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Wenn wir Fische im Wasser beobachten und die Wasserschicht zwischen ihnen und uns jeden Kontakt verhindert, dann sehen wir sie oft lange und ohne ersichtlichen Grund reglos an einer Stelle schweben, bis plötzlich ein leises Zittern durch ihre Flossen geht und sie ein Stück weiterziehen, nur um dort erneut zu verharren.

Auf ähnliche Weise ruhig und scheinbar ebenso grundlos fuhr die Straßenbahn der Linie 13, die letzte Bastille-Créteil, mit ihren gelben Scheinwerfern den ganzen Quai des Carrières entlang. An einer Ecke, vor einer grünen Gaslaterne, schien es, als würde sie anhalten, doch der Schaffner zog an der Glocke, und sie fuhr unverzüglich weiter in Richtung Charenton.

Zurück blieb der Quai, stumm und unbewegt wie eine Landschaft unter Wasser. Zur Rechten im Kanal lagen Kähne, schwimmend im Mondlicht. Durch ein nicht ganz geschlossenes Schleusentor sickerte ein dünner Wasserstrahl. Es war das einzige Geräusch unter dem Himmel, der tiefer und stiller war als ein See.

Zwei Bistros waren noch erleuchtet. Sie lagen einander gegenüber, jedes an seiner Straßenecke. In dem einen spielten fünf Männer bedächtig und schweigend Karten. Drei von ihnen trugen Schiffer- oder Lotsenmützen. Der Wirt saß in Hemdsärmeln am Tisch dabei.

In dem anderen Lokal wurde nicht gespielt. Dort hielten sich nur drei Männer auf. Sie saßen um einen Tisch und stierten nachdenklich in ihre kleinen Schnapsgläser. Die Beleuchtung war grau und schummrig. Der Wirt, mit schwarzem Schnurrbart und blauer Strickjacke, gähnte von Zeit zu Zeit, streckte den Arm aus und griff nach seinem Glas.

Ihm gegenüber saß ein kleiner Mann, überwuchert von blonden Haarstoppeln wie von dreckigem Stroh. Er wirkte traurig oder schläfrig, vielleicht betrunken. Seine hellen Augen waren wässrig und trüb, und manchmal wiegte er den Kopf, als wollte er in einem inneren Gespräch jemandem beipflichten, während sein Nachbar, auch er ein Mann vom Kanal, den Blick nach draußen in die Nacht wandern ließ.

Die Zeit verstrich lautlos. Nicht einmal das Ticken einer Uhr war zu hören. Hinter dem Bistro befand sich eine Reihe Holzhütten, umgeben von kleinen Gärten, aber alle Lichter waren erloschen. Dann kam die Nummer 8, ein sechsstöckiges Haus, alleinstehend, alt und verrußt, für seine Höhe zu schmal. Im ersten Stock sickerte ein wenig Licht durch die Fensterläden, im zweiten, wo es keine gab, bildete die cremefarbene Jalousie ein helles Rechteck.

Gegenüber schließlich, am Ufer des Kanals, Steinhaufen, Sand, ein Kran, leere Kippwagen.

Und doch lag ein Zittern von Musik in der Luft. Schwer zu sagen, woher sie kam. Von weiter hinten als der Nummer 8, aus einer etwas tiefer liegenden Holzbaracke mit der Aufschrift Bal.

Aber niemand tanzte. Es war überhaupt niemand da, außer der dicken Wirtin, die ihre Zeitung las und sich manchmal erhob, um fünf Sous in das elektrische Klavier zu stecken.

Irgendwann musste sich etwas oder jemand bewegen. Es war der stark behaarte Schiffer im rechten Bistro. Mühsam stand er auf, blickte auf die Gläser hinunter und rechnete im Kopf, während er in seiner Tasche kramte. Als er das Geld abgezählt hatte, legte er es auf die blanke Tischplatte, tippte an den Rand seiner Mütze und schlingerte zur Tür.

Die beiden andern sahen sich an. Der Wirt zwinkerte. Die Hand des Mannes tastete ins Leere, bevor sie die Klinke ergriff, und er schwankte, als er sich draußen noch einmal umdrehte, um die Tür hinter sich zu schließen.

