr irgendeine Geschichte erzählt, doch die alte Frau, die noch die friesische Tracht trug, hatte sich bestimmt nicht täuschen lassen.
Jedenfalls war es wahr: Er hatte gesehen, wie die beiden, Schutter und Frau Kuperus, in das bungalowartige Haus gingen, das am Kanalufer ganz nahe beim See stand, ganz nahe auch an der Southern Cross, auf der der Rechtsanwalt im Sommer Feste gab.
Es war ein Holzhaus. Außer einem Treidelpfad gab es ringsum nur Wasser, das Wasser der Kanäle, das Wasser des Sees und aller Seen, die von dieser Stelle ausgingen.
Es war nur anderthalb Kilometer von der Stadt entfernt!
»Sie haben kein Gepäck?«
Er verkniff sich ein Lächeln, als er den Steward ansah. Beinahe hätte er ihm erklärt:
›Doch! In meiner Manteltasche habe ich wichtiges, schreckliches Gepäck …‹
Durch die Bullaugen sah man schon das rote und grüne Licht des Hafens von Stavoren.
Ein Jahr hatte er gebraucht, um einen Entschluss zu fassen! Und vielleicht hätte er ihn nie gefasst, wenn Schutter nicht vierzehn Tage vorher noch einmal für ein Jahr zum Vorsitzenden der Billardakademie gewählt worden wäre.
Denn Kuperus hatte sich zur Wahl gestellt! Sie hatten ihn abblitzen lassen und dabei nicht einmal in geheimer Wahl abgestimmt!
Seit einem Jahr versuchte er, seine Kräfte zusammenzunehmen und sich zum Handeln zu entschließen …
Es war so weit. Dass er sich auf dem Dienstagsschiff statt auf dem Mittwochschiff befand, war der Beweis.
»Hier, Peter! …«
Um ein Haar hätte er dem Steward zehn Gulden gegeben. Doch es fiel ihm ein, dass man darüber reden würde. Er gab ihm nur einen, und das war zehnmal das dobbeltje vom normalen Trinkgeld.
Der Rest der Strecke von Stavoren nach Sneek war noch besser voraussehbar. Zwei Abteile erster Klasse. Er hatte immer ein Abteil für sich allein. Man kannte ihn. Es war so gut wie reserviert.
Er ging von Bord, überquerte die Gleise und bestieg sein Abteil, das Raucherabteil, denn er rauchte Pfeife.
»Guten Abend, Herr Kuperus …«
Kuperus fuhr seit Jahren mit solcher Regelmäßigkeit auf dieser Strecke, dass der Beamte fälschlicherweise annehmen musste, es sei Mittwoch und nicht Dienstag.
Die Stationen wurden ausgerufen:
»Hindeloopen! …«
Dann:
»Workum! …«
Was der Mann so aussprach: Woooorekum …
Schließlich Sneek mit seinem stillen, sauberen und freundlichen Bahnhof, von wo er gewöhnlich den Weg zum Marktplatz einschlug. Zu dieser Stunde war dort alles dunkel, bis auf die Fenster des Cafés Onder de Linden.
Der Sitz der Billardakademie! Auf dem Heimweg ging er immer dort vorbei. Er trank ein letztes Bier. Er wurde gefragt:
»Was gibt’s Neues in Amsterdam?«
Und er berichtete von den Neuigkeiten, die er gerade in der letzten Ausgabe des Telegraaf gelesen hatte …
Ein Zufall warf alles über den Haufen. Hindeloopen und Workum wurden wie üblich durchfahren. Ein paar Minuten vor der Ankunft in Sneek musste der Zug aber wegen etwas Unvorhergesehenem die Fahrt verlangsamen und sogar ganz anhalten.
Es war so viel Reif auf den Scheiben, dass Kuperus nicht nach draußen schauen konnte. Er öffnete die Tür, sah den Schornstein einer Käserei und ein Netz halb zugefrorener Kanäle, und er wusste, wo er war.
Bis zu Schutters Bungalow waren es nicht einmal fünfhundert Meter.
Er überlegte nicht. Er nahm seine Mappe – eine automatische Geste, die er auch unter den dramatischsten Umständen nicht unterlassen hätte. Er stieg aus, rutschte die Böschung hinunter und kam unten an, während der Zug wieder anfuhr.
Über den weiteren Verlauf der Ereignisse zu sprechen ist fast unmöglich. Doktor Kuperus hatte beschlossen, alles zu Ende zu bringen. Es war so gut wie zu Ende. Zu Ende für alle drei, für Schutter (der mit Vornamen Cornelius hieß), für Alice (die den Namen Kuperus trug) und für Hans Kuperus selbst.
