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Kuperus hatte schon erlebt, an Bord eines Schiffes zu erwachen, unter anderem während einer Kreuzfahrt nach Spitzbergen, und beim ersten Mal hatte er, als er seine Augen öffnete, das Gefühl der Orientierungslosigkeit genossen, hatte sich immer wieder gesagt, dass er sich auf hoher See befand und an Bord eines Linienschiffes dem Eismeer entgegenfuhr.

Was sollte er von dem jetzigen Abenteuer halten? Es musste sieben Uhr sein, denn es wurde allmählich hell, und man hörte schon die Arbeitslosen Schnee von den Gehsteigen schippen. Kuperus schlug die Augen nicht ganz auf: Gerade so viel, um das vertraute Grau in Grau des Zimmers, seines Zimmers, in sich aufzunehmen.

Er hörte ganz nah bei sich ein Atmen. Jemand schlief, und dieser Jemand war nicht Alice Kuperus, sondern Neel, das Dienstmädchen! Es war Neels warmes Bein, das sein Bein berührte!

Was war nur aus seiner Welt geworden? Von nun an konnte Kuperus jeden Tag und jede Nacht Neel bei sich haben, oder jedes Mal eine andere Neel …

Er fragte sich, was sie tun würde. Würde sie die Gelegenheit nutzen und sich einen ausgedehnten Vormittagsschlaf gönnen? Oder würde sie sich wie gewöhnlich verhalten?

Ihr Atemrhythmus änderte sich; sie stieß einen Seufzer aus, streckte einen Arm aus und machte Bewegungen, als wollte sie sich noch tiefer in die Decken verkriechen, doch bald streckte sie das eine Bein aus dem Bett, dann das andere.

Sicher bewegte sie sich nicht anders als sonst, wenn sie in ihrer Mansarde erwachte. Sie wirkte unausgeschlafen mit ihren trüben Augen und ihrem trägen Fleisch. Sie sah Kuperus an, der sich schlafend stellte, setzte sich auf den Bettrand, begann ihre Strümpfe und einen Hüftgürtel anzuziehen.

Ohne sich zu waschen, ging sie schließlich hinaus, und er hörte, wie sie in der Küche Feuer machte und dann den Kaffee zubereitete.

Alice Kuperus, sie war ein für alle Mal tot! Schutter war tot!

Wusste Neel von ihrem Verhältnis? Als er am Vorabend nach Hause gekommen war, hatte er sie, und er staunte selbst, wie gut er diese Komödie spielte, gefragt:

»Ist Frau Doktor schon zu Bett gegangen?«

Denn er musste annehmen, dass seine Frau zu Hause in ihrem Bett war!

»Frau Doktor ist nicht da«, hatte das Dienstmädchen geantwortet.

»Was heißt das, ist nicht da?«

»Ich glaube, sie hat ein Telegramm aus Leeuwarden bekommen … Ihre Tante ist sehr krank …«

»Wann kommt sie zurück?«

»Frau Doktor hat gesagt, morgen sei sie wieder zurück …«

Und er wusste, dass sie nicht zurückkäme! Und Neel ahnte vielleicht bloß bei seinem Anblick, was nun auf sie zukommen würde! Der Beweis war, dass sie leise sagte:

»Darf ich wieder nach oben gehen?«

»Bring mir erst noch eine Tasse Tee in mein Zimmer …«

Wenn man bedenkt, dass sie schon drei Jahre da war und dass er jedes Mal, wenn er allein mit ihr war, Anfälle von Begierde erlebte, und dass er es niemals gewagt hatte, sie anzufassen! Er war überzeugt, dass sie prüde, ja, unerfahren war!

»Geh nicht gleich wieder weg …«, flüsterte er, als sie den Tee auf den Nachttisch stellte. »Komm her … Du brauchst keine Angst zu haben …«

»Oh! Ich habe keine Angst …«

O nein! Sie erlebte das nicht zum ersten Mal. Er aber war nervös, nicht nur ihretwegen, sondern wegen allem. Er hatte Grund zur Nervosität. Sie äußerte sich in einer Art Liebesfieber, und Neel hatte etwas Unerwartetes, Unglaubliches gesagt:

»Wie leidenschaftlich Sie sein können!«

Die Tür ging endlich auf. Neel stellte das Tablett mit dem Frühstück auf dem Nachttisch ab, zog die Vorhänge zurück und gab dabei den Blick auf schwarze Äste vor einem Schneehimmel frei. Sie hatte Zeit gefunden, sich ordentlich anzuziehen, ihre Haare waren gekämmt, sie trug eine saubere Schürze, und ihre rosigen Arme dufteten nach Seife.

