Читать книгу Maigret und die Schleuse Nr. 1 - Georges Simenon - Страница 4

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Am übernächsten Tag stieg Kommissar Maigret an der Haltestelle gegenüber den beiden Bistros aus der Straßenbahn der Linie 13. Es war zehn Uhr morgens, blendend hell und sehr laut. Maigret blieb eine Weile stirnrunzelnd auf dem Gehweg stehen, während sich weiße Zementlaster zwischen ihn und den Kanal schoben.

Er hatte die Vertreter der Staatsanwaltschaft nicht begleitet, und er kannte den Ort des Geschehens wie überhaupt den ganzen Fall nur theoretisch. Auf dem kleinen Plan, den man für ihn gezeichnet hatte, sah alles ganz einfach aus: rechts der Kanal mit der Schleuse und Gassins Schiff am Verladequai, links die beiden Bistros, das hohe Haus und ganz hinten das kleine Tanzlokal.

Vielleicht war das alles zutreffend, aber es fehlte das ganze lebendige Drumherum. So befanden sich zum Beispiel allein fünfzig Schiffe im Hafenbecken vor der Schleuse, die einen lagen am Quai, die anderen waren aneinander festgemacht, und wieder andere bewegten sich langsam in der Sonne. Und auf der Straße herrschten Gewimmel und ein Mordslärm, verursacht vor allem von den schweren Lastwagen.

Doch die Seele der Umgebung lag woanders, oder jedenfalls ihr Herz, dessen Schläge der Luft den Rhythmus gaben: Am Ufer ragte ein merkwürdiger Apparat in die Höhe, ein eiserner Turm, der bei Nacht vermutlich nichts als ein grauer Fleck war, bei Tag aber aus jeder Nut, jedem Holm und jedem Riemen einen Höllenlärm von sich gab. Er zermalmte Steine. Krachend fielen sie auf große Siebe, wurden weitertransportiert und schließlich auf staubdampfende Haufen gekippt.

Hoch oben an der Maschine prangte ein blaues Emailschild mit der Aufschrift Entreprises Émile Ducrau.

An über den Schiffen gespannten Leinen hing Wäsche zum Trocknen, und auf der Toison d’Or kippte eine blonde junge Frau Wasser über das Deck.

Wieder fuhr eine Straßenbahn der Linie 13 vorbei, dann noch eine zweite, bis sich Maigret schweißgebadet und mit von der ersten Aprilsonne glühender Haut etwas unentschlossen dem hohen Haus zuwandte. Er blickte durch die Scheiben der Loge, konnte aber keine Concierge entdecken. Auf der Treppe lag ein abgewetzter dunkelroter Läufer. Die Stufen waren poliert, die Wände marmoriert gestrichen. Der Treppenabsatz mit seinen beiden dunklen Türen und den blank geputzten Messingknäufen roch nach Staub, nach Biederkeit und Mittelmaß. Aus dem Innenhof fiel schräg ein Sonnenstrahl durch irgendein Oberlicht und tauchte das Treppenhaus in ein goldenes Licht.

Maigret klingelte. Nach dem zweiten Mal hörte er drinnen Geräusche, aber es vergingen fünf Minuten, bis die Tür geöffnet wurde.

»Ich möchte zu Monsieur Ducrau.«

»Da sind Sie richtig. Kommen Sie rein.«

Die Hausangestellte hatte ein rotes Gesicht und machte einen aufgeregten Eindruck, und ohne eigentlich zu wissen, warum, musste Maigret bei ihrem Anblick lächeln. Sie war eine rundliche junge Frau, ansprechend, jedenfalls von hinten betrachtet, denn das Gesicht mit den groben, unregelmäßigen Zügen enttäuschte dann.

»Wen darf ich melden?«

»Die Kriminalpolizei.«

Sie machte zwei Schritte auf die Tür zu und musste sich bücken, um ihren Strumpf hochzuziehen. Dann ging sie zwei Schritte weiter, glaubte sich vom Türflügel verdeckt, befestigte schnell den Strumpfhalter und zupfte den Unterrock zurecht. Maigret schmunzelte noch mehr. Im Nebenzimmer wurde geflüstert, dann erschien die Hausangestellte wieder.

