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Ein seltsames Hirtenvolk

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Ein seltsames Hirtenvolk

Der lange Aufenthalt in der Seriba Ghattas hat mich in enge Verbindung mit den benachbarten Völkerschaften gebracht und mir Gelegenheit zu einer Menge von Beobachtungen und Erkundungen geboten, die ich auf einigen Ausflügen in westlicher Richtung erweitern konnte. Die Studien über das große Volk der Dinka oder Djangeh, wie sie sich selbst nennen, hatte ich schon in der Meschra mit großem Eifer betrieben und im Anfang des Marsches fortgesetzt. Meine Beziehungen zu diesem seltsamen Hirtenvolk waren auch in den folgenden zwei Jahren nur selten unterbrochen. Aus eigener Anschauung kenne ich indes nur die westlichsten Stämme dieses über nahezu 240.000 Quadratkilometer ausgebreiteten Volkes, diesen Teil aber hinreichend genau, um manches Neue berichten zu können.

Die Mehrzahl übersteigt in ihrer Körperhöhe nur wenig ein mittleres Maß. Bei 26 gemessenen Eingeborenen war die Durchschnittshöhe 1,74 Meter.


Die Dinka zählen zu den am dunkelsten gefärbten Rassen, aber die Haut lässt deutlich einen braunen Ton erkennen, sobald sie von der Asche gesäubert ist, mit der sie sich so gern einreiben. Wenn sie sich mit Öl gesalbt haben, oder nach einem Bad, schimmert ihre Haut wie braunschwarze Bronze. Die Einförmigkeit der Gesichtsbildung beruht mehr auf einer Täuschung unseres Auges, dem die schwarze Gestaltung ungewohnt erscheint, als auf einer wirklichen Gleichartigkeit der Züge. Einigermaßen einnehmende Gesichtszüge sind selten, unaussprechlich hässliche Fratzen, die verstärkt werden durch ein Grimassenspiel, verleihen der großen Mehrzahl affenartigen Ausdruck. Doch fehlt es auch nicht an Ausnahmen, die eine tadellose Regelmäßigkeit der Züge aufweisen. Das Haar scheren sie sich meist kurz und lassen auf der Höhe des Scheitels nur einen Schopf stehen, den sie durch Einstecken von Straußenfedern zieren. Ein Dinkastutzer, den ausnahmsweise ein reicherer Haarwuchs auszeichnete, hatte das 15 Zentimeter lange Haar zu flammenförmigen Zipfeln aufgerichtet; sie waren fuchsrot gefärbt und verliehen dem Mann ein satanisches Aussehen. Eine solche Färbung ist das Ergebnis fortgesetzter Waschungen mit Kuhharn. Der Bartwuchs ist zu unentwickelt, um irgendwie in Betracht zu kommen. Ihre Schermesser bestehen aus sorgfältig geschliffenen Lanzenspitzen.

Beide Geschlechter brechen sich die unteren Schneidezähne aus. Eine Folge davon ist ihre undeutliche Sprache. Auffällig schien es mir, dass gerade dieses Volk häufig schlechte Zähne hat. Männer und Frauen durchlöchern sich die Ohrränder und stecken eiserne Ringelchen und mit Eisen beschlagene Stäbchen durch. Die Frauen durchbohren sich wohl auch die Oberlippe, um einen eisernen Stift und eine zylindrische Glasperle einzufügen. Tätowierung ist nur bei Männern gebräuchlich und besteht immer in etwa zehn strahlenförmigen Schnitten, die über Stirn und Schläfe verlaufen und die Nasenwurzel zum Mittelpunkt haben; hieran erkennt man die Dinka sofort.

Nach ihrer Auffassung gebührt nur dem Weib eine Hülle, eines Mannes ist selbst die bescheidenste unwürdig. Umso sorgfältiger bekleidet erscheinen die Frauen; angetan mit zwei enthaarten Fellschürzen – das Gerben des Leders ist unbekannt –, die vorn und hinten von den Hüften bis an die Knöchel reichen und an den Rändern meist mit Reihen von Glasperlen oder zahllosen kleinen Eisenringen, Schellen und Glöckchen besetzt sind.

