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Erster Teil 1

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Diesmal machte es klick, als er, einfach so und ohne ersichtlichen Grund, die Nummer mit der magischen Uhr zwischen die Ringe des Fakirs und den wandernden Würfel einschob. Sie stand zwar nicht auf dem Programm, aber Antoine hatte auch an gewöhnlichen Abenden immer ein paar zusätzliche Kunststücke in Reserve, die er dann, je nach Reaktion des Publikums, früher oder später einstreuen konnte.

Bis dahin hatte alles gut geklappt. Er war schon einmal, vor elf oder zwölf Jahren – noch vor Julies Zeit –, in Bourg-la-Reine gewesen, aber der Festsaal war anders gewesen. Antoine hatte auch die Straße nicht wiedererkannt, so wenig wie das Viertel, in dem damals viel weniger Mietshäuser standen. Sein Auftritt war um Punkt neun. Um acht war er mit dem Bus angekommen, mit seinen beiden flachen Koffern, die seine Arbeitsgeräte und seinen Frack enthielten.

Seine Plakate hatte man links und rechts des Eingangs angeschlagen. In der Kälte und im Halbdunkel hatte er sie kaum gesehen. Er verwendete seit zwanzig Jahren dieselben Plakate. Vom Korridor aus hörte man Stimmengewirr in dem allzu großen Saal mit den billigen Klappstühlen und der kalten Beleuchtung.

Er erkannte inzwischen auch immer auf den ersten Blick das zuständige Komitee-Mitglied aus all den geschäftig herumeilenden Personen mit Armbinde heraus.

Man führte ihn hinter die Kulissen. In Wirklichkeit war die Bühne nur ein Podium, das man über eine Trittleiter erreichte, und dahinter war ein knapper Meter Raum zwischen der bemalten Leinwand und der Mauer.

»Es ist eng hier«, hatte sich der Mann entschuldigt. »Wenn Sie etwas brauchen, lassen Sie es mich bitte wissen. Der erste Teil beginnt gleich.«

Der Mann stand unter Druck. Alle Herren mit Armbinde liefen mit wichtigen Gesichtern hin und her und riefen sich quer durch den Saal Anweisungen zu. Die Zuschauer saßen unterdessen auf ihren Klappstühlen und warteten.

Eine gute Viertelstunde später hatte dann endlich jemand mit einem Hammer dreimal auf den Fußboden geschlagen, woraufhin jemand anderer auf dem Klavier einige Chansons klimperte, die in dem kahlen Saal unschön hallten.

»Meine Damen und Herren, liebe Freunde vom Förderverein, ich habe das Vergnügen, Ihnen heute Abend …«

Antoine brauchte seine Hose nicht zu wechseln, da er schon in einer schwarzen Hose von zu Hause gekommen war. Dafür befestigte er jetzt in aller Ruhe und mit präzisen Bewegungen seine steife Hemdbrust an seinem Hemd und nahm nur mit halbem Ohr wahr, was jenseits der bemalten Leinwand vor sich ging.

Wieder spielte das Klavier. Ein Bariton sang. Sorgfältig befestigte Antoine an seiner Weste, an seiner Hose und dann im Futter des Fracks die verschiedenen für seine Zauberkunststücke notwendigen Taschen – mit Bewegungen, die er nun schon jahrelang, an bis zu zweihundertfünfzig Abenden im Jahr, in immer derselben Reihenfolge fast automatisch ausführte.

Er baute seinen Tisch mit den Nickelbeinen auf und breitete die mit einem A aus Goldfaden geschmückte rote Samtdecke darauf aus.

Als der Bariton sein Lied beendet hatte, streckte das Mitglied des Komitees den Kopf durch den Vorhang.

»Brauchen Sie noch etwas?«

»Danke.«

Er überließ nichts dem Zufall. Jedes seiner Requisiten hatte seinen festen Platz in seinen Taschen und in den verschiedenen unsichtbaren Versenkungen des Tisches, und wie immer hatte Antoine Requisiten für drei oder vier zusätzliche Nummern in Reserve.

