Читать книгу Antoine und Julie - Georges Simenon - Страница 4

2

Оглавление

Er musste nicht weit gehen, weil man in diesem Viertel, zwischen der Rue Montmartre und der Place de la République, an allen Straßenecken Kneipen fand. Er zählte gar nicht mehr, wie oft er von der Wärme einer dieser Kneipen in die kalte Luft von draußen getreten war, und jetzt war auf den Trottoirs kein Mensch mehr zu hören, außer in der Ferne zwei Polizisten, die mit gleichmäßigen Schritten dahingingen und deren Pelerinen sie von weitem wie Bleisoldaten aussehen ließen.

Das war die letzte Kneipe. Diesmal war es wirklich die letzte, denn nach dieser gab es keine mehr, es war die einzige, die die ganze Nacht über offen blieb, wie der Wartesaal eines Bahnhofs und ebenso trostlos, auch die Gäste, weil sie aussahen wie Reisende in den Waggons der dritten Klasse, die dort nachts in den schlecht beleuchteten Gängen und sogar auf den Toiletten einnickten.

Einmal hatte Antoine in einem Zug unterwegs nach Verviers in Belgien an die Tür der Toilette gelehnt geschlafen, und alle zehn Minuten waren Fahrgäste über ihn hinweggestiegen. Und Julie? So was hatte sie bestimmt noch nie erlebt.

Darin lag vielleicht der ganze Unterschied, die Ursache für das Missverständnis. Eines Tages würde er sie zum Schlafen in einen Wartesaal voller Leute führen, deren fragende Blicke zu erraten versuchten, wohin das Schicksal sie als Nächstes treiben würde, und Julie und er würden aneinandergelehnt oder mit dem Kopf im Schoß des anderen auf der Bank sitzen und sich eine Decke teilen; es würde nach Tabak, Ruß und Urin riechen, und in einer Ecke würde eine Mutter hastig und fast ein wenig verschämt ihrem Neugeborenen die Windeln wechseln.

Julie musste das kennenlernen. Das war die Lösung.

Hier lag niemand auf dem Boden, nur ein Alter mit verfilzten weißen Haaren schlief an die Wand gelehnt auf einem Hocker, mit einem kindlichen Ausdruck auf dem zerfurchten Gesicht. Zwei Mädchen, wahrscheinlich Nachtclubtänzerinnen, tunkten ihre Croissants in ihren café au lait, und mitten auf der Theke stand ein Gestell aus Eisendraht mit hartgekochten Eiern.

Er hatte sich mit seinem Vergleich vorhin geirrt. Das wahre Zeichen war nicht die Wartesaalatmosphäre, sondern das hier. Er bekam feuchte Augen, weil er es jetzt schon so lange überall gesucht hatte. Was Julie fehlte, war weniger der Wartesaal dritter Klasse, sondern dass sie noch nie harte Eier gegessen hatte. Natürlich hatte sie schon welche im Salat gegessen oder mit Spinat oder auch beim Picknick. Die richtigen harten Eier, die harten Eier, die wirklich Sinn machten, waren die, die man um vier Uhr morgens mit blaugefrorenen Händen verschlang, wenn einem die Füße weh taten und man sein letztes Geld aus der Hosentasche zählte, umgeben von Leuten, die nach krankem Tier rochen.

Er nahm eins. Seit einer Ewigkeit hatte er kein hartes Ei mehr gegessen so wie jetzt, mit seinen beiden Koffern zu Füßen. Sein Blick blieb auf der anderen Seite der hufeisenförmigen Theke an einem Mann hängen, der ihn ebenfalls anschaute. Er war wie er schwarz gekleidet, doch seine Kleidung war von besserer Qualität. Beide waren sie ungefähr gleich alt, gleich groß, hatten beide einen kleinen Bauch. Der Mann trug einen kleinen, dunklen Schnurrbart. Seine rechte Hand zitterte, wenn er sein Glas anhob, und die andere klammerte sich an der Theke fest, als fürchtete er hinzufallen.

