Читать книгу Aus den Akten der Agence O - Georges Simenon - Страница 5
IV Wo Torrence über die Untätigkeit seines Chefs entsetzt ist und Letzterer endlich doch noch ein paar Anweisungen gibt
ОглавлениеDrei Uhr morgens in der Cité Bergère. Torrence hat auf dem Elektrokocher Wasser heiß gemacht und bereitet Kaffee zu. Émile hat sich auf einer schmalen Couch ausgestreckt und starrt an die Decke.
»Was ich nicht verstehe, falls es dich interessiert, wie ich darüber denke«, sagt Torrence schließlich, »ist, dass du nicht mal ins Majestic rübergehst, um nachzusehen. Ich gebe zu, dass Barbet selten irgendeinen Hinweis übersieht. Und habe selbst alles noch mal überprüft …«
Émile reagiert nicht. Schwer zu sagen, ob er Torrence’ Stimme überhaupt hört. Es sieht eher nicht danach aus.
»Kurz und gut, wie ist die Lage? Wir wissen nur, dass der Einbrecher, ob Mann oder Frau …«
»Frau«, fällt Émile ihm trübselig ins Wort.
Er hält es für unangebracht hinzuzufügen, dass er sie, als sie ein paar Stunden zuvor miteinander getanzt haben, so fest an sich gedrückt hat, dass er an ihrer Weiblichkeit keine Zweifel hegt.
»Meinetwegen. Also wie ich schon sagte, wir haben den Beweis, dass die Einbrüche von einer Frau begangen wurden und dass sich diese Frau unter den Namen Dolly Morrison und James Morrison im Hotel Majestic eingetragen hat, was wohl recht praktisch war. Denn so konnte sie mal als junge Frau, mal als junger Mann auftreten. In einem Hotel von der Größe des Majestic wäre es kaum jemandem aufgefallen, dass sie nie zusammen gesehen wurden. Und was die Frage betrifft, ob sie nun wirklich Glatzenteddys Tochter ist … Wer immer sie auch ist, sie ist uns entwischt. Bleibt nur noch eine Frage, die einzige, die überhaupt noch zählt: Wo hat sie die Juwelen versteckt? Denn wir können sicher sein, dass sie dort auftauchen wird, wo sich der Schmuck befindet. Das Majestic wird überwacht. Wir haben in keinem der beiden Zimmer etwas gefunden. Und sie hat auch nichts in einem der Hotelsafes deponiert.«
Émile meldet sich mit verträumter Stimme:
»Für einen Polizisten bist du wirklich gesprächig, Torrence!«
»Und du bist wirklich apathisch! Ich frage mich allmählich, ob dir klar ist, dass uns die Zeit davonläuft. Sicher, ich habe der Polizei ein Bild von unserer süßen kleinen Gangsterbraut gegeben, und im Augenblick beobachten die jeden Bahnhof und jeden Hafen.«
»Hör mal, Torrence, wenn du nicht deine Klappe hältst, gehe ich raus und lege mich auf den Treppenabsatz.«
Nun, mal sehen … Wenn also … Wegen Torrence’ Geschwätzigkeit muss Émile mit seinen Überlegungen von vorne anfangen. Wenn also diese Frau dreizehn Einbrüche begangen hat, wenn sie sich zwei Zimmer in einem großen Pariser Hotel leisten kann, wenn noch keins der Schmuckstücke verkauft wurde, wenn sich die Juwelen offensichtlich nicht im Hotel befinden …
»Gibst du mir bitte eine Tasse Kaffee, Torrence?«
Was hat Glatzenteddy in so einem Fall gemacht? Wir wissen es nicht, denn er hat nie mit jemandem über seine Methode gesprochen. Aber zumindest von einer Sache ist Émile überzeugt: Das Mädchen hat nicht gelogen. Sie ist wirklich Glatzenteddys Tochter. Und es ist durchaus möglich, dass sie diese Einbrüche begangen hat, um ihren Vater aus dem Gefängnis freizukaufen.
Das ergibt alles einen Sinn. Es klingt nach der Wahrheit …
Gut! Sie ist also in Paris. Erfolgreich dreht sie ihr erstes Ding auf dem Boulevard de Strasbourg. Dann folgt ein Einbruch dem anderen, fast wöchentlich.