Er hatte nicht die Absicht, die Nummer mit der Uhr vorzuführen, die stets riskant war, weil man dazu einen Zuschauer um seine Mitarbeit bitten musste und es passieren konnte, dass man an den Falschen geriet. Es kam ganz auf die Zusammensetzung des Publikums, auf die Atmosphäre an. Manche Burschen wollten ihren Freunden unbedingt beweisen, dass sie sich nicht an der Nase herumführen ließen. Einmal hatte ein Metzger in einem Dorf plötzlich die Samtdecke mit dem Monogramm vom Tisch hochgehoben und war in schallendes Gelächter ausgebrochen, als er die Filztasche entdeckte, in der ein lebendiges Kaninchen steckte.

Jetzt war ein junges Mädchen mit Singen dran und blieb mitten in der dritten Strophe stecken. Antoine war der einzige Profi des Abends, dessen erster Teil von den Vereinsmitgliedern bestritten wurde.

Als Letztes kam ein Wunderkind dran, ein acht- oder neunjähriger Junge, der Geige spielte. Dann zeigten das Getrampel auf dem Parkett und das Quietschen der Klappstühle die Pause an.

»Wollen Sie etwas trinken?«

»Nein, danke.«

»Nicht vor Ihrem Auftritt, wie? Ich verstehe.«

»Nie.«

Er war aufrichtig. Die Wahrheit war zwar komplizierter, doch was den Kern betraf, log er nicht. Kinder, Männer, auch einige Frauen riskierten einen Blick hinter den Vorhang, wo Antoine im Frack neben seinem Tischchen saß, bereit für seinen Auftritt, nur noch ohne die schwarze Halbmaske. Vielleicht wunderten sie sich über sein Allerweltsgesicht. Oder dass er viel älter aussah als auf dem Plakat.

Er hatte das leichte Make-up aufgelegt, wie immer in den kleineren Sälen. Er war daran gewöhnt, dass ihn die Leute angafften, und ließ sich nicht verunsichern, sondern schlug seelenruhig die Beine übereinander und rauchte eine Zigarette.

Bei Amateurvorstellungen dauerten die Pausen immer länger als in den richtigen Theatern, und die Organisatoren hatten Mühe, die Zuschauer dazu zu bewegen, ihre Plätze wieder einzunehmen.

»Geh du mit gutem Beispiel voran, Louis. Nimm schon mal Platz mit deiner Familie. Ich gehe raus und trommle die Restlichen zusammen.«

Antoine ließ nicht zu, dass ihm jemand half, sein Tischchen auf die andere Seite des Vorhangs zu tragen. Er wartete, bis die Zuschauer aufhörten zu husten, mit den Füßen zu scharren und in den Programmheften zu blättern. Dann erst verzog er den Mund unter seiner Samthalbmaske zu einem Lächeln und sagte feierlich:

»Meine Damen und Herren, ich habe die Ehre und das Vergnügen …«

Er sah die Gesichter in einem gräulichen Licht, das die Einzelheiten nicht verwischte, sondern sie noch hervorhob, und er hätte anschließend von jedem Einzelnen sagen können, wie er aussah. Ganz hinten im Saal blieben ein paar Männer unbeirrt an einer Theke stehen, die aus auf Böcken gelegten Brettern bestand, und manchmal hörte er das Zischen einer Bierflasche, die geöffnet wurde. Dieses Zischen hatte keinerlei Wirkung auf ihn. Auch nicht der Anblick der Flaschen, dieser hohen, schmalen, hässlich braunen Flaschen, die es bei Wohltätigkeitsveranstaltungen und Volksfesten gab.

Er hatte Julie versprochen, spätestens um Mitternacht zu Hause zu sein. Sie hatte ihn wie gewöhnlich bis zum Treppenabsatz begleitet und ihm den Schal gerichtet.

»Erkälte dich nicht.«

»Nein.«

Sie hatte ihn geküsst. Dann, als er mit seinen beiden flachen Koffern in den Händen die Treppe hinuntergehen wollte, hatte sie leise gerufen:

»Antoine …«

»Was ist?«

Er hatte schon drei oder vier Stufen unter ihr gestanden und zu ihr hinaufgeblickt. Trotz der schwachen Beleuchtung hatte er gesehen, dass ihre Lippen zitterten und sie sich zu einem tapferen Lächeln zwang.