Doktor Kuperus hätte nicht zu sagen vermocht, ob sie ein hübsches Mädchen war. Sie hatte die breiten Backenknochen einer Bäuerin, und ihre Züge waren unregelmäßig. Ihr Körper besaß gewiss keine akademischen Proportionen, ihr Fleisch aber war so üppig und fest, dass er sie auch jetzt noch lüstern betrachtete.

»Neel, wie viel Uhr ist es?«

»Acht Uhr, Herr Doktor.«

Sie hatte das im gleichen Ton wie an anderen Tagen gesagt, und das beruhigte ihn.

»Hat es Frost gegeben?«

»Nein, aber wir werden Schnee bekommen. Welchen Anzug wird Herr Doktor anziehen?«

»Den schwarzen … Sagen Sie mal, Neel …«

Manchmal duzte er sie, manchmal siezte er sie.

»Herr Doktor?«

»Finden Sie es nicht etwas komisch, in meinem Bett zu schlafen?«

»Weshalb, Herr Doktor?«

»Haben Sie vor mir schon viele Liebhaber gehabt? Hören Sie, Neel … Ich möchte gerne wissen, wann Sie damit angefangen haben, in welchem Alter …«

»Mit fünfzehn, als ich Kindermädchen in Amsterdam war …«

»Und seitdem?«

»Seitdem …«

Sie sagte das mit einem Ausdruck, der bedeutete, dass das alles so unwichtig war!

Er rasierte sich und zog sich an, und in seinen Gedanken mischte sich Neel unter seine Sorgen. Er betrachtete sich aufmerksamer als sonst im Spiegel und fand sich ein wenig aufgedunsen. Es war nicht das erste Mal. An manchen Tagen war sein Fleisch weicher, und das machte ihm jedes Mal Angst.

Was würde jetzt auf ihn zukommen? Er sah den Kanal unter seinem Fenster und die kahlen Bäume. Die Glocke ertönte, und er schloss aus verschiedenen Geräuschen, dass man die ersten Patienten ins Wartezimmer einließ.

Vor allem musste er sich weiterhin über die Abwesenheit seiner Frau wundern und bei der Polizei in ein oder zwei Tagen eine Vermisstenanzeige aufgeben! Das war leicht, er hatte es gerade bei Neel erlebt. Er, der früher nie lügen konnte, fühlte sich in seiner Rolle sehr wohl.

Was konnte ihn schon verraten? Niemand hatte ihn gesehen. Wie sollte man darauf kommen, dass er aus dem fahrenden Zug ausgestiegen war?

Er verließ sein Zimmer und betrat den Salon. Er musste beinahe lächeln, denn dieser Salon hatte seine Geschichte. Vor etwas mehr als einem Jahr hatte Alice erklärt, der Salon sei nicht mehr modern genug. Sie hatte sich aus Amsterdam und Den Haag Kataloge kommen lassen. Ihr Mann wollte lange nicht anbeißen, denn es war eine unnötige Ausgabe, und ihr alter Salon konnte sich durchaus noch sehen lassen.

Dann hatte er sich entschieden.

»Du bekommst deinen Salon …«

Drei Tage danach hatte er den anonymen Brief erhalten! In dem Augenblick, als seine Frau ganze Tage damit verbrachte, Stöße von Mustern für die Tapeten, die Tischdecke und den Spannteppich durchzublättern …

Er betrat seine Praxis und öffnete die Tür zum Wartezimmer, wo schon fünf Personen saßen. Bald würden es zwanzig sein, denn er machte Behandlungen für einen Gulden. Er hatte seinen weißen Kittel übergezogen. Er war auf dem Posten, beherrscht und würdig wie immer. Er sah sich buchstäblich selbst. Er war mit sich zufrieden.

