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4 Der Zweite Offizier der Seeteufel

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Der Bahnhof von La Bréauté, wo Kommissar Maigret um halb acht aus dem Fernzug Paris– Le Havre ausstieg, gab ihm einen Vorgeschmack von Fécamp.

Eine schlecht beleuchtete Bahnhofsgaststätte mit schmutzigen Wänden und einer Theke, auf der ein paar trockene Kuchen vor sich hin schimmelten und drei Bananen und fünf Orangen versuchten, eine Pyramide zu bilden.

Hier toste der Sturm noch wütender. Es goss in Strömen. Um von einem Bahnsteig zum anderen zu gelangen, watete man bis zu den Knien im Matsch.

Ein ungemütlicher kleiner Zug mit Waggons, die schon lange ausrangiert gehörten. Bauernhöfe, die sich undeutlich, verwischt von Regenschnüren, im bleichen Morgenlicht abzeichneten.

Fécamp! Ein durchdringender Geruch nach Stockfisch und Hering. Haufen von Fässern. Masten hinter den Lokomotiven. Irgendwo heulte eine Sirene.

»Quai des Belges?«

Immer geradeaus. Man brauchte nur durch die zähflüssigen Pfützen zu laufen, in denen die Schuppen der Fische glitzerten und ihre Eingeweide verfaulten.

Der Kunstfotograf war auch Krämer und Zeitungshändler. Er verkaufte Südwester, Matrosenjacken aus Segeltuch, Hanfseile und Neujahrskarten.

Ein farbloser, schmächtiger Mann, der seine Frau zu Hilfe rief, sobald das Wort »Polizei« gefallen war. Und sie, eine schöne Normannin, sah Maigret fast provozierend in die Augen.

»Können Sie mir sagen, welches Foto in diesem Umschlag war?«

Es dauerte lange. Er musste dem Fotografen die Wörter aus der Nase ziehen, an seiner Stelle denken.

Das Bild war mindestens acht Jahre alt, denn seit acht Jahren machte er solche Aufnahmen nicht mehr. Er hatte sich einen neuen Apparat gekauft und verkaufte nur noch Fotografien im Postkartenformat.

Wer hatte sich vor acht Jahren von ihm fotografieren lassen? Es dauerte eine Viertelstunde, bis Monsieur Moutet sich daran erinnerte, dass er Abzüge aller Porträtfotos in einem Album aufbewahrte.

Seine Frau holte das Album. Matrosen traten ein und gingen wieder. Kinder verlangten Bonbons für einen Sou. Draußen knarrten die Takelagen der Schiffe. Man hörte das Meer über den Kieselstrand am Deich fluten.

Maigret blätterte das Album durch und präzisierte:

»Eine junge Frau mit braunen, sehr feinen Haaren …«

Das genügte.

»Madame Swaan!«, rief der Fotograf.

Und gleich fand er das Bild. Es war das einzige Mal, dass er ein vorzeigbares Modell gehabt hatte.

Die Frau war hübsch, etwa zwanzig Jahre alt. Das Foto passte genau in den Umschlag.

»Wer ist das?«

»Sie wohnt noch in Fécamp. Aber heute besitzt sie eine Villa an der Steilküste, fünf Minuten vom Kasino entfernt.«

»Verheiratet?«

»Damals nicht. Sie arbeitete als Kassiererin im Hôtel du Chemin de Fer.«

»Also direkt gegenüber dem Bahnhof!«

»Ja, Sie haben es bestimmt gesehen, als Sie kamen. Sie ist Waise, stammt aus einem kleinen Ort hier in der Gegend. Les Loges … Kennen Sie ihn? … Sie hat einen Reisenden kennengelernt, der im Hotel abstieg, einen Ausländer. Sie haben geheiratet … Zurzeit lebt sie in der Villa mit ihren zwei Kindern und einer Haushälterin.«

»Monsieur Swaan wohnt nicht in Fécamp?«

Es gab eine Pause, und der Fotograf und seine Frau wechselten einen Blick. Dann sprach die Frau.

»Da Sie von der Polizei sind, ist es besser, alles zu sagen, nicht wahr? Außerdem werden Sie es sowieso erfahren … Es sind nur Gerüchte … Monsieur Swaan ist fast nie in Fécamp. Wenn er kommt, dann nur für ein paar Tage. Manchmal ist er bloß auf der Durchreise.

Das erste Mal kam er kurz nach dem Krieg. Da waren wir gerade dabei, den Fischfang in Neufundland wiederaufzunehmen, den wir fünf Jahre lang aufgegeben hatten.

Er wollte die Sache angeblich prüfen und Geld in die Geschäfte stecken, die sich abzeichneten.

Er behauptete, Norweger zu sein. Mit Vornamen heißt er Olaf. Die Heringsfischer, die manchmal bis nach Norwegen kommen, sagen, dass dort oben viele so heißen.

Trotzdem gab es Gerüchte, dass er in Wahrheit ein deutscher Spion wäre.