»Nichts … Geh … Komm schnell wieder.«

Er hatte mit kleinen, leichten Kunststückchen angefangen, die Eindruck machten, wie etwa der Zauberstab, der magische Atem, die drei Halstücher. Er sprach wenig, da er nicht zu denen gehörte, die ihre Nummern mit prahlerischen Ansagen oder sogar mit Witzen ausschmückten. Was sprach, wenn man so sagen konnte, waren seine langen, weißen Hände, die aus den bis zu den Handgelenken hochgestreiften Manschetten ragten und die, wenn sie erst am Zug waren, gleichsam ein Eigenleben entwickelten, sich wie verselbständigten. Hier kamen sie wegen der fehlenden professionellen Beleuchtung, die es eben nur an gutausgestatteten Theatern gab, etwas weniger schön zur Geltung. Trotzdem folgten alle Blicke gebannt den Bewegungen seiner Hände.

»Ich nehme einen Ring wie diesen, einen zweiten wie den, und …«

Das Übrige sagten die Hände, und bald hörte man ein Ah der Verblüffung, ein Lachen, einen Beifallssturm.

Warum beschloss er plötzlich, die magische Uhr zwischen die beiden vorgesehenen Nummern zu schieben? Nur so. Um ihnen eine Freude zu machen. Weil es brave Leute waren, glücklich, dass sie hier in ihrer Sonntagskleidung im Saal sitzen durften.

»Würde einer der Herren aus dem Publikum sich freundlicherweise auf die Bühne bemühen und mir seine Uhr anvertrauen?«

Die Reaktion war mechanisch. Reihe um Reihe sahen sich die Zuschauer zu der jeweils nächsthinteren Sitzreihe um, und dabei entstand so etwas wie eine Wellenbewegung. An den Namen, die gerufen wurden, erkannte Antoine die beliebtesten Zuschauer im Saal. Endlich erreichte die Welle auch den hinteren Teil des Saales und dort einen großen Burschen von Mitte zwanzig, der mit einer Bierflasche in der Hand an der Theke lehnte.

»Geh schon, Eugène!«

Der schüttelte lächelnd den Kopf, sagte einige Worte, die man nicht verstand, und ließ sich dann doch in den Mittelgang schubsen, auf dem er mit wiegenden Schritten nach vorne ging.

»Es stört Sie doch hoffentlich nicht, dass sie aus Gold ist?«, rief er und geriet auf den Stufen zum Podium ins Stolpern.

Als er dem Publikum gegenüberstand, wiegte er sich immer noch hin und her und zwinkerte seinen Freunden zu.

In diesem Augenblick machte es klick, einfach so, zum ersten Mal seit mindestens drei Wochen, seit der Reise nach Le Havre, auf die anzuspielen oder an die auch nur zu denken Antoine und Julie so hartnäckig vermieden. Der junge Mann hatte eine goldene Uhr aus seiner Uhrentasche geholt, eine dicke Uhr mit Gehäuse, die wahrscheinlich vor ihm seinem Vater und vorher seinem Großvater gehört hatte. Als Antoine danach griff und aufsah, um sich bei dem jungen Mann zu bedanken, schlug ihm eine warme Bierfahne entgegen.

Gewiss, noch war nichts entschieden. Noch war Antoine fest entschlossen zu widerstehen. Noch hätte er, ohne rot zu werden, schwören können, dass er widerstehen und gleich nach der Vorstellung in die Rue Daru zurückkehren würde.

Trotzdem wusste er, dass es anders kommen würde, wusste es unterschwellig, tief in seinem Innern, ohne dass er hätte sagen können, warum. Er nannte es den »Auslöser«, ein Begriff, der für ihn alles sagte, den er aber nie aussprach.

Die Zuschauer merkten nichts. Auch der junge Koloss mit der Uhr nicht. Er atmete laut, weil er aufgeregter war, als er zugeben wollte, und er roch immer noch nach Bier. Selbst ohne die Maske hätte man Antoines Gesicht nichts anmerken können. Die Uhr wurde auf ein rosaseidenes Taschentuch gelegt, wie ein Bonbon darin eingewickelt, und als Antoine den auf dem Tischchen zurechtgelegten Hammer ergriff, lief das übliche leichte Frösteln durch den Saal. Als man hörte, wie unter den Hammerschlägen das Glas zerbrach, das Metall zermalmt wurde, verging dem Burschen, den man Eugène nannte, das Lächeln, und es wurde mucksmäuschenstill im Saal.

Nun musste alles schnell gehen, um einen Zwischenfall, eine unangenehme Reaktion zu vermeiden.