Eine Frau brachte einen Jungen mit Schorf im Gesicht herein, und er nahm einen Rezeptblock, um eine Salbe zu verschreiben. In diesem Augenblick erbleichte er und fühlte von neuem die Beklemmung in seiner Brust.

Jemand wusste Bescheid! Er hatte an alles gedacht, nur an dies nicht! Jemand wusste Bescheid oder könnte jedenfalls Bescheid wissen! Wie hatte er diesen Punkt nur übersehen können?

Das Schlimmste war, dass er überhaupt nicht wusste, wer dieser Mann (oder diese Frau) war. Es handelte sich um die Person, die den anonymen Brief geschrieben hatte!

Diese würde alles begreifen, sobald sie von dem doppelten Verbrechen erfuhr.

Wer war es nur? Einer seiner Freunde des Onder de Linden? Warum nicht Neel, die über alles auf dem Laufenden war?

Wo hatte er bloß seinen Kopf gehabt? Er erschrak. Neel war natürlich über alles auf dem Laufenden, da sie Alice Kuperus jedes Mal weggehen sah, wenn der Doktor nach Amsterdam fuhr! Sie hatte nie etwas gesagt!

Alice musste ihr Schweigen erkauft haben …

Die Formel für die Salbe fiel ihm nicht mehr ein. Einen Augenblick lang fragte er sich, was das Kind mit dem Schorf bei ihm überhaupt zu suchen habe. Schließlich seufzte er, schrieb, öffnete die Tür für den Nächsten, einen alten Mann, der an Zwischenrippenneuralgien litt.

Hatte Neel den anonymen Brief geschrieben? …

Er hatte sich nicht geirrt: Am Vormittag waren zweiundzwanzig Patienten da, und um elf Uhr unterbrach er wie immer die Sprechstunde, um eine Tasse Tee zu trinken und ein Butterbrot zu essen.

Beides wurde ihm ins Esszimmer gebracht, das nach Bohnerwachs roch, denn es war der Tag, an dem das Parkett gebohnert wurde. Etwas trieb ihn, in der Küche herumzustreichen und sich bei dem Dienstmädchen herumzudrücken.

»Möchten Sie etwas?«, fragte sie.

Das Merkwürdigste war, dass er sie immer noch begehrte. Er fragte nur:

»Frau Doktor ist noch nicht zurückgekommen?«

»Nein … das wundert mich …«

So musste er bis fünf Uhr durchhalten, denn dann konnte er ins Café gehen, wo er seine Freunde treffen und wo man sicher über Schutter sprechen würde.

Er aß allein zu Mittag. Im Spiegel beobachtete er Neel.

»Hat es dir Spaß gemacht heute Nacht?«

»Warum fragen Sie?«

»Möchtest du wieder?«

»Sie wissen doch genau, dass Frau Doktor zurückkommt … Ich glaube, wenn sie wüsste …«

Was könnte es ihm nach all dem noch ausmachen, ins Gefängnis zu gehen? Er kannte den Richter, Antoine Groven. Auch er war Billardspieler, allerdings ein schlechter, denn er war kurzsichtig. Er würde am einen Ende des Tisches sitzen, Kuperus und sein Anwalt am anderen. Ob ihn der Richter auch dann noch Hans nennen würde?

Er nahm seine Arzttasche und zog seinen Pelz an, um in der Stadt Krankenbesuche zu machen. Auf dem großen Kanal lagen Dutzende von Schiffen eng beieinander und miteinander vertäut, das Beben ihrer Schwerölmotoren erfüllte die Luft. Es war Viehmarkt, und man lud die Tiere aus, die auf den Kanälen vom Land in die Stadt transportiert worden waren.

Kuperus musste den Rathausplatz überqueren. Er warf einen Blick auf Schutters Haus. Keiner außer dem Rechtsanwalt leistete sich einen Diener mit gestreifter Weste und einen Butler, der ihn im Frack und mit weißen Handschuhen bediente!

Kuperus begnügte sich mit Neel und einer Putzfrau, die zweimal in der Woche kam.