»Bitte, treten Sie ein.«

Maigrets Lächeln hatte nicht nur mit der Sonne zu tun. Es kam von innen und breitete sich über sein Gesicht. Schon beim Betreten des Vorzimmers, fast schon auf der Fußmatte, hatte er geahnt, was hier vor sich gegangen war, und nun war er ganz sicher.

»Monsieur Ducrau?«, fragte er.

Seine Augen lachten. Sein Mund verzog sich unwillkürlich zu einem Feixen, und von diesem Moment an schien die Wahrheit zwischen den beiden Männern eingestanden. Ducrau sah das Dienstmädchen an, dann den Besucher und schließlich seinen roten Samtsessel. Daraufhin strich er sich, obwohl es gar nicht nötig war, die nach hinten gekämmten Haare glatt und lächelte ebenfalls, geschmeichelt, ein wenig verlegen, aber doch zufrieden.

Drei Fenster funkelten in der Sonne. Durch eines, das weit offen stand, drangen die Geräusche der Straße und der Lärm des Steinbrechers so laut herein, dass Maigret, als er zu sprechen begann, kaum sein eigenes Wort verstand.

Émile Ducrau hatte sich mit einem Seufzer des Behagens wieder in seinen Sessel fallen lassen. Er wirkte noch etwas mitgenommen. Von dem Geschehen mit dem Dienstmädchen standen ihm noch einige Schweißperlen auf der Stirn, und sein Atem ging schneller. Auch die Vertreter der Staatsanwaltschaft hatten den Mann tags zuvor im Sessel sitzend angetroffen – zu ihrer Verblüffung, denn sie hatten erwartet, ihn sterbenselend in seinem Bett vorzufinden.

Er trug Pantoffeln und unter seiner alten Jacke ein Nachthemd mit rotgesticktem Kragen. Die gleiche nachlässige Biederkeit fand sich in allen Einzelheiten des Wohnzimmers wieder, in den beliebigen, dreißig oder vierzig Jahre alten Möbeln, den schwarz und gold gerahmten Fotografien von Schleppern und dem Rollschreibtisch in der Ecke.

»Sie also wurden mit dem Fall beauftragt?«

Sein Lächeln verblasste. Ducrau wurde wieder zu dem ernsten Mann mit streng forschendem Blick und einem aggressiven Unterton in der Stimme.

»Ich nehme an, Sie haben sich schon Ihr eigenes Bild von der Geschichte gemacht? Nein? Nun, umso besser. Allerdings wundert es mich, bei einem Polizisten!«

Er verhielt sich nicht absichtlich unangenehm, es war seine Natur. Manchmal verzog er das Gesicht. Vermutlich schmerzte ihn seine Verletzung im Rücken.

»Trinken Sie etwas! Mathilde! Mathilde! Mathilde, Herrgott noch mal!«

Und als das Dienstmädchen, mit seifigen Händen, endlich erschien:

»Bringen Sie Weißwein. Von dem guten!«

Sein massiger Körper füllte den Sessel ganz aus, und weil er die Füße auf ein besticktes Kissen hochgelegt hatte, wirkten die Beine kürzer, als sie waren.

»Also, was hat man Ihnen erzählt?«

Er hatte die Gewohnheit, beim Sprechen schnelle Blicke durchs Fenster auf die Schleuse zu werfen, und plötzlich brummte er:

»Meine Güte! Die lassen tatsächlich einen von Poliet et Chausson überholen!«

Maigret sah, wie ein beladener Kahn mit gelbem Anstrich langsam in die Schleusenkammer einfuhr. Ihm folgte ein weiterer Lastkahn, der mit einem blauen Dreieck gekennzeichnet war. Drei oder vier Leute gestikulierten wild und schienen sich gegenseitig zu beschimpfen.

»Alle Schiffe mit blauen Dreiecken gehören mir«, erklärte Ducrau. Dem Mädchen, das wieder hereinkam, zeigte er einen Stuhl.