»Und jetzt, Monsieur, muss ich Sie um die Erlaubnis bitten, Ihre Uhrentasche zu durchsuchen …«

Er zog die unbeschädigte Uhr daraus hervor. Bravorufe ertönten, und einige Zuschauer erhoben sich von ihren Plätzen. Puterrot im Gesicht, drückte Eugène Antoines ausgestreckte Hand und entfernte sich, wobei er sich mehr denn je in den Hüften wiegte.

Es folgten noch drei andere Kunststücke und ganz zum Schluss die Fahnennummer, alles klappte wie am Schnürchen. Am Ende der Vorstellung kletterten wie immer die Kinder aufs Podium und fragten Antoine aus.

Er zog sich hinter der Leinwand im Hintergrund um, nahm in einem Umschlag seine Gage in Empfang.

»Jetzt, wo Sie fertig sind, werden Sie doch sicherlich ein Gläschen mit uns trinken? Einer aus dem Komitee, der aus Falaise stammt, hat eine Flasche alten Calvados mitgebracht …«

»Vielen Dank, aber ich muss leider ablehnen.«

»Die Leber?«

Er bejahte. Es war einfacher.

»Hüten Sie sich vor den Ärzten!«

Er brach auf. Das Grüppchen um die Theke hinten im Saal hatte sich gelichtet, und die Lampen waren größtenteils gelöscht.

Bis zur Bushaltestelle an der Route Nationale waren es zweihundert Meter. Antoine schlug den Mantelkragen hoch. Ein kalter Wind blies. Nur in jeder vierten oder fünften Wohnung brannte noch Licht. Das Haus an der Ecke war eine Kneipe mit einem einzigen Gast an der Theke, dem Fahrer eines LKW, der in der Nähe geparkt war.

Der Bus musste jede Minute kommen. Antoine ging hinein, stellte nur einen der Koffer ab.

»Einen Cognac. Ganz schnell.«

Er hatte Cognac gesagt und hätte genauso gut Calvados oder Marc oder Weißwein oder Rotwein sagen können. Es war unwichtig. Er sah sich in dem blinden Spiegel, über welchem eine Reklameuhr hing, die elf Uhr fünf anzeigte.

Er nahm einen tüchtigen Schluck, suchte nach Geld in seiner Tasche.

Er wusste es. Als er bezahlte, sagte er:

»Noch mal das Gleiche.«

Der Lastwagenfahrer betrachtete neugierig sein Gesicht, seine Koffer, seinen Mantel und seine schwarze Hose.

»Wie viel?«

Er musste laufen, um seinen Bus noch zu erreichen. Sie waren zu fünft, saßen weit auseinander, sahen alle verloren vor sich hin und zuckten bei jedem Ruckeln des Busses zusammen. In den Straßen mit den gleichförmigen Häuserzeilen, durch die sie kamen, waren nur noch wenige Fenster erleuchtet, und manchmal erahnte man hinter einem Vorhang schemenhaft eine Gestalt. Vor den Geschäften waren die eisernen Rollläden heruntergelassen, aber vereinzelte Bars waren noch geöffnet und wirkten einladend und gemütlich.

An der Porte d’Orléans konnte er entweder in die Metro umsteigen oder in den Bus zur Place des Ternes, zwei Schritte von seiner Wohnung entfernt. Er wusste, wenn er die Metro nahm, würde er unterwegs nicht einkehren. Der Bus dagegen fuhr durch den Boulevard Sébastopol und …

›Wenn an der Porte d’Orléans der Bus nicht bereitsteht, nehme ich die Metro.‹

Er hoffte, dass er nicht da sein würde. Er hoffte aber auch, einen Grund zu haben, unterwegs einkehren zu können. Es war der schlimmste Augenblick, der Augenblick, in dem er noch hellsichtig war, in dem er noch mit sich rang und sich dafür verachtete, dass er nicht mehr Willensstärke aufbrachte.

Nachher würde es ihm dann besser gehen. Auch körperlich. Der Ekel, den er anfangs immer empfand, diese Leere im Magen, diese unangenehme Fiebrigkeit würde nach einem dritten Glas verschwinden. Vielleicht war ja gar nicht der Mann mit der Uhr und der Bierfahne der Auslöser gewesen. Warum nur hatte Julie ihn nochmals zurückrufen müssen, als er schon auf der Treppe war und an nichts dachte?