Seine Schritte klangen ungleichmäßig und als ginge er über hohles Pflaster. Drei- oder viermal blieb er stehen, als zögerte er oder versuchte, sein Gleichgewicht wiederzufinden. Am Kanal angekommen, stieß er dröhnend gegen die Brüstung, ging dann die Steintreppe hinunter und gelangte auf den Verladequai.

Die Umrisse der Schiffe waren im Mondlicht deutlich zu erkennen, die Namen so leserlich wie am helllichten Tag. Der nächstliegende Kahn, den nur ein Brettersteg vom Ufer trennte, hieß Toison d’Or. Weitere Schiffe lagen dahinter, links und rechts, in mindestens fünf Reihen. Die einen warteten mit geöffnetem Bauch darauf, von einem Kran entladen zu werden, andere hatten die Nase schon am Schleusentor, das sie frühmorgens durchfahren würden. Und wie meistens in einem Hafen lagen manche Schiffe einfach da, warum auch immer, als hätten sie keinen Nutzen.

Der Alte, ganz allein in dieser unbewegten Welt, hickste und betrat den Steg, der sich unter ihm bog. In der Mitte fiel ihm plötzlich ein, sich umzudrehen. Vielleicht wollte er die Fenster des Bistros sehen. Der erste Teil der Bewegung glückte ihm, dann schwankte er, verkrampfte sich und stürzte im nächsten Augenblick ins Wasser. Mit einer Hand umklammerte er den Steg.

Er hatte nicht geschrien, nicht einmal gemurrt. Nur das Aufklatschen auf dem Wasser war zu hören gewesen, aber nur kurz, denn der Mann bewegte sich kaum. Die Stirn in Falten, als müsste er nachdenken, versuchte er mit aller Kraft, sich an dem Brett hochzuziehen. Es gelang ihm nicht, aber er gab nicht auf, verbissen und keuchend.

Ein Liebespaar auf dem Quai stand an die Steinmauer gepresst und lauschte mit angehaltenem Atem. In Charenton hupte ein Auto.

Dann plötzlich erhob sich Geheul. Eine gewaltige Klage zerriss die Stille.

Es war der Alte, der im Wasser vor Angst aus voller Kehle schrie. Er unternahm keinerlei vernünftige Anstrengung mehr, sondern strampelte wie ein Wahnsinniger, trat mit den Füßen um sich, sodass ringsum das Wasser aufspritzte und schäumte.

Andere Laute kamen hinzu. Auf einem der Kähne entstand Bewegung, auf einem anderen sagte eine verschlafene Frauenstimme:

»Sieh doch mal nach.«

Oben auf dem Quai öffneten sich die Türen der beiden Bistros. Das Pärchen an der Steinmauer löste sich aus seiner Umarmung, und der Mann flüsterte:

»Lauf schnell nach Hause!«

Er machte zögernd ein paar Schritte, dann rief er laut:

»Wo sind Sie?«

Er hörte das Schreien und versuchte zu bestimmen, von wo es kam. Andere Stimmen näherten sich, und Leute beugten sich über die Brüstung.

»Was ist da los?«

Der junge Mann, der auf die Kante zulief, antwortete:

»Ich weiß es noch nicht. Dort … im Wasser …«

Seine Begleiterin blieb mit gefalteten Händen stehen und wagte nicht, sich vom Fleck zu rühren.

»Ich sehe ihn! Kommen Sie, schnell.«

Das Schreien wurde leiser und ging in ein unheimliches Röcheln über. Der junge Mann sah die Hände, die sich an den Steg klammerten, und den Kopf, der aus dem Wasser auftauchte, aber er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Er drehte sich zur Treppe um und rief:

»Kommen Sie, schnell …«

Ungerührt sagte jemand:

»Das ist Gassin.«

Sieben Männer kamen herbei. Es waren die fünf aus dem einen und die zwei aus dem anderen Bistro.