Eisen hat noch hohen Wert; Kupfer wird nicht entsprechend geschätzt. Die Frauen der Reichen sind oft mit Eisen überladen, etliche tragen nahezu einen halben Zentner davon an Ringen und Zierraten mit sich. Die Lieblingszierde der Männer sind Elfenbeinringe, die am Oberarm getragen werden, der Unterarm ist bei den Reichen mit einem förmlichen Panzer von Ringen eng umgürtet. Einen minder ritterlichen Schmuck bilden die aus Ledersträngen geflochtenen Stricke um den Hals, die aus Nilpferdhaut geschnittenen Armringe und vollends die Kuh- und Ziegenschwänze, mit denen sich jeder Dinkastutzer umhängt und mit denen er seine Waffen schmückt. Da der Dinka mit seinem meist spärlichen Haarwuchs nicht viel anzufangen weiß, verlegt er sich auf Mützen und Perücken. Sonderbare Kappen von der Gestalt tscherkessischer Kettenhelme werden ausschließlich aus großen weißen Zylinderperlen zusammengestickt. Aus Straußenfedern wird ab und zu eine Art Mütze gemacht, die einen ebenso leichten als sicheren Schutz gegen die Sonnenstrahlen gewährt. Als Zeichen der Trauer trägt der Dinka nach weitverbreiteter afrikanischer Sitte einen Strick um den Hals.

Die Hauptwaffe ist die Lanze; der Gebrauch von Bogen und Pfeilen ist ihnen fremd.


Mit den Kaffern gemeinsam haben sie die Vorliebe für Keulen, Stöcke und für Schilde von länglich-rundlicher Gestalt, die aus Büffelhaut geschnitten sind. Eigentümlich sind den Dinka die zum Abwehren von Keulen- und Stockhieben dienenden Schutzwaffen. „Kuerr“ ist ein Holz von einem Meter Länge, in der Mitte mit einer hohlen Verdickung, um den Handgriff zu schützen; „Dang“ ein Bogen, dessen derbe Sehnen die Wucht der Keulenhiebe brechen.


Kuerr und Dang, Schutzwaffen der Dinka

Ackerbau wird nur nebensächlich, aber in ziemlich geschickter Weise betrieben. Sauberkeit und sorgsame Auswahl der Nahrung findet sich bei den Dinka wie bei kaum einem anderen Volk Afrikas. Die Mehl- und Milchspeisen stehen unserer Kochkunst nicht nach. Die Leute greifen nicht mit den Händen in eine und dieselbe Schüssel; die Gäste lagern sich um eine große Schüssel Brei oder Grütze. Wenn sich der erste satt gegessen hat, gibt er die Schüssel dem Folgenden. Zuweilen bot ich Dinkadamen von Rang auf meinem Feldtisch europäisch zubereitete Gerichte an, und sie saßen auf meinen Stühlen. Sie griffen zu Gabeln und Löffeln, als verstände sich das von selbst, und legten alles sorgfältig und noch dazu gewaschen wieder an Ort und Stelle. Alles kriechende Gewürm erfüllt den Dinka mit Ekel. Krokodile, große Eidechsen, Frösche usw. sind nicht küchenfähig, nur die Schildkröte wird als Suppe verkocht. Nicht minder widerwärtig erscheint ihnen der Genuss von Hundefleisch. Ein feines Wild ist jedoch, wie überall in Afrika, die Katze; als das leckerste wird der Hase hochgeschätzt. Leidenschaftliches Tabakrauchen hat sich seit alten Zeiten eingebürgert, und die Dinka bedienen sich derselben riesigen Pfeifenköpfe wie die Schilluk.


Im Inneren der Wohnungen sind sie von derselben Reinlichkeit wie die Schilluk, mit denen sie die Vorliebe für Asche teilen, in der sie sich des Nachts der Mücken wegen betten.