Gewiss, sie hatte nichts gesagt. Sie hatte ihm zugelächelt und ihm dann, um etwas zu sagen, leise nachgerufen:

»Komm nicht zu spät nach Hause …«

Das war ein Fehler gewesen. Er hatte es ihr schon oft erklärt. Er hatte sie angefleht zu schweigen, gewisse Wörter zu vermeiden, kein erschrecktes oder resigniertes Gesicht zu machen.

Er würde die Metro nehmen, egal, ob der Bus an der Porte d’Orléans bereitstand oder nicht. Aber zuvor würde er noch etwas trinken, um den Geschmack des Cognacs loszuwerden. Bier, zum Beispiel. Ein Glas. Die Bars an der Porte d’Orléans mit ihren großen, modernen, nickel- oder chromglänzenden Theken gehörten nicht zu der für ihn gefährlichen Art. Die Kellner bedienten dort wie am Fließband, sahen ihre Gäste nicht an und riefen die Bestellungen quer durch den Raum:

»Ein Export, eins!«

Wenn er nachher nach Hause käme, würde er Julie ganz ruhig warnen.

»Ich weiß, dass du es gut meinst. Ich verstehe dich ja. Aber bitte, versuch auch mich zu verstehen. Ist das so schwer? Ich bin ein Mann, ein erwachsener Mann. Und nun fängst du auf einmal an, mich grundlos zu belauern, weil du dir einbildest, ich würde …«

Er stieg als Letzter aus, und der Bus stand nicht an der Haltestelle. Eine junge Frau, die seit Bourg-la-Reine mit ihm im Bus gesessen hatte, ging die Treppe zur Metrostation hinunter. Beinahe wäre er ihr gefolgt, allein nur, um seine Koffer nicht länger mit sich herumschleppen zu müssen, die zwar schmal, aber schwer waren. Bloß, er hatte sich ein Bier versprochen. Die Bierzapfstelle war da, hinter den Scheiben der Brasserie, mit dickem Schaum, der an einem Glas herabrann. Das würde seinen Magen wieder in Ordnung bringen. Es war keine Ausrede. Es war tatsächlich so.

Da gab es noch etwas, was Julie nicht verstand. Auch wenn er nun seit dreißig Jahren dieselben Kunststücke vorführte, hatte er doch jedes Mal aufs Neue Lampenfieber. Damit stand er nicht allein, selbst ganz berühmte Leute, die in den Lehrbüchern zitiert wurden, hatten es ein Leben lang. Jeder kleinste Zwischenfall, jede Zerstreutheit, jede Bewegung, die mal danebenging, konnte alles kaputtmachen. In manchen Fällen konnte ein Hustenanfall, ein Niesen eine Katastrophe auslösen.

»Aber du arbeitest doch mit einer solchen Ruhe!«

Äußerlich, ja. Aber innerlich? Er würde Julie die nervliche Anspannung klarmachen, die die unbedeutendste Vorstellung im unbedeutendsten Kaff ihm abverlangte. Hinterher konnte man eben nicht sofort abschalten. Jedes Mal blieb eine große Müdigkeit zurück, eine Art Abgestumpftheit.

»Glaubst du denn«, würde sie ihm zur Antwort geben, »dass das Trinken dir darüber hinweghilft?«

Aber ja. Vorausgesetzt natürlich, er trank nicht zu viel.

»Garçon, ein Bier.«

»Export?«

Das Exportbier war stärker. Er nickte. Das hatte sie nun davon: dass er sich wegen dieses einen Glases Exportbier schämte. So sehr, dass er beinahe den Kellner zurückgerufen und ein gewöhnliches Bier bestellt hätte.

Auch hier gab es Spiegel. In den Bars und Kneipen gab es immer Spiegel, und sein Spiegelbild wirkte so blass und alt, dass ihn der Anblick ganz krank machte.

Er war fünfundfünfzig. Als Kind oder als Heranwachsender kann man sich nicht vorstellen, dass ein Fünfundfünfzigjähriger kurz vor Mitternacht in einer Bar stehen und Skrupel, ja sogar Gewissensbisse haben kann, weil er sich gerade ein Bier bestellt hat.