Er schämte sich. Weswegen schämte er sich? Antoine wäre gerne zu ihm gegangen, hätte ihm gerne brüderlich auf die Schulter geklopft und ihm gesagt, dass überhaupt kein Grund bestand, sich zu schämen. Schämte er sich etwa? Sein Auge starrte auf einen roten Punkt am Revers des Unbekannten, die Rosette der Ehrenlegion, und der andere, der es erriet, wurde noch verlegener.

Er hatte sicherlich eine Frau, vielleicht eine ganze Familie, eine gemütliche Wohnung. Jedes Mal, wenn die Tür aufging, zuckte er zusammen, als fürchtete er, der Neuankömmling könnte ihn erkennen. Er hatte gepflegte Hände und einen großen goldenen Siegelring am Finger.

»Einen Cognac«, sagte Antoine mechanisch; sein hartes Ei hielt er angebissen in der Hand.

Er hatte keinen Hunger. Er würde das Ei aus Prinzip ganz aufessen, weil es ein symbolisches hartes Ei war. Einmal, als er wirklich Hunger gehabt hatte, vor sehr langer Zeit, hatte er acht Stück gegessen.

»Mit Wasser?«

»Wie Sie wollen.«

Früher hätte er um diese Uhrzeit zum Kellner gesagt:

»Wie du willst.«

Warum konnte er das nicht mehr sagen? Er war schließlich hier zu Hause, das mussten die anderen doch spüren, trotz seines sauberen Mantels und seiner Lackschuhe. Der andere auf der gegenüberliegenden Seite der Theke aber nicht. Der schämte sich, und am nächsten Tag würde er mit einem schlechten Gewissen aufwachen.

Antoine würde kein schlechtes Gewissen haben. Anders als nach der Nacht in Le Havre.

Er runzelte die Stirn, weil der Kerl mit dem beigen Überzieher, der gerade hereinkam, ihn nachdenklich musterte und dann strahlend und mit offenen Armen auf ihn zukam.

»Der alte Antoine!«

Sein Kragen war schmutzig, ausgefranst, sein Bart zwei Tage alt. Er ging und sprach wie im Theater.

»Sag bloß nicht, dass du mich nicht wiedererkennst! Ich sage nur: Concert Pacra! Dagobert!«

Das war schon mindestens achtzehn Jahre her, es war zu einer Zeit gewesen, wo man, wenn man zwanzig Franc brauchte, im Concert Pacra, etwas weiter am Boulevard, eine Nummer abzog. Dagobert war natürlich nicht sein richtiger Name.

»Findest du mich so verändert?«

»Aber nein.«

»Los! Sag schon. Wir werden eben alt, mein Junge. Du hast dich überhaupt nicht verändert. Man sieht, dass du ein gutes Leben führst.«

Er war damals dicker gewesen, hatte erst den dummen August gespielt und dann, der Mode folgend, alle Arten von Komikernummern. Auch wenn er abgenommen hatte, ahnte man doch seine frühere Beleibtheit.

»Darf ich?«, fragte er und streckte die Hand nach der Pyramide harter Eier aus.

Und, mit einem Blick auf die beiden Koffer:

»Kommst du von der Arbeit?«

»Was trinkst du?«

Er wirkte komisch, als er mit vollem Mund antwortete:

»Eine Schokolade, wenn du erlaubst. Zufrieden mit dem Leben? Verheiratet?«

»Verheiratet.«

»Kinder? Nein? Ich habe zwei. Der Ältere ist fünfzehn.«

Antoines Blick wanderte über die Theke zu dem Revers des Mannes mit dem Schnurrbart. Die Rosette war verschwunden. Es sah aus, als würde der Mann mit gesenktem Kopf, die Nase in seinem Glas, beten. Oder versuchte er, die Tränen zurückzuhalten?

In Le Havre hatte Antoine vor der großen Szene ebenfalls geweint.

»Du kannst dir nicht vorstellen, was mir passiert ist …«

Dagobert hatte das mit einer falschen Ungezwungenheit gesagt und ihn gleichzeitig von der Seite scheel angesehen.

»Oder vielleicht doch. Du bist ja vom Bau, und möglicherweise ist dir das früher auch schon passiert. Du weißt ja, wie es mit unserem verdammten Beruf steht. Mit anderen Worten, das ist nichts für einen Profi. Gut! Heute Nachmittag hat man mir einen Vertrag für acht Tage in einem Kino in Nevers angeboten, ein frisch renovierter Saal. Ich sage zu. Ich unterschreibe. Ich gebe den Kumpels eine Runde aus. Ich sollte morgen Abend anfangen. Und weißt du was?«

Antoine wusste es, sagte aber nichts.