»Geh noch ein Stück weiter. Du packst ihn an dem einen Arm und ich am anderen.«

»Vorsicht, der Steg!«

Der Steg bog sich unter der Last. Aus der Luke des Kahns kam eine weiße Gestalt mit hellen Haaren hervor.

»Hältst du ihn?«

Der Alte schrie nicht mehr. Er war nicht ohnmächtig. Er stierte vor sich hin, ohne etwas zu begreifen, ohne selbst zu seiner Rettung beizutragen und es den Helfern leichter zu machen.

Ganz allmählich wurde er aus dem Wasser gehievt. Er war so schwach, dass man ihn bis zur Böschung schleppen musste.

Die weiße Gestalt näherte sich auf dem Steg. Es war eine junge Frau, barfuß und im Nachthemd. Im Mondschein schimmerte ihr nackter Körper durch den dünnen Stoff hindurch. Sie war die Einzige, die noch ins Wasser blickte, das sich wieder glättete. Und plötzlich begann auch sie zu schreien und zeigte auf etwas, unförmig und bleich wie eine Qualle.

Zwei von denen, die sich um den Schiffer kümmerten, drehten sich um, und als sie den milchigen Fleck im schwarzen Wasser bemerkten, lief es auch ihnen kalt den Rücken hinunter.

»Seht doch bloß … Da …«

Alle sahen hin und vergaßen darüber ganz den Schiffer, der in einer Wasserpfütze auf dem Pflaster lag.

»Hol einen Bootshaken!«

Die junge Frau griff einen vom Deck des Kahns und reichte ihn hinüber. Sie waren alle wie verwandelt. Die Atmosphäre hatte sich geändert, sogar die Temperatur der Nacht. Die Luft war auf einmal kühler geworden, mit einzelnen milderen Schwaden.

»Erreichst du ihn?«

Der Eisenhaken glitt im Wasser hin und her, stieß aber die einförmige Masse nur weiter zurück, wenn er sie zu fassen versuchte. Ein Mann lag bäuchlings auf dem Steg und fuhr mit der Hand durchs Wasser, um einen Zipfel der Kleidung zu greifen.

In der Dunkelheit erahnte man Menschen, die stumm auf ihren Kähnen standen und warteten.

»Ich habe ihn!«

»Zieh ihn vorsichtig raus.«

Der Alte auf dem Quai gab immer noch Wasser von sich wie ein vollgesogener Schwamm, während ein Ertrunkener herausgezogen wurde. Er war dicker, schwerer und leblos. Von einem sehr fernen Schlepper fragte eine Stimme schlicht:

»Tot?«

Die junge Frau im Nachthemd sah den Leuten zu, wie sie den Körper auf den Quai legten, etwa einen Meter entfernt neben den anderen. Sie schien das alles nicht zu begreifen, ihre Lippen zitterten, als wollte sie gleich weinen.

»Um Himmels willen … das ist Mimile!«

»Ducrau!«

Die Männer, die um die beiden Körper auf den Steinen herumstanden, wussten nicht, wo sie hinsehen sollten. Die Angst hatte sie gepackt. Sie wollten etwas tun, schienen sich aber zu fürchten.

»Man muss sofort …«

»Ja … Ich gehe …«

Jemand rannte zur Schleuse. Man hörte ihn mit beiden Fäusten an die Tür trommeln und rufen:

»Schnell! Euer Apparat! Es ist Émile Ducrau!«

»Émile Ducrau … Émile Ducrau … Mimile? Ducrau …« So wurde es von Kahn zu Kahn weitergesagt. Und die Leute stiegen über die Ruder und Stege, während der Wirt des Bistros die Arme des Ertrunkenen hob und senkte.

Um den Alten kümmerte sich niemand. Man merkte nicht einmal, dass er sich da unten zwischen den Beinen, die um ihn herumstanden, aufsetzte und verstört um sich blickte.

Der Schleusenwärter eilte herbei. Ein Mann kam die Treppe heruntergelaufen, gefolgt von einem Polizisten.

Im zweiten Stock des hohen Hauses öffnete sich ein Fenster, und eine Frau beugte sich hinaus, eine rosa Gestalt im rosigen Licht eines seidenen Lampenschirms.

»Ist er tot?«, wurde geflüstert.