Und doch war es die Wahrheit, und das Bier schmeckte entsprechend bitter. War es da nicht klüger, nach dem ersten Schluck zu bezahlen und sich beschämt in Richtung Metro davonzumachen? Ein Liebespaar stand ebenfalls an der Theke, genau an der Ecke. Der Mann war zwar noch keine fünfundfünfzig Jahre alt, aber er ging doch stark auf die fünfzig zu, und seine Begleiterin war fünfundzwanzig. Sie tranken beide einen gelblichen Likör, vielleicht einen Chartreuse, und der Mann machte dem Barkeeper ein Zeichen, die Gläser neu zu füllen, während die Frau ihr erstes gierig ausleckte und sich dann lachend an den Mann schmiegte.

Sie genierten sich nicht. Sie waren bereits beschwipst und fröhlich.

Lautlos war der Bus auf seinen dicken Gummirädern vorgefahren und stand nun draußen vor der Brasserie.

»Garçon, wie viel?«

Er zögerte. Wenn er noch ein Bier trank, würde er den Bus verpassen.

Jetzt war er entschlossen. Noch war es ihm nicht voll bewusst. Es war immer viel komplizierter. Und auch vager. Auf jeden Fall wusste er jetzt Bescheid. Und das machte ihn wild, fast bösartig. Er ergriff seine Koffer mit einer Bewegung, als ob er ein dreimal schwereres Gewicht heben würde, und rammte damit gegen die Tür des Busses; er betrachtete die Leute und die Umgebung bereits mit anderen Augen.

Nach der Nacht in Le Havre hatte er feierlich geschworen … Ein großer Fehler. Er wollte niemandem Kummer machen. Vor allem aber Julie nicht. Er liebte Julie. Sie glaubte es auch. Dabei hatte sie keine Ahnung, wie sehr er sie liebte. Er war nicht einfach nur verliebt. Er machte sich nichts vor. Er liebte sie ehrlich, nicht als Wunschtraum, sondern so, wie sie war.

Er hatte ihr das schon öfter klarzumachen versucht. Manchmal glaubte er, dass es ihm gelungen war, dass sie verstanden hatte und dass dadurch alles leichter werden würde. Doch schon eine Stunde später …

Ein Wort genügte, ein Blick, wie an diesem Abend auf dem Treppenabsatz. Sie merkte gar nicht, was sie damit anstellte. Sie handelte gutgläubig, hielt sich für zärtlich, dachte, dass sie ihn so vor sich selbst beschützen konnte.

Am Boulevard Saint-Michel hatten noch alle Bars geöffnet, aber sie interessierten ihn nicht, so wenig wie die am Boulevard Sébastopol. Erst an der Kreuzung zu den Grands Boulevards sprang er plötzlich vom Sitz auf und stürzte zum Ausgang, so schnell, dass die Fahrgäste sich fragen mussten, wie er seine Koffer so schnell hatte schnappen können.

»Verzeihung. Ich steige aus.«

Noch fuhren die Busse im Viertelstundentakt. Notfalls würde er die Metro nehmen und dann eben erst um halb eins in der Rue Daru ankommen. Wenn Julie doch wenigstens schon schlafen würde, statt unbedingt wach bleiben zu wollen.

Egal! Ein Blödsinn, das alles. An der Ecke Rue Saint-Denis war eine kleine Kneipe, wo er als Fünfundzwanzigjähriger manchmal seinen Aperitif getrunken hatte. Die Theke war immer noch aus Zinn, das Licht schmutzig gelb. Und was war mit dem rosigen Mädchen, das damals vor der Bar auf Freier wartete?

Das Seltsame war, dass er nur trinken konnte. Wenn es sein müsste, brauchte er gar nichts zu trinken, könnte er einfach nur dastehen und vor sich hin ins Leere blicken. Doch nein! Dann würde nämlich der Kontakt nicht hergestellt werden. Denn darum ging es in erster Linie – um den Kontakt. Zum Beispiel das Mädchen. Sie war an ihrem Platz: nicht die schlechtgeschminkte Blonde von damals, sondern eine Magere mit schwarzem Haar, die sicher nach Knoblauch roch. Direkt neben der Kneipe lag ein Hotel. Er war vor fünfundzwanzig oder achtundzwanzig Jahren einmal hineingegangen, und er konnte sich sogar noch an den Geruch der Zimmer erinnern.