»Ich komme nach Hause, und meine Frau sagt mir mit dem unschuldigsten Gesicht der Welt, dass sie das ganze Geld, das noch im Haus war, ausgegeben hat, um dem Jungen Schuhe zu kaufen.«

Der ehemals dicke Mann lachte sein Komikerlachen.

»Zum Totlachen, wie?«

Dann überlegte er, betrachtete Antoines Koffer.

»Du kannst mir wohl nicht so viel leihen, dass ich den Zug nehmen kann? Aber nur, wenn’s dir nicht ungelegen kommt. Du kennst mich ja. Ich habe noch nie Freunde angepumpt. Siehst du, Alter, so wie die Dinge stehen, ist dieses Engagement für mich gewissermaßen …«

Seine Stimme wurde heiser, und er zerdrückte eine dicke Träne, auch das eine Theaterträne, aber doch menschlicher als Julies Tränen. Antoine würde es ihr sagen. Er musste ihr unbedingt diese Wahrheiten sagen.

»Garçon! Noch einen Cognac. Willst du wirklich keinen Cognac mit mir trinken?«

»Also gut, dir zuliebe. Was ich dir da erzählt habe, verstehst du, das ist nur, weil du und ich …«

»Na klar …«

Er gab ihm den Umschlag, seine ganze Gage von Bourg-la-Reine. Er hatte ihn nicht einmal geöffnet. Julie würde ihm deswegen böse sein. Aber nach seinen Erklärungen würde sie ihn endlich ein für alle Mal verstehen.

»Wird deine Frau auch nicht verärgert sein?«

Warum dachte Dagobert an sie, obwohl er sie nicht einmal kannte?

»Nein. Mach dir keine Sorgen.«

»Sobald ich zurück bin, rufe ich dich an. Du hast doch Telefon?«

»Ich habe Telefon.«

»Stehst du im Telefonbuch?«

»Ich stehe im Telefonbuch.«

Und nun begannen sie beide zu lachen, ohne zu wissen, warum, als ob das so lustig sei, im Telefonbuch zu stehen.

»Auf dein Wohl.«

»Auf deins.«

Ein junger hagerer Mann mit dichten Haaren im Nacken hatte sich mit den Ellbogen auf die Theke gestützt, er trank Kaffee und hatte bestimmt nichts gegessen. Wie hypnotisiert schaute er auf die hartgekochten Eier, aber Antoine traute sich nicht …

»Kommst du oft in dieses Viertel?«

»Manchmal.«

»Wohnst du weit?«

»Les Ternes.«

Höchste Zeit, dass er ging. Als er das letzte Mal spät nach Hause gekommen war, hatte er Julie krank vorgefunden. Sie hatte es nicht getan, um Mitleid zu erwecken. Am nächsten Morgen hatte er den Arzt rufen müssen, der ihm einen Vortrag über ihre Nerven und ihr Herz gehalten hatte. Auch ihre Mutter war herzkrank gewesen, was sie aber nicht daran hinderte, zweiundsiebzig Jahre alt zu werden und ihnen bis vor fast drei Jahren das Leben zur Hölle zu machen.

»Fühlst du dich nicht wohl?«

Die rotunterlaufenen Augen des Komikers sahen mehr, als es den Anschein hatte.

»Doch, doch.«

Der andere glaubte ihm nicht, aber seitdem er den Umschlag in seiner Tasche hatte, war es ihm sichtlich gleichgültig. Er sah die Untersätze mit einer fast kindlichen Art an, und Antoine kam nicht umhin, zum Kellner zu sagen:

»Noch zweimal das Gleiche.«

Das war vielleicht das Glas zu viel. Kurz zuvor hatte er sich viel wohler gefühlt. Er war in seiner Umgebung aufgegangen. Es hatte den Kontakt gegeben, wie er sich ausdrückte. Jetzt dachte er nicht einmal mehr daran. Er hätte schwören können, dass er nüchtern war und dass er die Dinge mit einer solchen Klarsicht sah, dass es schon tragisch war.