Darum haben wir, als er heiratete, seine Frau geschnitten.

Dann haben wir erfahren, dass er Seemann ist und als Zweiter Offizier an Bord eines deutschen Handelsschiffs fährt und deshalb so selten hier ist.

Schließlich haben wir das Interesse an ihm verloren, aber die Leute hier sind eben immer misstrauisch …«

»Sie sagten, dass er Kinder hat?«

»Zwei. Ein Mädchen von drei Jahren und ein Baby, ein paar Monate alt.«

Maigret nahm das Bild aus dem Album und ließ sich den Weg zur Villa beschreiben. Es war noch zu früh für einen Besuch.

Zwei Stunden wartete er in einem Café am Hafen und hörte den Seeleuten zu, die sich über die auf Hochtouren laufende Heringsfischerei unterhielten. Fünf schwarze Kutter lagen am Quai. Fass um Fass wurden Fische entladen, und trotz des Sturms hing der Gestank überall.

Auf dem Weg zur Villa ging er den verwaisten Deich entlang und umrundete das geschlossene Kasino, an dessen Wänden noch die Plakate vom letzten Sommer hingen.

Schließlich stieg er einen steilen Pfad nach oben. Da und dort sah er den Zaun einer Villa.

Diejenige, die er suchte, war aus rotem Backstein, von mittlerer Größe und durchaus ansehnlich. Man sah, dass der Garten mit den weißen Kieswegen in der schönen Jahreszeit sorgfältig gepflegt wurde. Von den Fenstern aus musste man einen weiten Blick haben.

Er läutete. Eine Dänische Dogge näherte sich, um ihn, ohne Gebell, doch mit umso grimmigerer Miene, durch das Gitter zu beschnüffeln. Beim zweiten Läuten erschien eine Haushälterin, die den Hund in einen Zwinger sperrte und dann fragte:

»Was wollen Sie?«

Sie sprach den örtlichen Dialekt.

»Ich würde gern mit Monsieur Swaan sprechen, wenn es möglich ist.«

Sie schien zu zögern.

»Ich weiß nicht, ob Monsieur gerade da ist … Ich werde fragen …«

Sie hatte das Gittertor nicht geöffnet. Es goss immer noch in Strömen. Maigret war völlig durchnässt.

Er sah die Haushälterin die Treppe hochgehen und im Haus verschwinden. Dann bewegte sich ein Vorhang an einem der Fenster. Etwas später kam die Frau zurück.

»Monsieur wird erst in ein paar Wochen wieder da sein. Er ist in Bremen …«

»In diesem Fall möchte ich gern mit Madame Swaan sprechen.«

Sie zögerte erneut, öffnete aber schließlich das Tor.

»Madame ist noch nicht angekleidet. Sie müssen warten.«

Er wurde in ein blitzblankes Wohnzimmer mit weißen Gardinen an den Fenstern und gebohnertem Parkett geführt. Das Wasser tropfte ihm von den Kleidern.

Die Einrichtung bestand aus neuen Möbeln, wie man sie in jedem kleinbürgerlichen Haushalt vorfindet. Sie waren von guter Qualität und in einem Stil, der um 1900 als modern gegolten hätte.

Helle Eiche. Blumen in einer kunstgewerblichen Steingutvase in der Mitte des Tischs. Bestickte Zierdeckchen.

Auf einem runden kleinen Tisch allerdings ein prachtvoller silberner Samowar mit Gravuren, der allein mehr wert war als das ganze übrige Mobiliar.

Irgendwo im ersten Stock gab es ein Geräusch. Zudem weinte hinter einer Wand im Erdgeschoss ein Baby, und eine Stimme flüsterte etwas, leise und gleichförmig, um es zu beruhigen.

Schließlich gedämpfte Schritte im Korridor. Die Tür öffnete sich. Und Kommissar Maigret sah sich einer jungen Frau gegenüber, die sich eilig angezogen hatte, um ihn zu empfangen.

Sie war mittelgroß, eher füllig als mager und hatte ein hübsches, ernstes Gesicht, auf dem sich in diesem Moment eine vage Beunruhigung abzeichnete.

Dennoch lächelte sie und fragte:

»Wollen Sie nicht Platz nehmen?«

Von Maigrets Mantel, von seiner Hose, seinen Schuhen rannen Wasserfäden und bildeten kleine Pfützen auf dem gebohnerten Boden.

So konnte er sich nicht auf die weichen grünen Plüschsessel des Zimmers setzen.

»Madame Swaan, nicht wahr?«

»Ja, Monsieur …«

Sie sah ihn fragend an.

»Entschuldigen Sie die Störung … Es ist eine reine Formsache … Ich bin von der Fremdenpolizei. Wir versuchen im Moment alle Ausländer zu erfassen …«

Sie sagte nichts. Beunruhigt wirkte sie nicht mehr, gelassen aber auch nicht.