»Stellen Sie Flasche und Gläser da drauf. Hier geht es ungezwungen zu, Herr Kommissar. Wo war ich stehengeblieben? Ach ja. Ich wüsste gerne, was man sich über den Fall erzählt.«

Hinter seiner scheinbaren Gutmütigkeit versteckte sich eine gewisse Bosheit, die immer deutlicher wurde, je länger er Maigret ansah, vielleicht, weil der Kommissar ebenso breit und schwer war wie er, allerdings größer, und weil sein Schweigen in dieser Wohnung wirkte wie ein mächtiger, unverrückbarer Steinblock.

»Der Bericht ist mir heute Morgen vorgelegt worden«, sagte er.

»Und haben Sie ihn gelesen?«

Die Eingangstür öffnete sich, jemand kam durch den Vorraum und betrat das Zimmer. Es war eine magere, trübselig aussehende Frau um die fünfzig. Sie hatte ein Einkaufsnetz in der Hand und entschuldigte sich:

»Pardon, ich wusste nicht …«

Maigret hatte sich schon erhoben.

»Madame Ducrau, nehme ich an? Es freut mich, Sie kennenzulernen.«

Sie begrüßte ihn verlegen und zog sich rasch wieder zurück. Man hörte sie mit dem Dienstmädchen sprechen, und Maigret lächelte erneut, denn er stellte sich die Einzelheiten der morgendlichen Szene nun noch deutlicher vor.

»Meine Frau hat es nie geschafft, sich den Haushalt abzugewöhnen«, murmelte Ducrau. »Sie könnte sich zehn Hausangestellte leisten, wenn sie wollte, aber sie geht lieber selbst zum Markt.«

»Sie haben, nehme ich an, als Führer eines Schleppkahns angefangen?«

»Ich habe so angefangen, wie jeder hier anfängt: im Kesselraum. Die Kiste hieß L’Aigle. Sie wurde mir übergeben, als ich die Tochter des Besitzers geheiratet habe. Sie haben sie eben gesehen. Inzwischen ist die Aigle-Serie auf vierundzwanzig Stück angewachsen. Allein hier im Hafenbecken liegen zwei, die heute nach Dizy rauffahren, und fünf sind von dort zu uns unterwegs. Alle Lotsen in den beiden Bistros da unten arbeiten für mich. Ich habe schon achtzehn Kähne dazugekauft, Fleutschiffe und zwei Schwimmbagger.«

Seine Augen verengten sich, bis sie nur noch Maigrets Augen im Blick hatten.

»Ist es das, was Sie wissen wollten?«

Und Richtung Tür brüllte er:

»Ruhe da drüben!«

Es galt den beiden Frauen, deren Gemurmel ins Zimmer drang.

»Auf Ihr Wohl! Man hat Ihnen sicher gesagt, dass ich eine Belohnung von zwanzigtausend Franc ausgesetzt habe, wenn die Polizei meinen Angreifer findet. Ich nehme an, dass man mir darum einen besonders guten Mann geschickt hat. Was beobachten Sie da?«

»Nichts Besonderes. Den Kanal, die Schleuse, die Schiffe …«

Der leuchtend helle Fensterausschnitt zeigte eine ungeheure Lebendigkeit. Von oben wirkten die Kähne besonders schwer, als steckten sie in zu dickem Wasser fest. Ein Mann stand in einer Barke und teerte den grauen, zwei Meter aus dem Wasser ragenden Rumpf seines Schiffs. Hunde liefen umher, in einem Drahtkäfig flatterten Hühner, und die blonde junge Frau putzte die Messingbeschläge auf Deck. Leute kamen und gingen über die Tore der Schleuse, und die Schiffe, die stromabwärts fuhren, schienen einen Moment zu zögern, bevor sie sich der Strömung der Seine überließen.