Keiner wusste es. Man konnte es nicht wissen. Der Schleusenwärter stellte das Beatmungsgerät an, und man hörte das regelmäßige Geräusch des Apparats.

Inmitten der allgemeinen Verwirrung, der gestammelten Worte, der leisen Anweisungen, der auf den Steinen knirschenden Schritte stützte sich der Schiffer auf seine Arme, taumelte und stieß gegen einen neben ihm Stehenden, der ihm auf die Beine half.

Es hatte alles etwas Waberndes und Unklares, wirkte gedämpft und formlos wie eine Unterwasserszene.

Der Alte konnte sich kaum aufrecht halten. Er betrachtete wie im Traum den anderen Körper, der dort lag, und keuchend, immer noch betrunken und nach Alkohol stinkend, stieß er hervor:

»Er hat sich im Wasser an mich geklammert!«

Es war befremdlich, ihn dort stehen zu sehen, und ihn sprechen zu hören, als wäre er aus dem Jenseits zurückgekehrt. Er betrachtete den Liegenden, das Beatmungsgerät und das Wasser, vor allem das Wasser am Steg.

»Er wollte mich nicht loslassen, der Schuft.«

Niemand konnte das glauben. Die junge Frau versuchte ihm einen Schal um den Hals zu legen, doch er stieß sie zurück und blieb wie festgenagelt stehen, nachdenklich und misstrauisch, als hätte er es mit einem übermenschlichen Problem zu tun.

»Das kam von unten«, murmelte er wie zu sich selbst. »Etwas hat mich an den Beinen gepackt. Ich habe danach getreten, aber je stärker ich mich gewehrt habe, desto fester hat es sich an mich geklammert …«

Eine Schifferin brachte eine Flasche Eau de Vie und reichte dem Alten ein Glas. Er verschüttete mehr als die Hälfte, denn er ließ den anderen Mann nicht aus den Augen und grübelte weiter.

»Was ist eigentlich passiert?«, fragte der Polizist.

Aber der Alte zuckte nur mit den Schultern und fuhr fort, nun aber leiser, in seinen Bart zu murmeln.

Abgesehen von denen, die das Beatmungsgerät bedienten, gingen die Leute in kleinen Gruppen auf dem Quai hin und her. Man wartete auf den Arzt.

»Geh wieder schlafen«, sagte jemand zu seiner Frau.

»Erzählst du mir dann …«

Unbemerkt hatte der Alte die auf einem Stein abgestellte Flasche geschnappt und saß jetzt allein da, gegen die Quaimauer gelehnt, trank aus der Flasche und dachte so angestrengt nach, dass seine Züge sich verkrampften.

Von seinem Platz aus konnte er den Ertrunkenen sehen. Ihm galt sein Gemurmel, denn er machte ihm Vorwürfe. Er beschimpfte ihn. Er beschuldigte ihn dunkler Machenschaften, und ab und zu drohte er ihm, wehe, wenn er ihm noch einmal näher käme.

Die junge Frau im Nachthemd versuchte, ihm die Flasche abzunehmen, aber er sagte nur:

»Geh schlafen!«

Er schob sie weg, denn sie versperrte ihm den Blick auf den anderen. Sie waren beide gleich groß, aber Ducrau war breiter und schwerer, der Hals gedrungen und sein eckiger Schädel mit borstigen Haaren bedeckt.

Man hörte das Brummen eines Autos. Oben stiegen mehrere Männer aus und gingen auf die Treppe zu. Es waren Polizisten und ein Arzt. Ohne noch Genaueres zu wissen, scheuchten die Polizisten die Schaulustigen davon. Der Arzt stellte seine Tasche auf einem Betonsockel ab.

Ein Inspektor in Zivil, der eben mit den Leuten gesprochen hatte, wandte sich dem Alten zu, den man ihm gezeigt hatte. Aber es war zu spät, ihn zu vernehmen. Er hatte die Schnapsflasche halb geleert und blickte jeden misstrauisch an.

»Ist das Ihr Vater?«, fragte der Inspektor die junge Frau im Nachthemd.