So wusste er zum Beispiel, dass sein ehemaliger Kamerad – sie hatten sich vielleicht alles in allem zehnmal gesehen! – ihn reingelegt hatte. Vielleicht war er gar nicht verheiratet. Was die Geschichte von Nevers anging, so kannte Antoine sie seit Jahren.

Der Kerl von gegenüber, der heimlich seine Rosette abgenommen hatte, sah ihn plötzlich herausfordernd an. Warum? Der hagere junge Mann hatte sich in Richtung der Halles davongemacht, wo er jetzt vermutlich um die Gemüsekarren herumstrich. Die beiden Tänzerinnen waren schlafen gegangen. Eine alte Frau kam herein, dick, schmutzig und schon betrunken. Sie hatte wohl vor den Nachtlokalen Veilchen verkauft und den Erlös in ihre Schürzentasche gestopft.

Er vergaß seine Koffer nicht. Er hatte sie noch nie vergessen, nicht einmal in Le Havre.

»Soll ich dir behilflich sein?«

»Danke. Ich bin dran gewöhnt.«

»Willst du nicht auf die Metro warten?«

»Ich werde ein Taxi nehmen.«

Er merkte, dass er schwankte, dass seine Bewegungen fahrig geworden waren. Doch das war nur der Körper. Was machte es schon, dass sein Körper die Wirkung des Alkohols zu spüren bekam? Wenn nur sein Geist klar blieb! Und das war er. Würde er sonst erraten, dass der Fahrer Russe war, und sich daran erinnern, dass am Boulevard Haussmann Bauarbeiten im Gange waren?

»Rue Daru, gegenüber der russischen Kirche. Sie kennen die Ecke bestimmt.«

»Ja.«

Es gab überhaupt keinen Grund, dass Julie ihn nicht verstand. Sie liebte ihn, das war unbestreitbar. Folglich müsste sie sich darum bemühen, sich in seine Haut zu versetzen. Er liebte sie ebenfalls, noch mehr als sie ihn. Er machte ihr ihre Fehler nicht zum Vorwurf. Im Gegenteil. Und damit musste er anfangen: ihr erklären, dass er sie ihrer Fehler wegen liebte, weil diese sie menschlich machten.

»Verheiratet?«, fragte er den Taxifahrer.

»Großvater.«

Er sah kein Licht in den Fenstern seiner Wohnung; er holte zuerst seine Koffer heraus, stellte sie an den Rand des Bürgersteigs, ging dann auf die große, braune Tür zu und zog an dem Messingknauf. Auch das Haus hatte ein wenig Schuld. Er hasste es. Er hatte es immer gehasst. Es brachte eine falsche Würde, einen falschen Komfort zum Ausdruck. Selbst die Concierge, die …

Er musste zweimal klingeln. Unter dem Torbogen ließ er einen der Koffer fallen, der einen Riesenlärm machte. Er war darüber verärgert und stammelte seinen Namen, als er an der Loge der Concierge vorbeikam. Er nahm nicht den Aufzug, weil dieser zu laut war, und ging auf Zehenspitzen die drei Etagen hinauf.

Dass er die Tür ohne eine falsche Bewegung aufmachte, war ein Beweis dafür, dass er nicht betrunken war. Wenn er ausging, ließ Julie gewöhnlich eine Nachtlampe in der Diele brennen. Er knipste keine andere Lampe an, zog sich aus, bevor er ins Schlafzimmer ging, legte sich unbemerkt ins warme Bett, ohne irgendwo anzustoßen.

Da sie schon schlief, würde er eben morgen mit ihr reden. Sie hatten viel Zeit. Er hatte sich eingeprägt, was er ihr sagen wollte. Er war traurig und wusste nicht, warum. Er hatte Mitleid, vielleicht mit sich, vielleicht mit ihr, vielleicht mit allen Menschen, die sich gegenseitig weh taten und die so viel Energie verbrauchten, um einige Lebensjahre dahinzuvegetieren, die nicht die Mühe lohnten. Er hatte das Gefühl, dass es doch so leicht wäre. Man brauchte nur …

Julie war glühend heiß, und er fragte sich, ob sie Fieber hatte. Er wollte sie gern berühren, sie zart küssen, aber er fürchtete, sie aufzuwecken. Er war ihr nicht böse, wegen nichts. Er würde ihr nie böse sein. Er lief über vor Zärtlichkeit, so sehr, dass er feuchte Augen bekam. Selbst dieser zusammengeschrumpfte dicke Mann, der ihn angepumpt hatte und sich im Augenblick wohl über ihn lustig machte, kam ihm rührend vor.