»Kurz und gut, das alles gehört sozusagen Ihnen?«

»Nicht alles, das wäre übertrieben. Aber jeder, den Sie dort sehen, hängt in gewisser Weise von mir ab, vor allem seit ich die Kalksteinbrüche oben in der Champagne aufgekauft habe.«

Die Möbel der Wohnung ähnelten denen, die in Auktionshäusern aufgehäuft werden, um sie samstags an die kleinen Leute zu verramschen, die günstig einen gebrauchten Tisch oder eine Waschschüssel erstehen wollen. Aus der Küche drang der Geruch gebratener Zwiebeln und das Zischen heißer Butter herein.

»Eine Frage, wenn Sie erlauben. Im Bericht steht, dass Sie sich bis zu dem Moment, als man Sie aus dem Wasser gefischt hat, an nichts erinnern können.«

Ducrau schnitt bedächtig die Spitze einer Zigarre ab.

»Wann genau bricht Ihre Erinnerung ab? Können Sie mir zum Beispiel sagen, was Sie vorgestern Abend gemacht haben?«

»Meine Tochter und ihr Mann waren zum Abendessen da. Er ist Infanteriehauptmann in Versailles. Sie kommen jeden Mittwoch.«

»Sie haben auch einen Sohn?«

»Ja, er studiert an der École des Chartes. Er ist selten hier, denn ich habe ihm ein Zimmer im 5. Arrondissement besorgt.«

»Sie haben ihn also an dem Abend nicht gesehen?«

Ducrau ließ sich Zeit mit der Antwort. Er behielt Maigret im Blick, und während er an seiner Zigarre zog, bedachte er jede Frage, die ihm gestellt wurde, und jedes Wort, das er aussprach.

»Hören Sie, Herr Kommissar, ich will Ihnen etwas Wichtiges sagen, und ich rate Ihnen, es zu berücksichtigen, wenn Sie wollen, dass wir uns verstehen. Mimile lässt sich nicht so leicht für dumm verkaufen! Mimile, das bin ich. So hat man mich genannt, als ich erst einen einzigen Schlepper hatte, und manche Schleusenwärter in der Haute-Marne kennen mich bis heute nur unter diesem Namen. Verstehen Sie mich? Ich bin genauso schlau wie Sie. Und in dieser Geschichte bin ich es, der zahlt! Ich bin es, der angegriffen wurde! Und ich bin es, der Sie hat kommen lassen!«

Maigret zuckte mit keiner Wimper, aber innerlich freute er sich: Zum ersten Mal seit Langem saß er jemandem gegenüber, dessen Bekanntschaft zu machen sich wirklich lohnte.

»Trinken Sie. Nehmen Sie eine Zigarre. Stecken Sie sich auch ein paar in die Tasche. Ich bitte darum! Machen Sie Ihre Arbeit, aber keine fiesen Tricks. Als die Leute von der Staatsanwaltschaft gestern bei mir waren, spazierte auch ein Gockel von Untersuchungsrichter hier herum, mit seinen cremefarbenen Handschuhen, als hätte er Angst, sich zu beschmutzen. Bitte sehr! Da habe ich ihm gesagt, dass er den Hut abnehmen und das Rauchen unterlassen soll, während ich ihm meinen Rauch ins Gesicht gepustet habe. Verstehen Sie? So – und nun höre ich Ihnen zu.«

»Jetzt habe ich eine Frage an Sie. Bleiben Sie bei Ihrer Anzeige? Ja? Und liegt Ihnen wirklich etwas daran, dass ich den Schuldigen finde?«

Über Ducraus Lippen huschte ein Lächeln. Statt die Frage zu beantworten, murmelte er:

»Und weiter?«

»Das ist alles. Wir haben noch Zeit.«

»Haben Sie mir sonst nichts zu sagen?«

»Nein, nichts.«

Maigret stand auf und stellte sich, in die Sonne blinzelnd, ans offene Fenster.

»Mathilde! Mathilde!«, rief Ducrau. »Erstens, versuchen Sie doch beim nächsten Mal sofort zu kommen, wenn ich rufe. Zweitens, binden Sie sich eine saubere Schürze um. Und jetzt holen Sie mir eine Flasche Champagner. Eine von den acht Flaschen hinten links.«

»Ich trinke keinen Champagner«, sagte Maigret, als das Dienstmädchen gegangen war.