Was macht sie mit ihrer Beute? Das ist die Hauptfrage. Was macht sie mit den Juwelen, bis sie genug zusammen hat, um ins Ausland zu reisen und sie dort zu verkaufen?
Als wäre er den Gedankengängen seines Chefs gefolgt, ruft Torrence, während er eine zweite Kanne Kaffee macht:
»Sie muss irgendwo in Paris noch einen Unterschlupf haben.«
»Ich wette dagegen.«
Warum? Erstens, weil sie zu klug dafür ist. Und zweitens, weil sie genauso verfährt wie ihr Vater, der während seiner langen Karriere nur einmal geschnappt wurde, und weil sie diese Arbeitsweise durch äußerste Sorgfältigkeit perfektioniert.
Abgesehen davon hat die Polizei, obwohl Glatzenteddy jetzt schon seit einigen Monaten sitzt, noch nicht eins der gestohlenen Schmuckstücke gefunden!
Außerdem haben sie in ihrem Zimmer im Majestic einen Koffer mit einem Geheimfach voller Diebeswerkzeug entdeckt. Wenn das Mädchen tatsächlich noch eine zweite Unterkunft in Paris bewohnen würde, hätte sie diese kompromittierende Ausrüstung wahrscheinlich dort aufgehoben.
»Hättest du was dagegen, dich hinzusetzen, anstatt wie ein Bär im Zirkus auf und ab zu tänzeln?«
»Ich versuche nur, nicht einzuschlafen«, murrt Torrence. »Wenn wir schon die ganze Nacht hier rumsitzen müssen …«
Also, fangen wir noch mal ganz von vorne an. Diesmal macht sich Émile seine Gedanken in der ersten Person. Er versucht sich in die junge Frau hineinzuversetzen. Er wird zum Juwelendieb. Er hat gerade erfolgreich sein erstes Ding gedreht. Er hat die Juwelen in seiner Tasche, sie sind nicht sehr schwer. Er hat nur die wertvollsten Stücke genommen, vorzugsweise Diamanten …
Was wird er mit ihnen machen?
Eine tiefe Falte zieht sich über seine Stirn. Wie besessen starrt er immer noch auf denselben Punkt an der Decke.
Notgedrungen müssen die Juwelen für Wochen oder sogar Monate an einem sicheren Ort bleiben …
Für den Fall, dass ich verhaftet oder verfolgt werde oder mein Aufenthaltsort entdeckt wird …
Er spürt, dass er der Wahrheit näher kommt. Verflucht! Ob sie verdächtigt wird, ob man sie verfolgt, ob ihr Gepäck mag durchsucht werden – alles, was zählt, ist, dass niemals ein Beweis gegen sie gefunden wird.
»Hast du’s jetzt begriffen, mein kleiner Torrence?«
Der kleine Torrence von einem Meter achtzig sieht seinen schmalen Chef mit geweiteten Augen an.
»Was soll ich begriffen haben?«
»Wie viele Postämter gibt es hier in Paris?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht hundert.«
»Wie spät ist es?«
»Halb fünf.«
»Würde es dir was ausmachen, den Chef der Kriminalpolizei zu wecken? Du weißt, dass er einem ehemaligen Mitarbeiter von Kommissar Maigret keine Bitte abschlagen würde. Bitte ihn, uns später für eine Stunde so viele Männer auszuleihen, wie er entbehren kann. Du kannst dir vorstellen, wie wichtig es ist, dass das sofort geschieht. Die Postämter machen um acht Uhr auf, richtig? Also an jedem Postamt … Hast du es jetzt begriffen? Gib jedem Mann ein Foto, nur vom Gesicht, nicht von der Kleidung. Nein, keinen Kaffee mehr, danke! So, ich werde in der Zwischenzeit ein wenig die Augen zumachen …«
Paris wird langsam lebendig. Der Nebel hat sich verflüssigt und fällt als eiskalter Nieselregen herab. Die Straßen scheinen von Glanzlack überzogen. In dem Moment erscheinen bei allen Postämtern, die gerade erst aufmachen, noch verschlafene und missmutige Männer.
»Kriminalpolizei. Können Sie mir sagen, ob vor Kurzem eine Person, die dieser hier ähnlich sieht …«
Émile schnarcht. Man kann sich kaum vorstellen, dass ein so dünner junger Mann so geräuschvoll schläft. Es ist kurz vor neun, als Torrence ihn weckt.