Er hörte ein leises Geräusch im Stockwerk über ihnen, und auch das erfüllte sein Herz mit einer unbestimmten Wärme. Es waren Schritte, die Schritte einer alten Frau mit Pantoffeln an den Füßen, die jede Nacht zehnmal aufstand, um ihrem kranken Mann Medikamente zu geben. Offenbar würde er sterben, wenn sie es auch nur ein einziges Mal vergäße. Er war wie eine Lampe, in die man immer wieder Öl nachgießen musste. Seit Monaten flackerte die Flamme, er war fast tot, und er wusste es nicht, er merkte nichts, er konnte sich weder bewegen noch sprechen, und seine Augen hatten den fragend unschuldigen Blick eines Neugeborenen. Sie hatten wenig Geld, gerade genug, um sich über Wasser zu halten. Und aus Angst, die anderen Mieter zu stören, huschte sie wie eine Maus durch die Wohnung, mit einem Gesicht, als wollte sie sich dafür entschuldigen, dass sie noch lebte.

Jetzt hörte er auch Julies Atem, und er hatte den Eindruck, dass er anders klang als üblich. Dann zog sie auf eine bestimmte Art die Nase hoch, woraufhin er den Kopf hob, den Atem anhielt und ein leichtes Zittern des Bettes wahrnahm.

Er schlug die Bettdecke zurück und streckte den Arm nach dem Lichtschalter aus.

»Weinst du?«, fragte er.

Aus Furcht, sie aufzuwecken, hatte er sein Hemd anbehalten und sich die Zähne nicht geputzt. Er sah nur ihren blonden Haarschopf, der so fahl wirkte, dass man kaum merken würde, wenn Julies Haare einmal weiß wären.

Er fragte noch einmal, jetzt ein wenig ungeduldig:

»Weinst du?«

Und sie, ohne sich zu rühren, ohne ihr Gesicht zu zeigen:

»Machst du bitte das Licht aus?«

»Sag mir, warum du weinst.«

Sie musste sich ein Taschentuch auf den Mund halten, um ihre Schluchzer zu unterdrücken. Ihr Rücken zuckte. Er hatte sich im Bett aufgesetzt. Um sie herum wirkten die vertrauten Gegenstände, die Möbel wie erstarrt.

»Warum antwortest du mir nicht?«

»Bitte, Antoine!«

»Ich bitte dich, mit mir zu sprechen, mir zu sagen, was du hast.«

»Schlaf.«

»Hör zu, Julie.«

»Hab Erbarmen, bitte!«

»Nein. Ich will dein Gesicht sehen.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Hörst du? Ich will, dass du mir dein Gesicht zeigst.«

»Bitte, lass mich!«

»Warum denn nicht?«

Er hatte überhaupt nicht laut gesprochen. Doch sie hatte Angst, zeigte die Hälfte ihres Gesichts, ein Auge, das ihn entsetzt anstarrte.

»Was erschreckt dich so?«

Sie biss sich auf die Unterlippe, krümmte sich vor Angst.

»Sag mir einfach, was dich erschreckt.«

Man hätte meinen können, dass sie ihn nicht erkannte oder dass er plötzlich ein Ungeheuer geworden war.

»Was schaust du mich so an? Was habe ich denn Besonderes an mir? Ich habe nichts zu dir gesagt …«

»Bitte, Antoine, sei so gut! …«

»Wahrscheinlich bildest du dir ein, dass ich getrunken habe?«

Es war lächerlich. Er hatte das überhaupt nicht sagen wollen. Er korrigierte sich.