»Den werden Sie trinken. Es ist ein Brut nature 1897. Der Besitzer der größten Kellerei in Reims hat ihn mir geschickt.«

Er war milder geworden, zeigte sogar den Hauch eines Gefühls, wenn auch kaum wahrnehmbar.

»Was betrachten Sie?«

»Gassins Schiff.«

»Wissen Sie, Gassin ist ein alter Kumpel von mir, der einzige, der mich noch duzt! Wir haben unsere ersten Fahrten zusammen gemacht. Ich habe ihm eins meiner Schiffe anvertraut, das vor allem nach Belgien fährt.«

»Er hat eine hübsche Tochter.«

Es war eigentlich mehr ein Eindruck, denn aus der Entfernung konnte Maigret kaum mehr als eine Silhouette erkennen. Trotzdem war er sicher, dass die junge Frau hübsch war. Eine schlichte Erscheinung, aber trotzdem. Ein schwarzes Kleid, eine weiße Schürze und nackte Füße in Holzpantinen.

Ducrau antwortete nicht, und nach einem Moment des Schweigens sagte er, als würde er bald die Geduld verlieren:

»Also, legen Sie los, fragen Sie! Die Dame oben, das Dienstmädchen und so weiter! Ich warte …«

Die Küchentür öffnete sich einen Spaltbreit. Madame Ducrau blieb auf der Schwelle stehen, hüstelte und fragte:

»Soll er auf Eis serviert werden?«

Wütend entgegnete er:

»Warum lässt du den Champagner nicht gleich in Reims holen?«

Sie verschwand wortlos, und die Tür blieb halb offen, während Ducrau fortfuhr:

»Also, ich habe im zweiten Stock genau über diesem Zimmer noch eine Frau einquartiert. Sie heißt Rose und war Animierdame im Maxim’s.«

Er senkte die Stimme nicht, im Gegenteil. Seine Frau sollte es hören. In der Küche klirrten Gläser. Das Mädchen kam in einer sauberen Schürze und mit einem Tablett herein.

»Wenn Sie noch weitere Einzelheiten wissen wollen: Ich gebe ihr monatlich zweitausend Franc und bezahle ihre Kleidung. Aber sie näht sich fast alles selbst. Ist gut so, stellen Sie alles hin und verschwinden Sie … Übernehmen Sie es, die Flasche zu entkorken, Herr Kommissar?«

Maigret hatte sich inzwischen an den Lärm gewöhnt. Er hörte den Krach des Steinbrechers nicht mehr und auch nicht die Geräusche von der Straße, in die sich das Brummen zweier dicker Fliegen im Zimmer mischte.

»Wir sprachen von vorgestern. Meine Tochter und ihr idiotischer Ehemann haben hier zu Abend gegessen, und ich bin wie immer nach dem Dessert gegangen. Ich kann Nervensägen nicht ausstehen, und mein Schwiegersohn ist eine Nervensäge. Auf Ihr Wohl!«

Er schnalzte mit der Zunge und stieß einen Seufzer aus.

»Das ist alles. Es war vielleicht zehn Uhr. Ich bin den Gehweg entlanggegangen und habe bei Catherine, der das Tanzlokal ein Stück weiter unten gehört, einen Schnaps getrunken. Dann bin ich weitergegangen, bis zur Straßenecke dort hinten, wo die Straßenlampe steht. Ich trinke lieber mit den Mädchen da ein Bier als mit meinem Schwiegersohn.«

»Haben Sie, als Sie das Haus verlassen haben, nicht bemerkt, dass Ihnen jemand gefolgt ist?«

»Ich habe überhaupt nichts bemerkt.«

»Welche Richtung haben Sie eingeschlagen?«

»Keine Ahnung.«

Das war deutlich. Die Stimme wurde wieder aggressiv. Ducrau verschluckte sich nach einem zu großen Schluck Champagner, hustete und spuckte auf den verblichenen Teppich.