»Chef! Chef!«
»Wo?«, fragt Émile, sofort im Vollbesitz seiner Sinne.
»Dunkerque … Hôtel Franco-Belge.«
»Das Telefon! Schnell!«
»Das Hotel?«
»Ja, das Hotel. Und auch die Polizei von Dunkerque. Beeil dich!«
Sie haben beide noch ihren Smoking von letzter Nacht an. Die Hemden leuchten nicht mehr so frisch, und beiden sind Bartstoppeln gewachsen. Darüber hinaus hat Torrence fast überall seine Pfeifenasche verstreut. Das Büro riecht wie am Morgen nach einer Party, und schmutzige Tassen und Croissantreste sind über die Schreibtische verteilt.
»Hallo, Vermittlung, würden Sie mich bitte mit der Nummer 180 in Dunkerque verbinden? Und gleich danach mit der Nummer 243 … Ja, es ist wichtig … Eine offizielle Angelegenheit.«
Émile ist wieder in sein kleines Büro gegangen. Er hat es wirklich mit Verzeichnissen. Dunkerque … Es war halb zwölf, als sie das Pélican verlassen hat. Gut. Vor halb sieben gibt es keinen Zug nach Dunkerque.
Und wenn sie das Auto genommen hat? Er zählt die Kilometer auf der Straßenkarte und überschlägt es im Kopf …
Das Telefon klingelt.
»Chef! Das Hôtel Franco-Belge.«
»Hallo? Spreche ich mit dem Hoteldirektor? Der Direktor ist nicht da, sagen Sie? Sie sind die Rezeptionistin? Hier spricht die Polizei …«
Nicht nötig, zu sagen, dass es nur eine Privatdetektei ist.
»Hören Sie, Madame, in den letzten paar Wochen müssen Sie mehrere kleine Päckchen für einen Gast erhalten haben, Madame Olry … Stimmt das?«
Die Rezeptionistin wiederholt den Namen.
»Madame Olry? Warten Sie, ich frage nach. Ich hab mit der Post nichts zu tun … Jean! Ist irgendwelche Post für eine Madame Olry gekommen? Wie bitte? Ja, Monsieur, es stimmt. Die Dame hat uns anscheinend irgendwo aus dem Ausland geschrieben und uns gebeten, ihre Post für sie aufzuheben … Jean! Woher kommt die Post für die Dame? Nur einen Moment, Monsieur … Wie bitte, Jean? Aus Bern in der Schweiz?«
Und dann kommt ihre Stimme lauter durch das Telefon.
»Aus Bern, Monsieur. Anscheinend sind hier mehrere kleine Päckchen für sie angekommen. Einen Moment bitte, Madame … Jean, kümmerst du dich bitte mal um Madame?«
War es Intuition? Émile wird blass.
»Bitte legen Sie nicht auf, Madame! Madame! Sagen Sie, haben Sie nicht eben mit einer Frau gesprochen, die in Ihr Hotel gekommen ist?«
»Ja, Monsieur.«
»Ist die Frau mit einem Auto gekommen?«
»Einen Moment. Ich seh mal nach … Ja, Monsieur, vor der Tür steht ein Auto. Ein Taxi aus Paris …«
»Bitte sprechen Sie nicht so laut, um Himmels willen! Und sprechen Sie nicht so viel! Hören Sie nur zu, was ich Ihnen jetzt sage. Sie dürfen die Frau auf keinen Fall gehen lassen. Sie wird Sie wahrscheinlich nach der Post für Madame Olry fragen. Sie müssen unbedingt …«
»Sie glauben, dass das Madame Olry ist?«
»Dumme Kuh!«, ruft Émile wutentbrannt.