Und wenn die Putzfrau den anonymen Brief geschrieben hatte? Er hatte sie sich nie richtig angesehen. Er kannte sie eigentlich nicht. In seinen Augen war sie eine ziemlich hässliche, kleine, einfältige Frau, ein Haufen schwarzer Röcke mit ewig wirrem Haar …

… Ein Scharlachfall … Anderswo kündigte sich eine Entbindung an, bestimmt etwas für den nächsten Tag, vielleicht auch für die Nacht? … Im Dezember hatte man ihn genau sechsundzwanzigmal nachts zu einer Entbindung gerufen!

Als er um fünf Uhr endlich ins Café trat, war er erschöpft, aber ohne ersichtlichen Grund. Denn er hatte nicht mehr Konsultationen und Krankenbesuche als an anderen Tagen hinter sich. Nur war in ihm so etwas wie ein Uhrwerk, das zu schnell lief.

Er stellte die Arzttasche in die gewohnte Ecke. Der alte Jef nahm ihm den Pelz ab. Er drückte Pijpekamp, Van Malderen und de Loos die Hand.

»In diesem Winter wird man gar nicht Schlittschuh laufen können«, sagte Van Malderen, der Rechtsanwalt. »In der einen Nacht friert es, und gleich darauf taut es wieder …«

In dem ruhigen Raum gab es eine Uhr, die auf Kuperus schon immer großen Eindruck gemacht hatte. Sie war sehr hoch. Das Zifferblatt, eine blassgraue Scheibe mit römischen Ziffern, hatte nichts Auffallendes. Aber da war noch das Pendel, ein gewaltiges kupfernes Pendel, auf dem sich immer ein leuchtender Widerschein zeigte, und wenn man dieses Pendel ansah, schien es, als seien dort, aber nur dort, die Sekunden länger als anderswo.

Daran war im Übrigen etwas Wahres. Es war mild. Der Rathausplatz mit seinen kleinen holprigen Pflastersteinen war bis auf zwei oder drei Gestalten menschenleer, so wie man es auf Landschaftsbildern in Museen sieht. Vom Rathaus war der gotische Turm mit seinen goldenen Ecktürmchen zu erkennen.

Und Jef schritt auf einem Parkett, das glatter war als jedes andere. Die Tische waren poliert. Für die Gläser gab es kleine Pappuntersetzer. Alles glänzte. Alles lebte in einer zufriedenen Stille, auch Loos, der Wirt, der sich, wenn er keine Gäste hatte, an dem viereckigen Ofen niederließ, seine Brille aufsetzte und stundenlang im Telegraaf las.

Drei oder vier Männer konnten stumm beieinander sitzen. Nur ab und zu wurde ein Satz gesprochen. Es wurde geraucht. Manche, wie Van Malderen, hatten ihre Pfeife im Pfeifenständer und ihre Tabakdose hinter der Theke. Doch der Geruch von Zigarren herrschte vor, vermischt mit Geneverdunst.

»Schutter ist nicht gekommen?«

Das hatte Kuperus gesagt und sich dabei eine Pfeife angezündet. Durch den Glimmer sah er ins Feuer. Über dem großen, für Wettkämpfe benutzten Billardtisch mit seinen kunstvoll geformten Füßen brannten schon die Lampen.

»Seit gestern hat er sich nicht blicken lassen …«

Loos stocherte im Feuer herum und redete ohne Eile weiter, währenddessen er in kurzen Zügen weiterrauchte.

»Das Merkwürdige dabei ist, dass sein Butler gerade hier war und mich fragte, ob wir nichts von ihm wüssten …«

Van Malderen blinzelte. Er war derjenige in der Gruppe, der die meisten Witze auf Lager hatte, und er erzählte sie immer auf eine unheilschwangere Weise, die gut zu seiner Persönlichkeit passte. Denn er war mager und farblos, er kleidete sich absichtlich wie ein protestantischer Pastor.

»Schon wieder eine Frau …«, seufzte er. »Ich für mein Teil kann da ganz ruhig sein. Frau Van Malderen ist so hässlich, dass man mir nie Hörner aufsetzen wird …«

Und das stimmte! Und er war davon entzückt!

»Wer spielt eine Partie mit mir?«, schlug Kuperus vor.