Der Beweis war der Revolver, der ganz kalt, als wäre er aus Eis, in seiner Tasche lag. Es ging nicht um einen flüchtigen Gedanken. Er hatte ein Jahr lang überlegt. Er wusste, was er tat.
Rings um ihn Schnee und Schatten, die von den größtenteils stillgelegten Kanälen kamen. Ein Licht in der Dunkelheit, das einzige, das Licht von Schutters Bungalow.
Er war also da! Es war also alles gewissermaßen im voraus beendet.
Nachdem der Zug, roten Feuerschein in den Himmel speiend, verschwunden war, marschierte er los. Er war nun nicht mehr weit vom Haus entfernt und ging behutsamer weiter, damit der hartgefrorene Schnee, der hier viel dicker lag als in Amsterdam, nicht knirschte.
Es war so kalt, dass er sich fragte, ob sein Zeigefinger nicht zu klamm wäre, um den Abzug durchzudrücken.
Die Stadt war weit weg: Ihre Lichter verwandelten sich in der Luft in einen gelblichen Lichthof.
Schutter brüstete sich damit, dass er alle Frauen haben konnte! Alice gehörte auch dazu! Alice kam in den Bungalow wie die anderen!
Er konnte sich mühelos davon überzeugen. Man vertraute so sehr auf die einsame Lage, dass man es nicht für nötig hielt, die Jalousien zu schließen.
Kuperus näherte sich geräuschlos, drückte die Stirn an die Scheibe und erblickte seine Frau im Unterrock. Sie trank etwas, während Schutter seine Krawatte band.
Es war ein hübscher Raum. Kein Schlafzimmer, sondern eine Art Atelier mit Fotos von Schutter. Schutter in allen Ländern der Welt und in allen Aufmachungen. Auf einem Tisch Gläser mit Likör.
Alice zog sich wieder an, als habe sie sich dort schon immer angezogen! Sie redete! Er hörte nicht, was sie sagte. Er sah nur die Personen. Der Mann rauchte eine von jenen Zigaretten, die er sich direkt aus Ägypten kommen ließ, womit er gerne prahlte, und die doch nicht besser waren als gewöhnliche holländische Zigaretten.
Die Mappe unterm Arm war ihm lästig, aber Kuperus ließ sie nicht los. Er spürte, dass er sie jetzt nicht loslassen durfte. Er musste ganz und gar er selbst bleiben.
Was sagten sie? Sie plauderten einfach miteinander, ohne Koketterie, wie ein altes Liebespaar. Vor dem Spiegel, der ihr vertraut zu sein schien, legte sie ein wenig Puder auf.
Sie musste ihrem Partner Vorwürfe machen, vielleicht eine Eifersuchtsszene, denn ein bitterer Zug trat auf ihr Gesicht und ein mattes Lächeln auf das des Mannes.
Er steckte seine Perle an seine Krawatte. Er hätte es für entwürdigend gehalten, keine Perle zu tragen.
»Das Geschenk eines Maharadschas …«, hatte er in der Billardakademie gesagt.
Die Bewegungen beschleunigten sich. Alice wollte offensichtlich gehen. Beide gingen auf die Tür zu. Kuperus fror. Er hatte den Handschuh von seiner rechten Hand gezogen, und diese Hand war steif gefroren.
Finsternis. Alle Lampen auf einmal ausgeschaltet. Die Tür, die Schutter sorgfältig wie ein Kleinbürger verschloss, während seine Begleiterin wartete …
War das vielleicht der richtige Moment?
Obwohl er den Finger am Abzug hatte, schoss der Doktor nicht.
Und das Paar ging weg, betrat den Treidelpfad, der seit langem nicht mehr benutzt wurde, denn er führte an einem von Röhricht überwucherten Kanal entlang, auf dem keine Schiffe mehr verkehrten.
Sie gingen untergehakt … Mondschimmer am Himmel …
Kuperus ging hinter ihnen her, holte auf …
Er schoss noch immer nicht. Sein Zeigefinger klebte an dem eiskalten Stahl. Vielleicht hatte er sich schon zu lange mit diesem Gedanken beschäftigt und sich auf alles eingestellt?
Denn er hatte sich darauf vorbereitet, in den Bungalow hineinzugehen, sogar eine Ansprache zu halten …
Zwei Schatten bewegten sich vor ihm … Er war zehn Meter von ihnen entfernt … Es war Alice, die alles Weitere auslöste, die stehen blieb und sich voller Unruhe umwandte. Und um sie zu beruhigen, drehte sich der andere ebenfalls um.