Die ahnungslose Rezeptionistin tappt mitten in den Fettnapf, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. Selbstverständlich wendet sie sich sofort zu der Frau um und fragt:
»Sie sind Madame Olry, nicht wahr? Ich hab hier jemanden am Telefon, der …«
»Halten Sie um Himmels willen den Mund!«
»Was? Ich kann Sie nicht verstehen?«
»Verdammt! Was macht die Dame jetzt?«
»Warten Sie. Ich rufe sie zurück. Madame! Hören Sie, Madame! Was in aller Welt … Jean, lauf der Dame nach und frag sie, ob sie … Hallo? Sind Sie noch da? Können Sie sich das vorstellen? Die Dame ist wieder ins Auto gestiegen … Ja, Jean? Das Taxi ist abgefahren, sagst du? Hallo? Das Taxi ist wieder abgefahren, Monsieur. Sagen Sie mir, was ich jetzt tun muss. Was ist, wenn jemand die Päckchen abholen will?«
»Wo sind sie?«
»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich in der Schreibtischschublade, wo wir die Post für unsere Gäste aufheben. Wir kriegen eine Menge davon.«
»Madame, Sie müssen diese Päckchen sofort in Ihrem Safe einschließen. Sie dürfen sie niemandem aushändigen. Wenn die Dame zurückkommt … Aber das ist wohl kaum zu befürchten. Nach dem, was sie gehört hat, ist das nicht sehr wahrscheinlich. Nein, sie wird sicher nicht zurückkommen, Madame. Auf Wiederhören, Madame.«
Als er auflegt, funkeln seine Augen wild. Er wischt sich über die Stirn und lässt sich auf einen Stuhl fallen.
»Wenn ich diese Idiotin von Rezeptionistin in die Finger kriege!« Und Torrence, der von alldem nichts mitbekommen hat, fragt:
»Was ist denn los?«
»Wir hatten sie schon in der Falle! Während ich am Telefon war, stand sie in der Hotellobby. Sie war gerade aus Paris gekommen, mit einem Taxi! Noch ein paar Sekunden mehr, und sie hätte die Päckchen verlangt, die dort für sie lagen. Wir hätten nur noch dafür sorgen müssen, dass in dem Moment die Polizei reinkommt und sie festnimmt. Ich wusste, dass ich nicht auf dem Holzweg war, ich konnte mich unmöglich geirrt haben. Es musste einfach ein Hotel in der Nähe der Grenze sein. Verstehst du, Torrence? Es ist ganz simpel. Nach jedem Einbruch sind die Juwelen einfach in kleinen Päckchen abgeschickt worden, adressiert an eine Madame Olry, und nicht mal per Einschreiben. Direkt zu einem Hotel an der belgischen Grenze. Damit, falls irgendwas schiefgeht …«
Er nimmt eine Zigarette aus der Schachtel, aber wie üblich vergisst er, sie anzustecken. Allmählich beruhigt er sich wieder. Am Ende muss er sogar lächeln.
»Sie muss sich wirklich gefragt haben, wie ich …«
Es war gleichzeitig ein Gefühl der Zufriedenheit und der Wut: das Gefühl, gegen einen starken Gegner gekämpft zu haben; das Gefühl, es mit einem Ebenbürtigen zu tun gehabt zu haben.
Und diesmal hat keiner verloren!
Zumindest hat Émile die Juwelen wiedergefunden, und das war alles, was die Versicherung von ihm verlangt hat. Aber Dolly … Aber war es Dolly? Oder Denise? Wie auch immer, inzwischen hatte sie genug Zeit, über die Grenze zu kommen.
Er würde sie wahrscheinlich nie wiedersehen.
Wie würde sie ihn in Erinnerung behalten?
Wie würde er sie in Erinnerung behalten?
»Was soll ich jetzt tun, Chef?«, will Torrence wissen.
»Du rufst jetzt besser die Versicherung an. Bitte sie, jemanden vorbeizuschicken, der dich nach Dunkerque begleiten soll. Du wirst ihnen sagen, dass … Nun, dass du letzte Nacht, dank deiner besonderen Vorgehensweise und der unvergleichlichen Organisation der Agence O, entdeckt hast, dass …«
»Der Direktor der Kriminalpolizei wird sicher wissen wollen, was aus der jungen Frau geworden ist.«
»Tja, sag ihm einfach die Wahrheit. Sag ihm, dass du keinen blassen Schimmer hast!«
In dem Moment klingelt es an der Tür. Barbet kann nicht aufmachen, denn er überwacht immer noch das Majestic. Also öffnet Émile selbst, ohne daran zu denken, dass er immer noch seinen Smoking trägt.
»Sie möchten den Chef sprechen? Wen darf ich melden? Bitte nehmen Sie Platz, ich sehe mal nach, ob er Sie empfangen kann.«
Deutsch von Sabine Schmidt