Im ärztlichen Bericht hieß es, die Verletzung am Rücken sei nur oberflächlich, der Reeder habe nicht länger als drei oder vier Minuten im Wasser gelegen und sei vielleicht ein- oder zweimal aufgetaucht.

»Sie verdächtigen natürlich niemanden?«

»Ich verdächtige alle!«

Er hatte ein seltsames Aussehen. Der Kopf war breit, fleischig und grob geschnitten, doch man spürte, dass dieser Schädel von großer Härte war, ein außergewöhnlich solider Kopf. Wenn Ducrau auf Maigrets Reaktionen lauerte, erinnerte sein Blick an den eines alten Bauern beim Feilschen auf dem Markt, doch gleich darauf spiegelte sich in seinen blauen Augen eine verblüffende Naivität.

Mal drohte, brüllte und fluchte er, dann wieder fragte man sich, ob er das alles nicht bloß zu seinem Vergnügen tat.

»Das vor allem wollte ich Ihnen sagen! Denn ich habe das Recht, jeden zu verdächtigen: meine Frau, meinen Sohn, meine Tochter, ihren Mann, die Rose, das Dienstmädchen, Gassin …«

»Seine Tochter …«

»Auch Aline, wenn Sie wollen!«

Doch das klang ein wenig anders.

»Und ich möchte noch etwas sagen. Ich gebe Ihnen die Erlaubnis, all diese Leute, die mir gehören, so lange in die Zange zu nehmen, wie Sie wollen. Ich kenne die Polizei. Ich weiß, sie wird selbst noch in den Mülleimern der Leute herumschnüffeln. Wir können sogar gleich damit anfangen. Jeanne! Jeanne!«

Seine Frau erschien, erstaunt und ängstlich.

»Komm schon rein, verflucht noch mal! Wie soll man dich jemandem vorstellen, wenn du dich wie ein Dienstmädchen benimmst? Trink ein Glas. Aber ja doch! Stoß mit dem Kommissar an. Und nun rate mal, was der Kommissar wissen will.«

Sie war blass und nichtssagend, schlecht angezogen und schlecht frisiert, schlecht gealtert wie die Möbel im Wohnzimmer. Die Sonne blendete sie. Und nach fünfundzwanzig Jahren Ehe zuckte sie immer noch zusammen, wenn ihr Mann die Stimme erhob.

»Er möchte wissen, worüber wir beim Abendessen mit Berthe und ihrem Mann gesprochen haben.«

Sie versuchte zu lächeln. Die Hand mit dem Champagnerglas zitterte, und Maigret sah die von der Küchenarbeit rissigen Finger.

»Antworte. Aber trink zuerst.«

»Wir haben über alles Mögliche gesprochen.«

»Das ist nicht wahr.«

»Entschuldigen Sie, Herr Kommissar, ich weiß wirklich nicht, was mein Mann meint.«

»Oh doch, oh doch! Komm, dann helfe ich dir auf die Sprünge …«

Sie stand aufrecht neben dem roten Sessel, in dem Ducrau so tief versunken war, dass er beinahe damit verschmolz.

»Berthe hat damit angefangen. Erinnere dich. Sie hat gesagt …«

»Émile!«

»Nichts da, Émile! Sie hat gesagt, sie fürchte, schwanger zu sein, und in diesem Fall könne Decharme nicht bei der Armee bleiben, weil er dort zu wenig verdiene, um eine Amme und alles andere Notwendige zu bezahlen. Ich habe ihm geraten, Erdnüsse zu verkaufen. Stimmt’s?«

Mit einem kümmerlichen Lächeln versuchte sie ihn zu entschuldigen.

»Du solltest dich ausruhen.«

»Und was hat der Schwachkopf da vorgeschlagen? Antworte! Was hat er vorgeschlagen? Dass ein Teil des Vermögens sofort aufgeteilt wird, weil man es eines Tages doch wird tun müssen. Mit seinem Anteil möchte sich Monsieur in der Provence niederlassen, wo das Klima, wie es scheint, für seine Nachkommenschaft ausgezeichnet ist. Und wir könnten ihn in den Ferien dort besuchen.«

Er geriet nicht in Wut. Er brauste nicht auf. Im Gegenteil, er setzte die Wörter hart und bedächtig aneinander, eins nach dem anderen.