»Um was spielst du?«

»Einen Gulden …«

Van Malderen nahm die Herausforderung an, beide zogen ihre Jacketts aus und schlangen Gummibänder um ihre Hemdsärmel. Jeder hatte sein eigenes Queue, das im Ständer festgeschlossen war.

»Zweihundert Punkte!«

Etwa in der Mitte des Spiels kamen zwei oder drei Kameraden dazu, darunter der Tabakhändler, der im Nachbarhaus wohnte und der sich einen Spaß daraus machte, einem bei der Begrüßung eine Zigarre in die Hand zu drücken.

»Probier die mal …«

Kuperus gewann. Eine Sechzigerserie für den Anfang … In einem großen Spiegel sah er sich spielen, und er konnte keine Bewegung machen, ohne sich dabei zu betrachten.

Sich vorzustellen, dass er Schutter getötet hatte! An seine Frau dachte er weniger. Das war fast weniger schlimm. Und vor allem hatte es nur auf sein eigenes Leben Auswirkungen!

Während Schutter! … Über ihn wurde gerade gesprochen, als man die Punkte zählte.

»Der Bürgermeister hat mir gesagt, dass er sich in einem halben Jahr bei den Wahlen aufstellen lassen will …«

»Auf welcher Liste?«

»Auf der fortschrittlichen, natürlich!«

Denn um sie zu ärgern, oder aus Snobismus, trug Schutter, der von einem Butler in weißen Handschuhen bedient wurde, revolutionäre Ansichten zur Schau.

So war er eben!

»Er ist ein Schwätzer …«, stieß Kuperus hervor und beugte sich über den Billardtisch.

Er dachte: ›Er war ein Schwätzer!‹

»Er ist ein außerordentlich intelligenter Mensch … Er macht, was er will … Was er auch anpackt, gelingt ihm … Wenn er kandidiert, wird er auch gewählt …«

»Ich wette, dass er nicht gewählt wird!«

Das war immer noch die Stimme von Kuperus, der eine neue Serie begann und gleichzeitig rechnete.

»Ich denke doch, dass er Chancen hat … Der jetzige Abgeordnete ist zweiundsiebzig …«

»Und Schutter?«

»Er ist so alt wie ich …«

Wieder Kuperus! Er konnte nicht anders. Und während er sprach, warf er einen Blick in den Spiegel, um seine Physiognomie zu studieren.

Es war großartig! Er war bestens in Form! Die Schwellung vom Morgen war verschwunden. In den Mundwinkeln hatte er etwas wie den Schatten eines Lächelns, aber eines so undeutlichen Lächelns, dass nur er allein es wahrnehmen konnte.

»Vierundvierzig?«

»Sechsundvierzig …«

»Er sieht jünger aus … Er pflegt sich freilich auch …«

»Schon im Gymnasium«, behauptete Kuperus, »polierte er sich die Fingernägel und nahm täglich ein Bad …«

Es war so weit! Zweihundert Punkte! Er hatte gewonnen und steckte den Silbergulden ein, den Van Malderen aus seinem Geldbeutel zog und dabei den Geizkragen spielte.

»Ich werde etwas erfinden müssen, um meiner Frau diese enorme Ausgabe zu erklären«, seufzte der Anwalt.

Es machte ihm Spaß, Theater zu spielen, denn jedermann wusste, dass seine Frau niemals wagen würde, ihm Vorhaltungen zu machen.

»Ich weiß gar nicht, wo meine Frau steckt«, riskierte Kuperus zu sagen. »Das Dienstmädchen hat mir gesagt, dass sie ein Telegramm von einer Tante aus Leeuwarden erhalten hat und weggefahren ist …«

Und Van Malderen antwortete:

»Du Glücklicher!«

Ihm wäre der anonyme Brief zuzutrauen gewesen! Kuperus hätte ihn aufbewahren sollen. Er hatte ihn in winzige Schnipsel zerrissen, die er dann verbrannte. Ja, Van Malderen war dazu fähig, allein um sich selber zu amüsieren. Und in diesem Fall würde er den Mund nicht aufmachen. Er wäre zufrieden, wenn er seine Überlegenheit genießen und dabei vielleicht ein paar zweideutige Sätze loswerden könnte wie vorhin sein ›Du Glücklicher!‹.