Sie schien nicht zu verstehen. Es geschah ja auch zu viel auf einmal. Der Wirt des Bistros kam heran und sagte:

»Gassin war schon sternhagelvoll. Er muss auf dem Steg ausgerutscht sein.«

»Und der da?«

Der Arzt entkleidete den anderen.

»Das ist Émile Ducrau, der mit den Schleppern und Steinbrüchen. Er wohnt dort.«

Er deutete auf das hohe Haus mit den Fensterläden im ersten Stock, durch die immer noch ein dünner Lichtschein sickerte, und mit den wie in einen rosigen Schimmer getauchten Fenstern im zweiten.

»Im zweiten Stock?«

Die Leute zögerten mit der Antwort.

»Im ersten«, sagte schließlich einer.

Und ein anderer fügte geheimnisvoll hinzu:

»Aber auch im zweiten! Jedenfalls hat er da jemanden.«

»So was wie einen zweiten Haushalt!«

Das Fenster dort oben schloss sich wieder, und die Jalousie wurde hinuntergelassen.

»Ist die Familie schon benachrichtigt?«

»Nein. Man wollte erst sicher sein.«

»Zieh dir Strümpfe an«, sagte ein Schiffer zu seiner Frau, »und bring mir meine Mütze.«

Und so huschte von Zeit zu Zeit eine Gestalt von einem Kahn auf den anderen. Durch die Luken waren Petroleumlampen, zerwühlte Betten und Fotos an den Holzwänden zu erkennen.

Leise sagte der Arzt zum Inspektor:

»Sie sollten den Kommissar benachrichtigen. Bevor man den Mann ins Wasser geworfen hat, ist er mit einem Messer verletzt worden.«

»Ist er tot?«

Als hätte der Ertrunkene nur darauf gewartet, schlug er die Augen auf und spuckte unter Stöhnen Wasser aus. Er sah alles verkehrt herum, denn er lag auf dem Boden, und sein Horizont war der mit Sternen übersäte Himmel. Für ihn waren die Menschen ins Unendliche hineinragende Giganten und ihre Beine gewaltige Säulen. Er sagte nichts. Er dachte vielleicht nicht einmal etwas. Teilnahmslos blickte er ins Leere, und erst allmählich wurden seine Pupillen wieder beweglich.

Offenbar war sein Stöhnen gehört worden, denn plötzlich kamen alle gleichzeitig angelaufen, und die Polizisten gaben der Szene nun einen normalen, offiziellen Charakter: Sie bildeten Spalier, drängten die Menge zurück und ließen nur diejenigen hindurch, deren Anwesenheit notwendig war.

Der Liegende sah, wie sich der Raum um ihn herum leerte. Uniformen und Schirmmützen mit Silbertressen tauchten vor ihm auf. Er spuckte weiter graues Wasser, es troff ihm vom Kinn auf die Brust, während man unaufhörlich seine Arme bewegte. Auch die Bewegungen seiner Arme verfolgte er interessiert, und er runzelte die Stirn, als jemand in der letzten Reihe flüsterte:

»Ist er tot?«

Der alte Gassin erhob sich, ohne seine Flasche loszulassen, machte drei unsichere Schritte, stellte sich zwischen die Beine des anderen und sprach ihn an, wobei er so lallte, dass nicht eine Silbe zu verstehen war.

Aber Ducrau sah ihn. Er ließ ihn nicht aus den Augen. Er dachte nach. Bestimmt kramte er in seinem Gedächtnis.

»Gehen Sie weiter!«, fuhr der Arzt Gassin an und schob ihn so heftig beiseite, dass der Betrunkene hinfiel und seine Flasche zerbrach. Stöhnend und fluchend blieb er liegen und bemühte sich, seine Tochter, die sich über ihn beugte, wegzuscheuchen.

Wieder hielt ein Auto auf dem Quai, und eine neue Gruppe versammelte sich um den Polizeikommissar.

»Kann man ihn vernehmen?«

»Sie können es jedenfalls versuchen.«

»Glauben Sie, dass er davonkommen wird?«

Émile Ducrau antwortete selbst mit einem Lächeln. Es war ein seltsames, noch vages Lächeln, fast wie eine Grimasse, aber es bezog sich zweifellos auf die Frage.