»Monsieur Swaan ist Schwede, oder nicht?«

»Pardon, Norweger … Aber für einen Franzosen macht das keinen Unterschied … Ich selbst habe am Anfang …«

»Er ist Marineoffizier?«

»Er ist Zweiter Offizier, und er fährt auf der Seeteufel, aus Bremen …«

»Stimmt … Er arbeitet also für eine deutsche Gesellschaft.«

Sie errötete ein wenig.

»Der Reeder ist Deutscher, ja … Wenigstens auf dem Papier …«

»Was heißt das?«

»Ich glaube, das brauche ich Ihnen nicht zu verheimlichen. Sie wissen bestimmt, dass die Handelsmarine seit dem Krieg in der Krise ist … Selbst hier wird man Ihnen Seekapitäne nennen, die aus Mangel an geeigneten Posten gezwungen sind, als Zweite oder Dritte Offiziere anzuheuern … Andere arbeiten auf Fischkuttern vor Neufundland und auf der Nordsee.«

Sie sprach mit einer gewissen Hast, doch mit leiser, gleichmäßiger Stimme.

»Mein Mann wollte keinen Vertrag für den Pazifik unterzeichnen, wo es mehr zu tun gibt, denn dann hätte er nur alle zwei Jahre in Europa sein können. Kurz nach unserer Heirat haben Amerikaner die Seeteufel ausgerüstet, die unter deutscher Flagge fährt … Und Olaf ist extra nach Fécamp gekommen, weil er wissen wollte, ob hier nicht noch andere Schoner zu verkaufen wären.

Sie verstehen doch … Es handelte sich um Alkoholschmuggel in die Vereinigten Staaten.

Große Gesellschaften wurden gegründet, mit amerikanischen Kapitänen. Mit Sitz in Frankreich, in Holland oder in Deutschland.

Eigentlich arbeitet mein Mann für eine dieser Gesellschaften. Die Seeteufel verkehrt auf der sogenannten Rum-Straße.

Er hat also nichts mit Deutschland zu tun.«

»Ist er jetzt gerade unterwegs?«, fragte Maigret, ohne den Blick von dem hübschen Gesicht zu wenden, das etwas Offenherziges und bisweilen sogar Rührendes hatte.

»Ich glaube nicht. Sie müssen wissen, dass sein Schiff nicht so regelmäßig fährt wie Passagierschiffe. Aber ich versuche immer herauszufinden, wo die Seeteufel gerade ist. Jetzt sollte sie in Bremen sein, oder jeden Augenblick dort einlaufen …«

»Waren Sie schon mal in Norwegen?«

»Noch nie! Ich habe die Normandie eigentlich noch nie verlassen. Nur zwei, drei Mal bin ich kurz in Paris gewesen.«

»Zusammen mit Ihrem Mann?«

»Ja … Auch auf unserer Hochzeitsreise.«

»Er ist blond, nicht?«

»Ja … Warum fragen Sie mich das?«

»Mit einem kleinen, kurz geschnittenen hellblonden Schnurrbart?«

»Ja … Ich kann Ihnen ein Bild zeigen.«

Sie öffnete eine Tür und verließ den Raum. Maigret hörte sie im Nebenzimmer auf und ab gehen.

Sie blieb länger fort, als für den angegebenen Zweck notwendig gewesen wäre. Im ganzen Haus hörte man Geräusche von sich öffnenden und schließenden Türen, ein kaum erklärbares Hin und Her.

Endlich kam sie zurück, etwas irritiert, zögernd.

»Entschuldigen Sie«, sagte sie. »Ich kann dieses Foto nicht finden … Wenn man Kinder hat, ist immer Unordnung im Haus.«

»Noch eine Frage … Wem haben Sie alles Ihr Porträtbild gegeben?«

Er zeigte ihr den Abzug, den der Fotograf ihm überlassen hatte. Madame Swaan wurde purpurrot und stotterte:

»Das verstehe ich nicht …«

»Ihr Mann hat doch sicher eins?«

»Ja. Wir waren schon verlobt, als …«

»Kein anderer Mann besitzt dieses Bild?«

Sie war kurz davor zu weinen. Ihre bebenden Lippen zeigten ihre Bedrängnis.

»Nein, keiner …«

»Ich danke Ihnen, Madame.«

Als er ging, schlüpfte ein kleines Mädchen ins Zimmer. Maigret brauchte sie nicht lange zu betrachten. Sie war das Ebenbild von Pietr dem Letten!

»Olga!«, schimpfte die Mutter und schob das Kind zu einer angelehnten Tür.

Der Kommissar war wieder im Freien, in Regen und Wind.

»Auf Wiedersehen, Madame …«

Er sah sie noch einen Moment im Türspalt und hatte das Gefühl, diese Frau, die er zu Hause überrascht hatte, hilflos in der Wärme zurückzulassen.

Es gab noch andere, subtile, undefinierbare, doch von Angst zeugende Spuren in den Augen der jungen Mutter, die jetzt die Tür schloss.

Maigret und Pietr der Lette

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