»Du glaubst, dass ich betrunken bin. Aber gerade heute Abend bin ich es nicht.«

»Antoine …«

Sie wirkte älter als sonst. Eine Brust sah aus ihrem Nachthemd hervor, und das erinnerte ihn ein wenig an den zusammengeschrumpften Komiker. Er hatte Mitleid mit ihr. Er liebte sie. Sie brauchte doch nichts anderes zu tun, als ruhig zuzuhören, statt vor ihm zurückzuweichen.

Warum hob sie beide Hände vors Gesicht, als wollte er sie schlagen, wenn er doch die Hand nur ausstreckte, um ihr Gesicht ganz zu sehen?

Er hatte sie noch nie geschlagen. Das heißt: nur zweimal. Das war etwas anderes. Heute war er ruhig, vollkommen beherrscht. Er konnte nicht mehr länger unter der Bettdecke bleiben. Er musste sich bewegen, musste gehen.

»Wohin gehst du?«

Hatte sie geglaubt, er ginge weg? So konnte man sich falsche Vorstellungen machen, weil man die wahren Motive nicht kannte.

»Ich gehe nirgendwohin. Wenn ich recht verstehe, hast du nicht geschlafen. Und liegst seit gestern Abend wach im Bett und machst dir meinetwegen Sorgen. Das ist es doch? Gib es zu. Sprich. Aber so sprich doch endlich, verdammt noch mal!«

Sie stammelte:

»Ich konnte nicht einschlafen.«

»Aha, und deshalb bist du mir böse. Weil du mir die Schuld daran gibst. Du siehst in mir einen Unmenschen.«

»Leg dich hin, Antoine. Du wirst dich erkälten.«

Er hatte Durst. Nicht wegen seines Lasters. Er musste jetzt einfach etwas trinken. Sie hatten immer eine Flasche Rum im Vorratsschrank in der Küche. Er erwartete, dass Julie protestierte, aber sie rührte sich nicht und reagierte nicht. Sie weinte weiter, die Augen zur Decke gerichtet, das Gesicht so entstellt wie bei Kindern, die man manchmal auf der Straße schluchzen sieht.

»Weißt du, ich nehme nur einen Schluck, um meinen Magen zu stärken. Wie du siehst, bin ich ganz ruhig. Siehst du, heute Nacht ist es nämlich nicht wie sonst. Ich musste nachdenken.«

»Willst du unbedingt weitersprechen?«

»Ach so, du willst mich wohl nicht hören, oder?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Was hast du gesagt?«

»Warum müssen wir uns weh tun, wie in Le Havre?«

»Zunächst einmal möchte ich dich darauf hinweisen, dass es in Le Havre deine Schuld war. Am nächsten Tag habe ich allerdings das Gegenteil behauptet und dich sogar um Verzeihung gebeten …«

»Du hast mir versprochen …«

»Weil ich Angst hatte, du bekommst einen Herzanfall.«

»Hast du nicht gemeint, was du gesagt hast?«

Waren das wirklich die letzten Worte, die sie in dieser Nacht noch hatte sagen können? Er hätte in gutem Glauben das Gegenteil behauptet. Er war immer ehrlich. Er hatte nicht den Eindruck eines Monologs und noch weniger den einer Anklagerede. Er war überzeugt davon, dass er Herr seiner selbst war und dass alle seine Sätze nicht nur von der Liebe, sondern auch vom gesunden Menschenverstand diktiert waren.

Er hatte genau gesehen, dass Julie es wieder mit der Angst zu tun bekam, als er seinen Morgenmantel anzog, denn das bedeutete, dass er sich nicht gleich wieder hinlegen würde. Er hatte die Rumflasche auf die Kommode gestellt, doch da er in Fahrt war, machte er sich nicht die Mühe, in der Küche ein Glas zu holen, sondern trank direkt aus der Flasche, ganz einfach nur, um seine Müdigkeit zu bekämpfen.

Hatte er denn nicht das Recht, müde zu sein?

Er musste durchhalten. Diese Aussprache zwischen ihnen war von höchster Wichtigkeit. Sie war – wie sagt man? – wesentlich. We-sent-lich.

»Siehst du, Liebes, was du manchmal aus den Augen verlierst …«

Es gab eine Menge Dinge, die sie aus den Augen verlor. Von welchen hatte er gesprochen? Man musste ihr ein für alle Mal die Wahrheit sagen, ruhig, ohne Groll. Es ist keine Schande, die Wahrheit zu hören.