Der Kommissar grüßte ihn, etwas verwirrt, indem er seinen Hut zog.

»Ich freue mich zu sehen, dass es Ihnen wieder besser geht.«

Es war unpraktisch, so von oben herab mit einem Mann zu sprechen, dessen Gesicht dem Himmel zugekehrt war und an dem sich die Helfer unablässig zu schaffen machten.

»Sind Sie überfallen worden? War es weit von hier? Wissen Sie, wo genau man auf sie eingestochen und Sie dann ins Wasser geworfen hat?«

Der Mund spuckte immer noch stoßweise Wasser aus. Émile Ducrau beeilte sich nicht mit der Antwort, er versuchte nicht einmal zu sprechen. Er drehte den Kopf ein wenig, weil die junge Frau im weißen Nachthemd in sein Blickfeld geriet, und folgte ihr mit den Augen bis zum Steg.

Sie ging, begleitet von einer Nachbarin, um für ihren Vater, der sich nicht ins Bett bringen lassen wollte, Kaffee zu kochen.

»Erinnern Sie sich, was geschehen ist?«

Und da er immer noch nicht antwortete, nahm der Kommissar den Arzt beiseite:

»Glauben Sie, dass er mich versteht?«

»Davon kann man ausgehen.«

»Und doch …«

Sie wandten Ducrau den Rücken zu. Zu ihrer Verblüffung hörten sie plötzlich seine Stimme.

»Ihr tut mir weh …«

Alle Blicke richteten sich auf ihn. Es fiel ihm schwer zu sprechen. Mühsam einen Arm bewegend, stammelte er:

»Will nach Hause …«

Was die Hand zu zeigen versuchte, war das sechsstöckige Haus hinter ihm. Der Kommissar war verstimmt und unschlüssig.

»Entschuldigen Sie, wenn ich darauf bestehe, aber es ist meine Pflicht. Haben Sie Ihre Angreifer gesehen? Haben Sie sie erkannt? Vielleicht sind sie nicht weit gekommen …«

Ihre Blicke trafen sich. Émile Ducrau wich nicht aus. Und doch antwortete er nicht.

»Es wird Ermittlungen geben, und die Staatsanwaltschaft wird mich bestimmt fragen, ob …«

Ganz überraschend kam Leben in diesen schlaffen Körper, der dort auf den hellen Pflastersteinen des Verladequais lag. Der Mann stieß alles weg, was ihn störte.

»Nach Hause!«, wiederholte er wütend.

Es war zu spüren, dass er, wenn man ihn weiter behinderte, toben und vielleicht sogar genügend Kraft gewinnen würde, um aufzustehen und sich auf die Menge zu stürzen.

»Vorsicht«, rief der Arzt, »Ihre Wunde kann anfangen zu bluten.«

Aber das scherte den stiernackigen Mann wenig. Er hatte es plötzlich satt, inmitten von Schaulustigen auf dem Boden zu liegen.

»Also gut, bringt ihn nach Hause«, seufzte der Kommissar ergeben.

Man hatte von der Schleuse Nr. 1 die Tragbahre geholt. Aber von einer Bahre wollte Ducrau nichts wissen. Er schimpfte. Man musste ihn an Armen, Beinen und Schultern festhalten. Als er davongetragen wurde, sah er die Umstehenden zornig an, und sie traten zur Seite, denn sie hatten Angst vor ihm.

Der kleine Zug hatte gerade die Straße überquert, als der Kommissar ihn anhielt.

»Einen Augenblick. Ich muss erst seine Frau benachrichtigen.«

Er klingelte, während die Träger unter der grünen Gaslampe stehen blieben, wo sich die Haltestelle der Busse und Straßenbahnen befand.

Währenddessen hatten ein paar Schiffer große Mühe, den alten Gassin, der sturzbetrunken war und sich zudem an einer Scherbe die Hand verletzt hatte, über den Steg hinauf zur Toison d’Or zu bringen.

Maigret und die Schleuse Nr. 1

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