»Was hat er noch hinzugefügt, als ich schon dabei war, meinen Hut aufzusetzen? Ich will, dass du es selbst wiederholst.«

»Ich weiß es nicht mehr.«

Sie war den Tränen nahe. Sie stellte ihr Glas hin, um nichts zu verschütten.

»Sag es!«

»Er hat gesagt, du würdest anderswo genug Geld ausgeben …«

»Er hat nicht anderswo gesagt.«

»Für …«

»Nun?«

»Für Frauen.«

»Und weiter?«

»Für die da oben.«

»Haben Sie gehört, Herr Kommissar? Haben Sie noch Fragen an sie? Ich sage Ihnen das, weil sie gleich heulen wird, und das ist nicht unbedingt erfreulich. Du kannst gehen!«

Er seufzte wieder, ein langer Seufzer, wie er nur aus seiner gewaltigen Brust kommen konnte.

»So, da hätten Sie schon eine kleine Kostprobe! Wenn es Sie amüsiert, brauchen Sie nur allein weiterzumachen. Morgen werde ich wieder aufstehen, ganz gleich, was der Arzt sagt. Sie finden mich wie jeden Morgen ab sechs Uhr auf der Werft. Trinken Sie noch ein Glas? Sie haben vergessen, sich ein paar Zigarren einzustecken. Gassin hat eben wieder fünfhundert Stück für mich in seinem Schiff geschmuggelt. Sie sehen, ich verheimliche Ihnen nichts.«

Er erhob sich mühsam, wobei er sich auf die Armlehnen seines Sessels stützte.

»Ich danke Ihnen für Ihre Hinweise«, sagte Maigret, der nach einer möglichst banalen Formulierung gesucht hatte.

Ducraus Augen lachten. Die des Kommissars ebenfalls. So sahen sie sich mit einer gewissermaßen verhaltenen Heiterkeit an, vielsagend, möglicherweise herausfordernd. Vielleicht war es auch eine merkwürdige Art von Anziehung.

»Soll das Mädchen Sie hinausbegleiten?«

»Danke, ich finde den Weg.«

Sie gaben sich nicht die Hand, und auch das war wie eine stumme Vereinbarung. Ducrau blieb am offenen Fenster stehen, seine Gestalt dunkel vor dem hellen Hintergrund. Er musste erschöpfter sein, als er zugeben wollte, denn sein Atem ging schnell.

»Viel Glück! Vielleicht angeln Sie sich ja die zwanzigtausend Franc.«

Als Maigret an der Küchentür vorüberkam, hörte er Schluchzen. Er erreichte den Treppenabsatz, ging einige Stufen hinunter, blieb in dem Sonnenstrahl stehen, der ein wenig gewandert war, und zog ein Blatt Papier aus seiner Tasche. Es war das ärztliche Gutachten, in dem es unter anderem hieß:

Ein Selbstmordversuch ist auszuschließen, denn kein Mensch kann sich an der Stelle, wo sich die Verletzung befindet, selbst einen Messerstich zufügen.

Im Halbdunkel der Loge bewegte sich etwas. Es war die eben zurückgekehrte Concierge. Auf der Straße dann trat er in ein Bad aus Hitze und Licht, Lärm, farbigem Staub und Bewegung. Die Straßenbahn der Linie 13 hielt und fuhr sogleich weiter. Die Tür des Bistros rechts öffnete sich mit einem Klingeln, während eine Ladung Kieselsteine aus der Mühle des Steinbrechers rollte und ein kleiner Schlepper mit blauem Dreieck ein lautes Tuten ausstieß, offenbar wütend, weil ihm das Schleusentor vor der Nase geschlossen wurde.

Maigret und die Schleuse Nr. 1

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