Die Tür ging auf, und die Männer sahen sich auf eine eigentümliche Weise an, denn eine junge Frau kam herein, nahm hinten im Saal Platz, ohne sich an dem Rauch zu stören, der um die Lampen zog, und bestellte einen Likör.

»Kann man hier essen?«, fragte sie.

Jef bejahte, doch fast bedauernd. Die junge Frau war blond, blondiert, und sie war angezogen, wie sich keine Frau in Sneek jemals angezogen hätte. Ihre Lippen waren geschminkt. Ihre Absätze waren so hoch, dass man sich fragte, wie sie damit überhaupt gehen konnte. Der Gipfel war, dass sie ein goldenes Etui aus ihrer Handtasche herauszog und sich eine Zigarette anzündete.

Dass sie aus Amsterdam kam, war offensichtlich. Belustigt und ohne die geringste Scheu schaute sie sich in dem Café um, in dem alles für Männer hergerichtet war, genauer gesagt, für echte Sneeker Bürger.

»Sagen Sie, garçon …«

Mit der Serviette über dem Arm eilte Jef herbei.

»Wissen Sie, wo der Graf de Schutter wohnt?«

»Der Graf?«, stotterte Jef. »Sie meinen bestimmt Frau Cornelius de Schutter?«

»Ja, so heißt er.«

Alle hörten hin. Nur noch das Bullern des Ofens war zu vernehmen.

»Er wohnt hundert Meter von hier neben dem Rathaus.«

»Kann man ihn anrufen?«

»Zu Fuß sind Sie schneller.«

»Danach habe ich Sie nicht gefragt. Ich frage, ob er Telefon hat.«

»Sicher … Die Hundertdreiunddreißig …«

»Wo ist die Kabine?«

»Links vom Waschraum …«

Sie stand auf, klopfte die Asche von ihrer Zigarette und durchquerte das Café, ohne sich um die lauernden Blicke zu kümmern, die ihr folgten. Nachdem sich die Tür der Kabine geschlossen hatte, hörte man es leise klingeln und dann klicken, dann waren unverständliche Silben zu vernehmen.

Die Männer sahen sich an. Van Malderen gab Jef einen Wink, neue Getränke zu bringen.

»Noch so eine!«, seufzte Loos.

Und Van Malderen flüsterte:

»Vielleicht ist er vorsichtshalber weggefahren, weil er wusste, dass sie ihm nachsteigen würde …«

Die junge Frau kam aus der Kabine und wandte sich wieder an Jef.

»Haben Sie Zimmer?«

»Nein, gnädige Frau. Das hier ist kein Hotel. Ich kann Ihnen aber ein Zimmer im Hôtel de la Gare reservieren lassen … Es ist sehr gut … Mit fließend Wasser …«

»Bringen Sie mir noch einen Cherry-Brandy …«

Sie war bekümmert. Drei junge Männer traten ein, um Billard zu spielen, aber sie gehörten nicht zum Zirkel. Es waren Angestellte, der Älteste von ihnen keine fünfundzwanzig Jahre alt, und sie konnten es nicht lassen, die ganze Zeit zu reden und zu lachen.

»Garçon!«

»Ja, gnädige Frau …«

»Kommt der Graf de Schutter oft hierher?«

»Jeden Tag, gnädige Frau.«

»Hat er niemandem gesagt, dass er verreisen wollte?«

»Nein, gnädige Frau.«

Loos stand auf, weil er meinte, es sei Sache des Patrons persönlich, hier die Antworten zu geben.

»Gestern um drei Uhr war er noch hier …«, sagte er. »Ich bin sehr verwundert, ihn heute nicht zu sehen, und sein Butler macht sich auch schon Sorgen …«

Kuperus war ganz steif. Seine Schuhe stießen an den Ofen. Er hatte eine Zigarre angezündet, die ihm der Tabakhändler gegeben hatte. Er kniff die Augen zusammen, um sich diese extravagante Frau näher anzusehen.