Da schoss Kuperus … Einmal … Zweimal … Noch einmal, weil Schutter nicht ganz hingestürzt, sondern nur in die Knie gesunken war.
Er sagte sich, dass Schutter vielleicht Schmerzen litt, und schoss aus nächster Nähe das Magazin leer, um ihnen ein Ende zu setzen.
Sein Herz klopfte, in der Brust spürte er die Beklemmung, vor der er sich so sehr fürchtete, und er musste mehrere Minuten regungslos bei ihnen verharren, die Hand auf die linke Brustseite gepresst.
Um sich umzubringen, hätte er ein neues Magazin einlegen müssen.
Und dann? …
Ein Gedanke herrschte vor: Schutter war tot!
Ein anderer hatte sich dazwischengedrängt: Wenn Schutter nun tot war, war es dann noch notwendig, dass er selbst auch starb?
Die beiden Leichen lagen nicht weiter als einen Meter vom Schilf des Kanals entfernt. Der Mond war hervorgekommen und strahlte so hell, wie er nur in eisigen Winternächten strahlen kann.
Kuperus atmete mehrmals tief durch, warf seinen Revolver ins Wasser und bereute es sogleich, denn er hatte ihn nicht weit genug geworfen.
Und wenn schon!
Er sah auf die Uhr. Er hatte genug Zeit, um …
Er brauchte nur die beiden Leichen hineinzustoßen. Alice atmete nicht mehr. Sie schien die Augen geschlossen zu haben, vielleicht sah es im Mondlicht auch nur so aus.
Er machte sich ans Werk, damit er es bald hinter sich hatte, und er kicherte beim Gedanken an die Akademie … Und bevor Schutter im Wasser war, zog er ihm die Brieftasche heraus.
Er war betrunken, nach allem, was er getrunken und getan hatte. Doch statt ihn übermäßig zu erregen, flößte ihm die Trunkenheit eine unerwartete Ruhe ein.
Zum Beispiel warf er im Vorübergehen die Brieftasche in einen anderen Kanal, der noch älter und verkommener war als der erste, und er war umsichtig genug, einen Stein in die Brieftasche zu stecken.
Er hatte nur einen Gedanken: Sich ins Café Onder de Linden zu begeben, wo sicher noch vier oder fünf Gäste Billard spielten. Er würde etwas trinken. Er hatte Durst. Er stellte sich ein gewaltiges Bierglas vor, das die Form eines Champagnerkelches hatte.
Er durchquerte einen Außenbezirk. Er dachte nicht an die Zukunft, nicht einmal an den nächsten Tag.
Dann fiel ihm die Fahrkarte ein, die er am Bahnhof von Sneek nicht abgegeben hatte. Das war ihm schon früher passiert. Man wusste so genau, wer aus diesem Zug steigen würde, dass der Beamte manchmal gar nicht auf seinem Posten war; oder aber Kuperus verließ den Bahnhof durch das Restaurant, um keinen Umweg machen zu müssen.
Er aß die Fahrkarte auf!
Er war vollkommen betrunken. Er hätte sich auf der Erde wälzen können. Oder vor Freude schreien. Oder weinen.
Was ihn in die Wirklichkeit zurückrief, war der Rathausplatz mit Schutters Haus und, weiter hinten, den fahlen Lichtern des Onder de Linden.
Er sah auf die Uhr. Er war kaum eine Viertelstunde später dran, als wenn er direkt vom Zug gekommen wäre.
Unter einer Gaslaterne sah er auf seine Hände. Weil Schnee lag, waren sie sauber geblieben.
Er trat ein. Er wusste, welche Atmosphäre von Wärme und Behaglichkeit ihm entgegenschlagen würde. Er wusste, dass der Kellner, der alte Jef, der schon seit dreißig Jahren da war, herbeieilen würde.
»Guten Abend, Herr Doktor.«
»Guten Abend, Jef. Sind die Herren noch da?«
Noch so eine Tradition! Er hörte die Kugeln rollen und aufeinander prallen, aber er fragte stets:
»Sind die Herren noch da?«
Worauf Jef jeweils erwiderte:
»Schönes Wetter in Amsterdam?«
»Es geht nichts über unser Friesland«, hatte er darauf zu antworten.
Und er tat es. Alle Riten wurden eingehalten, wozu auch sein Eintreten in den Billardsaal gehörte, und zwar auf Zehenspitzen, weil der Architekt, in Hemdsärmeln, gerade eine Karambolage vorbereitete.