Warum sollte sie sie nicht akzeptieren?

Sie sagte nichts. Aber nachher war es immer dasselbe Lied.

»Ich habe nichts gesagt. Du hast zwei Stunden lang ganz allein gesprochen.«

Sie behauptete das jedes Mal, vergaß aber zu erwähnen, dass sie eine Art hatte, dazusitzen und ihn anzusehen, die beredter war als alle Reden. Selbst wenn sie einfach nur reglos und mit geschlossenen Augen dasaß, spürte er ihren Widerstand gegen das, was er sagte. Schlimmer: ihre Feindseligkeit.

Das war das richtige Wort: In diesen Augenblicken wurde sie seine Feindin. Sie bildeten keine Einheit mehr. Sie sah ihn an wie einen Fremdkörper, wie einen Fremden.

»Und genau dazu hast du kein Recht. Hörst du mir überhaupt zu?«

Später hatte er vielleicht gesagt:

»Hörst du mir aus Nächstenliebe zu?«

Das war möglich. Schließlich war das gar nicht so übertrieben. Sie gab ihm ein Almosen, so wie er Dagobert eines gegeben hatte, nur dass es ein moralisches Almosen war. So weit waren sie schon. Sie hatte Mitleid mit ihm. Sie versuchte ihn mit allen möglichen Tricks wie ein Kind dazu zu bewegen, sich hinzulegen. Da ihr das nicht gelang, holte sie ihm seine Pantoffeln, während sie selbst ostentativ barfuß übers Parkett ging.

»Machst du das eigentlich absichtlich?«

Sie tat, als verstünde sie ihn nicht, doch er ließ sich nicht täuschen; dafür kannte er sie lange genug.

Er war ihr auch nicht böse. Er wusste, dass sie nicht anders konnte, als in solchen Augenblicken ein so herzerweichendes Gesicht zu machen, dass jeder, der sie nicht näher kannte, sie für eine kreuzunglückliche Frau hielt.

Doch wer von ihnen beiden hatte Grund, unglücklich zu sein? Wer gab immer wieder nach? Wer opferte sich für den anderen auf?

Er! Immer er!

Wenn sie es doch nur einsehen, wenn sie sich ebenfalls bemühen, wenn sie ihm wenigstens das Schmerzlichste ersparen würde, dann würde alles leichter werden.

Ein einfaches Beispiel. Mitten in einem Satz, den er sagte, er wusste nicht mehr, welchen, aber es war ein wichtiger Satz, zeigte sie zur Decke hoch und machte dazu ein flehendes Gesicht, als ob er nicht wüsste, dass die alte Frau zwischen zwei Medikamentenverabreichungen ihren Schlaf brauchte. Wenn nämlich einer von ihnen beiden auf das Unglück der Leute Rücksicht nahm, dann er. Julie interessierte sich für die Alte doch nur, weil sie eine Herzogin war, die ihr ganzes Vermögen verloren hatte und sich nicht beklagte.

Was würde passieren, wenn er ihr völlig unerwartet gestand, dass er seine ganze Gage dem alten Komiker gegeben hatte, von dem er nicht einmal den richtigen Namen wusste? Sie würde ihm Vorwürfe machen und ihm eine ganze Liste von dringenden Anschaffungen aufzählen, auf die sie seinetwegen immer wieder verzichten musste.

»Weißt du, Julie, deine Art von Güte …«

Sie waren zu zweit in dem überheizten Zimmer mit dem rosigen Licht, das die Arbeiter, die zur Frühschicht gingen, von draußen sehen konnten, zwei Menschen, die sich auszusprechen und das Zusammenleben einfacher und angenehmer zu gestalten versuchten. Doch war es wirklich das?

Am nächsten Tag beim Aufstehen würde Julie wieder behaupten, dass sie den Mund nicht aufgemacht und dass er wieder einmal Gespenster gesehen hatte.

Aber er war kein Mann, der Gespenster sah.