Das alles war im Moment ohne Bedeutung. Das Mädchen hatte ihn gleichgültig eintreten sehen. Aufgrund seines Berufs erfasste er alles immer auf den ersten Blick. Er wusste, dass sie ihrerseits die beiden flachen Koffer mit den Metallecken, die Frackhose und den schwarzen Mantel registriert hatte, vielleicht auch die Spuren von Schminke in seinem Gesicht. In diesem Viertel war ein solcher Aufzug nicht weiter überraschend. Vielleicht hatte das Mädchen sogar seinen Beruf erraten.

Sie kümmerte sich nicht weiter um ihn und er sich nicht um sie. Er überlegte sich, was er trinken sollte, und als der Wirt ihn fragte, antwortete er:

»Einen Calvados.«

Seine Koffer standen auf dem mit Sägespänen bestreuten Boden. Am Ende der Theke diskutierten zwei Männer laut miteinander.

»Darauf habe ich zu ihm gesagt:

›Ernest, du willst mich wohl für dumm verkaufen, was?‹«

Er zwinkerte. Der andere zwinkerte ebenfalls.

»Was hat er darauf geantwortet?«

»Er ist ganz klein geworden, Mann. Patron! Das Gleiche für Arthur!«

Sie trugen beide form- und farblose Kleidung, hatten kein Alter, kamen von nirgendwo.

Egal. Noch war der Kontakt nicht hergestellt. An einem solchen Abend sollte er ein Blatt Papier nehmen und die Worte aufschreiben, die ihm dann als Merkzeichen dienen würden. Den Kontakt herstellen! Wieder so eine wichtige Frage, die er Julie erklären musste. Nur wusste er schon jetzt, dass sie ihn nicht verstehen würde, weil sie mit niemand anderem Kontakt brauchte als mit ihm. Sie war gleichgültig gegenüber den Leuten, die auf der Straße an ihr vorbeigingen, die zur Metro hasteten oder neben ihr im Milchgeschäft darauf warteten, dass sie drankamen. Sie sah sie kaum. Wenn er ihr die beiden Trinker am Ende der Theke zeigen würde, würde sie fragen:

»Und?«

Das waren Menschen, verdammt noch mal! Auch er war ein Mensch. Sie auch, selbst wenn sie es sich nicht eingestehen wollte. Und die Menschen …

»Patron!«

»Das Gleiche?«

Wie war es nur möglich, dass man eine so einfache Wahrheit wie diese keinem verständlich machen konnte? Seit einer Weile schon hatte er die Silhouette eines Mannes bemerkt, der auf dem Bürgersteig auf und ab ging und sich jedes Mal nach dem Mädchen an dem Tischchen umdrehte. Da – jetzt entschloss sie sich und stand auf. Die beiden Silhouetten würden sich wohl ein paar Meter weiter in der Kälte treffen. Miteinander tuscheln. Der Mann war offenbar weitergegangen, die Hände in den Taschen, während sie zurückkam und sich mürrisch wieder an ihren Platz setzte, wo immer noch ihr Glas stand.

Ihr Blick war dem Antoines begegnet. Sie hatte nicht gleich darauf geachtet. Erst hinterher hatte es sie überrascht. Und da sie verstanden hatte, wandte sie sich ihm zu und zuckte mit den Schultern, was, wie er wusste, so viel bedeutete wie:

›Pech gehabt! Nichts zu machen …‹

Der Kontakt hatte stattgefunden. Sie gehörten beide zur gleichen Klasse. Julie würde sich weigern, das zuzugeben, würde protestieren. Es lag nicht nur daran, dass er Zauberkünstler war, der sich ständig um Engagements bemühen musste. Er gehörte zu diesem Viertel. Selbst seine Frackhose war hier am Platz. Er hätte ebenso gut Kellner oder Kneipenmusikant oder Kontrolleur in einem Theater sein können.

Er freute sich, dass er das gefunden hatte. Er wollte sich revanchieren, ganz diskret. Als er sein Geld aus der Tasche nahm, murmelte er:

»Wie viel?«

Leiser fügte er, mit einer Gebärde zu dem Mädchen hin, hinzu:

»Und noch ein Glas für sie.«

Sie hatte es gehört. Sie hörten alles, diese Mädchen. Als er an ihr vorbeiging, seine beiden Koffer in den Händen, machte sie ihm ein kleines Zeichen.

Eines Tages würde Julie das vielleicht verstehen, und dann würden sie beide vollkommen glücklich sein.

Antoine und Julie

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