Stummes Händeschütteln mit den anderen Spielern. Die Karambolage gelang.
»Was macht Amsterdam?«
»So weit gut! Die Kanäle dort sind nicht einmal zugefroren …«
Er erkundigte sich nach dem Spielstand, während er den beiden am Billardtisch stehenden Schiedsrichtern zusah.
»Zählt die Partie für die Meisterschaft?«
»Aber sicher!«
»Ich werde mich ebenfalls anmelden müssen!«, verkündete er.
Er hatte noch nie an einer Meisterschaft teilgenommen. Es war ins Blaue hineingeredet. Er wollte irgendetwas sagen, und es drängte ihn hinzuzufügen:
»Das nächste Mal werde ich mich ernsthaft um den Vorsitz bemühen …«
An einer der Säulen aus dunklem Eichenholz hing die eingerahmte Tafel mit Schutters Namen in Rot und den anderen in Schwarz. Sie waren nur zu fünft in diesem behaglichen, mit polierten Möbeln und tiefen Sesseln eingerichteten Café, wo der Schaum an den Gläsern auf die Bierdeckel hinunterrann.
Pflichtgemäß hatte man ihm sein Bier gebracht, in einem großen Kelch wie dem, von dem er gerade geträumt hatte; er trank ihn in einem Zug aus und murmelte:
»Noch einen …«
»Keine Neuigkeiten?«, fragte er abermals mechanisch.
»Keine …«
Er hatte seine Mappe auf einem Tisch abgelegt. Normalerweise blieb er eine Viertelstunde, bevor er nach Hause ging, in der nahen Straße am alten Kanal.
Vom Kino nebenan war leise Musik zu hören; man hatte deswegen eine Eingabe verfasst, denn sie störte manche Spieler.
Plötzlich lächelte Kuperus in sich hinein. Ihm fiel ein, dass niemand sich darüber gewundert hatte, ihn an einem Dienstag statt am Mittwoch zu sehen. Denn am ersten Dienstag im Monat konnte er ja gar nicht hier sein!
Er hatte sie hinters Licht geführt! Man hatte ihn gesehen und dabei gedacht:
›Mittwoch!‹
Er trank das zweite Glas und verlangte einen Genever.
»Ich habe Neuralgien …«, rechtfertigte er sich.
Warum sich in die grausame Wirklichkeit zurückstoßen lassen? Es war besser, sich vorzustellen, dass er gleich nach Hause zurückkehren und seine Frau dort nicht antreffen würde. Das Dienstmädchen Neel würde ihm aufmachen.
Im Nachthemd! Das war fast sicher, denn da sie ihn nicht erwartete, hatte sie sich um diese Zeit längst hingelegt.
Er hatte sie schon im Nachthemd gesehen. Angefasst hatte er sie noch nie, wegen der möglichen Komplikationen …
Aber jetzt?
Vielleicht am nächsten, jedenfalls aber am übernächsten Tag würde man ihn sowieso verhaften! Er hatte nichts zu verlieren!
›Heute Nacht wird es geschehen‹, nahm er sich vor.
Und er dachte so heftig daran, dass er fürchtete, halblaut gedacht zu haben.
»Kuperus! …«, rief jemand.
Er sollte bei einem verwickelten Coup den Schiedsrichter spielen. Tröge voll warmer Asche unter den Billardtischen sorgten dafür, dass das Holz nicht arbeitete.
»Kees behauptet, sein Partner hätte …«
Er hatte das Spiel nicht verfolgt. Er ließ sich das Vergnügen nicht entgehen, die vorgelegte Frage gegen den gesunden Menschenverstand zu entscheiden. Außerdem war Kees ein Freund Schutters!
»Kees hat unrecht … Ich komme oft genug nach Amsterdam, und dort würde man sich über einen Coup wie diesen hier gar nicht erst streiten.«
Kees hatte unrecht und fiel in der Meisterschaft um drei Plätze zurück.
Das war ein erster Sieg!
»Gute Nacht … Meine Frau wird sich schon Gedanken machen …«, gelang ihm zu behaupten.
Sie alle waren derart behext, dass sie weiterhin glaubten, es sei Mittwoch und seine Frau warte tatsächlich auf ihn …
Während Doktor Kuperus draußen die Zugbrücke überquerte, dachte er nur noch daran, wie Neel ihm die Tür öffnen würde, im Nachthemd, den braunen Mantel über die Schultern geworfen und ganz sicher barfuß!