Dabei stellte er fest, dass sie in ihm keinerlei Verlangen weckte. Und dennoch war sie schön. War das nicht merkwürdig? Die schlechtgekleidete, schlechtfrisierte Neel mit ihrer plumpen Figur trieb ihm die Hitze in die Backen. Gerade jetzt dachte er wieder an sie. Wegen ihr gab es sogar ein Problem.

Sollte er es wagen, sie auch diese Nacht in seinem Bett schlafen zu lassen? Das war nicht so einfach, wie es aussah! Denn im Grunde hatte er immer noch seine Frau zu erwarten. Er musste den Eindruck erwecken, als warte er auf sie. Er musste sich Sorgen machen. Vielleicht fing er etwas spät damit an?

»Jef! Sieh im Telefonbuch nach, ob Frau Costens in Leeuwarden einen Anschluss hat.«

Frau Costens war die berühmte kranke Tante. Logischerweise musste er sie anrufen.

Er hatte sie nur zweimal gesehen. Es war eine dicke, ziemlich ordinäre Frau, die Alice nicht gerne erwähnte, denn sie besaß ein Fischgeschäft.

In einem Fischgeschäft gab es selbstverständlich Telefon! Jef blätterte in dem dicken Buch. Kuperus zog an seiner Zigarre, dachte an seine Frau und schaute dabei die fremde Blonde an.

Zwischen ihnen gab es eine Verbindung: Schutter! In welcher Geistesverwirrung hatte Schutter ein Auge auf Alice Kuperus geworfen? Fand er sie aufregend?

Und sie, wie hatte vor allem sie es fertiggebracht, sich in ein Abenteuer zu stürzen? Wenn man darüber nachdachte, verstand man überhaupt nichts mehr. Es entsprach dieser Frau überhaupt nicht, derart aus der Reihe zu tanzen.

Sie ähnelte einem Bonbon. Sie roch nach Zucker. Sie ernährte sich von Patisserie, und ihre Haut war rosig wie Marzipan. Sie war imstande, eine Woche lang mit Mustern zu spielen, um schließlich einen kleinen Tischläufer zu kaufen!

Und eine bestimmte Schokoladenmarke aß sie nur deshalb, weil jede Packung Bildchen enthielt, einfache Farbabbildungen aller Blumen der Welt, die sie in ein Album klebte!

»Ist es die Fischhandlung?«, fragte Jef. »Soll ich sie verlangen?«

»Ja!«

Die jungen Leute machten zu viel Lärm. Van Malderen seufzte auf, während er die fremde Frau betrachtete.

»Als Junggeselle muss man sich wunderbar fühlen … Ich bin nie einer gewesen …«

»Außer vor deiner Hochzeit …«

»Entschuldigung! Meine Mutter war eine fromme Frau, und sie hatte sich in den Kopf gesetzt, mich für meine künftige Gattin rein zu erhalten …«

»Ist es ihr gelungen?«

»Zu drei Vierteln …«

»Frau Costens ist am Apparat!«

Einen Augenblick später sagte er:

»Sind Sie es, Tante? Geht es Ihnen besser? Was sagen Sie? Meine Frau ist nicht bei Ihnen?«

Nur für sich spielte er Theater, denn er war allein in der ausgepolsterten Kabine. Er simulierte Erstaunen und Furcht. Als er die Kabine verließ, hatte er die Augen weit aufgerissen.

»Meine Freunde … Jef! Bring mir ein Glas Genever …«

»Was hast du denn?«

»Meine Freunde … Was mir passieren muss …«

Er senkte die Stimme.

»Meine Frau sollte in Leeuwarden sein … Dort ist sie aber nicht …«

Er stürzte den Genever in einem Zug hinunter und betrachtete sich im Spiegel.

»Das Dienstmädchen hat es sicher falsch ausgerichtet …«, brachte Loos vor. »Es handelt sich um eine andere Tante!«

»Wir haben keine andere Tante!«

Van Malderen sah mit einem merkwürdigen Blick auf seine Schuhspitzen.

»Entschuldigt mich … Ich muss jetzt allein sein und nachdenken …«

Kuperus ging mit glaubhaft verstörtem Blick hinaus und behielt diesen Ausdruck bis zur Ecke des Platzes bei, doch dann war sein Gesicht auf einmal ausdruckslos.