»Ich tue alles, um dich glücklich zu machen. Warum kannst du die Dinge nicht endlich mal sehen, wie ich sie sehe?«

Hatte sie ihn tatsächlich gefragt, ob er unglücklich sei? Vielleicht nicht mit Worten. Mit Sicherheit nicht, wenn man ihr Glauben schenken durfte. Und sie war keine, die log. Sie stellte die Dinge auf andere Weise dar, hatte eine Art, ihn anzuschauen, die Nase hochzuziehen, sich zu verhalten, die Bände sprach, und er musste dann wieder zwischen den Zeilen lesen.

»Wenn du es genau wissen willst, ja, ich bin unglücklich! Nicht so unglücklich, dass ich mir eine Kugel durch den Kopf schieße oder es von den Dächern posaune. Aber doch unglücklich genug, dass ich manchmal …«

Es war seltsam: Das Zimmer, sein Körper, alles hatte sich aufgelöst, fühlte sich wie tot an, während sein Geist wacher war als je zuvor.

Er sprühte nur so von Ideen, die sich mit Erinnerungsfetzen zu überraschenden Bilderfolgen verdichteten, wie zum Beispiel dem Mann mit dem dunklen Schnurrbart und der Rosette der Ehrenlegion am Revers.

Voller Eifer erzählte er Julie von ihm, wie von einem Bruder im Geiste. Es war kein Plädoyer in eigener Sache, denn es handelte sich ja schließlich nicht um ihn selbst.

Im Grunde ging es ihm ums Prinzip. Ja, genau, ums Prinzip. Und um den ewigen Gegensatz zwischen Mann und Frau, zwischen Adam und Eva.

»Warum sollte es bei uns anders sein?, frage ich dich. Sag’s mir. Sag’s mir doch. Oder muss der Geist der Travots um jeden Preis recht behalten …«

Travot war Julies Mädchenname. Es war der Name ihres Vaters, der an der Ecke des Boulevard de Courcelles und der Rue des Batignolles dreißig Jahre lang eine Apotheke geführt hatte. Es war der Name der alten Frau, die in den ersten Jahren ihrer Ehe ihre Wohnung mit ihnen geteilt hatte. Eine feindliche Welt und Inbegriff all dessen, was er an Julie nicht liebte und ihr unbedingt auszutreiben versuchte.

»Wenn du verdaut hast, was ich dir heute Nacht ganz ruhig und in aller Liebe sage, wirst du kommen und dich selig lächelnd in meine Arme schmiegen, vielleicht auch ein paar Tränen weinen, aber erlösende Tränen …«

Und dann war er es, der weinte. Die Rumflasche war vermutlich leer gewesen, als er sich im Morgenmantel aufs Bett geworfen und schluchzend sein Gesicht ins Kopfkissen gedrückt hatte.

Später, als er wieder zu sich kam, war er im Badezimmer, im Unterhemd, ohne Morgenrock, und Julie hielt ihm den Kopf über die Klosettschüssel. Draußen musste schon Tag sein, denn die Milchglasscheiben waren von schneeigem Weiß. Vielleicht schneite es auch, schließlich war Januar.

Hatte er durch eine falsche Bewegung das Glas Wasser, das ihm seine Frau hinhielt, auf die Fliesen fallen lassen?

Ihm wurde plötzlich schlecht, nicht nur physisch, sondern auch schlecht vor Angst, und gleichzeitig spürte er einen bohrenden Schmerz im Kopf.

»Leg dich hin. Schlaf.«

Dann hatte sie hinzugefügt:

»Denk an nichts.«

Hatte sie das wirklich gesagt? Er hatte sie auf Zehenspitzen umhergehen hören. Ein Fuhrwerk, von schweren Gäulen gezogen, fuhr mit ohrenbetäubendem Hufgeklapper durch die Straße – und durch seinen Schädel! –, dann hörte er die Rufe eines Zeitungsverkäufers an der Ecke des Faubourg Saint-Honoré.

Jetzt wusste er wieder, wer er war. Später, sehr viel später, tastete seine Hand vorsichtig wie ein Tier, bevor es seinen Bau verlässt, nach Julies Platz im Bett und fand nur noch ein Stück kaltes Laken. Ihn schauderte, und er krümmte sich vor Angst zusammen und zog die Decke über den Kopf.

Er merkte nicht, dass er wieder einschlief.

Antoine und Julie

Подняться наверх