Was hätte sein Gesicht schon ausdrücken können? Er wusste nicht mehr weiter. Er hatte das Notwendige getan. Aber jetzt? Es war zweifellos zu früh, zur Polizei zu gehen. Zu Hause würde er Neel vorfinden …

Er fand auch das Esszimmer vor, wo eine mit rosa Seide bespannte Lampe über dem Tisch hing und alles in ein weiches rosa Licht tauchte.

»Ist Frau Doktor zurückgekommen?«

»Nein, Herr Doktor.«

»Hat niemand angerufen?«

»Doch, aber nur um den Herrn Doktor zu bitten, so bald wie möglich bei Meeus vorbeizuschauen. Dem Patienten geht es anscheinend schlechter …«

»Neel …«

»Ja.«

»Schauen Sie mir in die Augen, Neel! … Frau Doktor ist nicht zu ihrer Tante gefahren … Sie wussten es, nicht wahr?«

»Ja, Herr Doktor.«

Ganz einfach! Und sie sah ihm dabei in die Augen, wie er es verlangt hatte.

»Wohin ist sie gegangen?«

»Ich weiß es nicht, Herr Doktor. Sie hat es mir nicht gesagt.«

»Und Sie haben keine Vermutung?«

»Nein, Herr Doktor.«

»Komm her.«

Er aß. Sie trug eine weiße Schürze. Er legte ihr den Arm um die Taille.

»Hast du mich ein bisschen gern, Neel?«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Hat es dir Spaß gemacht, letzte Nacht?«

»Schon wieder diese Frage!«

»Möchtest du noch einmal?«

»Und wenn Frau Doktor nach Hause kommt?«

»Macht es denn Frau Doktor nicht genauso? Hm? Jetzt kannst du mir ruhig antworten …«

»Ja, sicher!«

»Du hast es gewusst?«

»Ja, sicher!«

»Und was hast du dabei gedacht?«

»Ich dachte, es ist erbärmlich, dass eine Frau, die alles hat, was sie sich wünscht …«

Ihr Blick schweifte ganz ungezwungen über die bequemen Möbel und den schön gedeckten Tisch.

»Sprich weiter …«

»Ich dachte, dass es nicht nötig wäre …«

»Was nötig wäre?«

»Herrn Doktor zu hintergehen …«

»Setz dich hierher.«

»Ich?«

»Ja, du! Iss mit mir …«

»Lieber nicht!«

»Weshalb nicht?«

»Weil sich das nicht gehört.«

»Du hast doch schon in meinem Bett geschlafen!«

»Das ist nicht dasselbe … Im Übrigen habe ich noch in der Küche zu tun … Sie sind mir hoffentlich nicht böse?«

Nachdem er allein war, betrachtete er sich im Spiegel. Ihm war heiß. Er hatte Angst. Er hatte Angst, ohne genau zu wissen, wovor. Nicht einmal Angst vor dem Gefängnis. Nein! Eine unbestimmte Angst, die gleiche Beklemmung, die ihm manchmal die Brust zusammenschnürte.

Er aß schnell und ohne Appetit und öffnete dann die Tür zur Küche.

»Bist du immer noch nicht fertig?«

»Ich muss noch abwaschen …«

»Das machst du morgen … Komm …«

Es war ein Bedürfnis! Nicht allein zu sein!

»Und wenn Frau Doktor zurückkommt?«

»Sie kommt nicht zurück, basta!«

Und wenn schon! Er sollte das nicht sagen, doch er sagte es mit voller Absicht.

»Komm, mein dickes Mädchen …«

Ach, ja! Es war schlimmer als auf dem Schiff bei Spitzbergen! Das ganze Haus mit seinen dunklen Zimmern und einer einzigen Lampe über dem Nachttisch schwamm in einer unbekannten, zusammenhanglosen Welt, von der sich Neels rosa Hemd abhob, während sie, nach vorn gebeugt und mit den Haaren im Gesicht, ihre Strümpfe auszog.

Und wohin schwamm das alles?

Neels Mund schmeckte wie Alices Mund nach Schokolade! Nach der gleichen Schokolade mit den Bildchen!

Der Mörder

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