Auffällig ist das Fehlen des Ungeziefers; in diesem Teil von Afrika wird man weder von Läusen noch von Flöhen belästigt. Den Fremdling beunruhigt in einer Dinkabehausung nur das Getümmel der Schlangen, die im Stroh des Daches rascheln. Schilluk und Dinka zollen den Schlangen eine Art göttlicher Verehrung; die Dinka nennen sie sogar ihre „Brüder“ und sehen deren Tötung als Verbrechen an. Es wurde mir beteuert, dass einzelne Schlangen dem Hausbesitzer bekannt seien und dass er sie mit Namen nenne. Übrigens sind Schlangen im tropischen Afrika überhaupt nicht häufig; soviel ich in Erfahrung bringen konnte, sind die Schlangen im Lande der Dinka nicht giftig.

Zu Weilern und Gehöften von wenigen Hütten vereinigt, sind die Wohnungen über das Ackerland zerstreut. Eigentliche Dörfer gibt es nicht, der Viehstand der einzelnen Distrikte aber ist in einem großen Viehhof vereinigt, den die Chartumer Murach nennen. Große Hütten haben 13 Meter im Durchmesser. Um den Dachstuhl zu stützen, pflanzen die Dinka einen vielverästelten großen Baumstamm in die Mitte der Hütte.

Die nebenstehende Zeichnung veranschaulicht ein Dinkagehöft. Es ist mit Feldern von Sorghum oder Negerhirse umgeben. Von den drei Hütten ist die mittlere, mit einem doppelten Vorbau versehene die Wohnung des Familienvaters. Links steht eine Hütte für die Weiber; die größte und schönste Hütte rechts ist dazu bestimmt, kranke Kühe zur Pflege aufzunehmen, da ihnen in den Murach nicht die nötige Sorgfalt zugewendet werden kann. Unter der Rokuba, dem Sonnendach, vor den Hütten befindet sich der Feuerplatz zum Kochen; er ist hinter einem Windschirm aus Ton gelegen. In dem Dornverhau rechts werden die Ziegen für den täglichen Milchbedarf gehalten.


Dinkagehöft

Ihre Haustiere sind Rinder, Schafe, Ziegen und Hunde. Alles Dichten und Trachten der Dinka dreht sich um den Besitz von Rindern, mit diesen Tieren wird ein förmlicher Kultus getrieben. Man schlachtet nie ein Rind; kranke pflegt man mit Sorgfalt in eigenen Hütten; nur die gefallenen und die verunglückten Tiere werden verspeist. Ein Hauptvergnügen für Dinkakinder ist das Nachbilden von Rindern und Ziegen aus Ton.

In der Morgenstunde werden die Kühe gemolken, doch ist der Milchertrag sehr kärglich. Selten enthalten die Murach unter 2.000 Stück Vieh, ich habe solche mit bis zu 3.000 kennen gelernt. Auf den einzelnen Dinka kommen mindestens drei Rinder. Es gibt natürlich auch Arme; diese sind die Knechte der Reichen. Einzelne Viehhöfe beherbergen bis an 10.000 Stück Vieh, nach meiner eigenen Zählung, die ich an den zum Anbinden dienenden Pflöcken vornahm.

Die Dinka sind ein großes Volk, aber die zahlreichen Stämme bekriegen sich nicht nur oft untereinander, sondern lassen sich auch als Werkzeuge der fremden Eroberer gegeneinander missbrauchen. Alle Versuche, sie in einen Zustand der Leibeigenschaft zu bringen, sind aber bisher fehlgeschlagen. Die ausgeprägte Eigenart des Volkes und das zähe Festhalten an ihren Sitten macht sie auch für den Sklavenhandel wertlos. Die in früheren Zeiten auf den Raubzügen der Nubier erbeuteten Männer werden unter die Soldaten gesteckt; damals bestand die große Mehrzahl der schwarzen Truppen Ägyptens aus Dinkas. Der Höchstkommandierende im Sudan, Adam Pascha, war selbst von Geburt ein Dinka.

Die Dinka sind als grausam im Krieg bekannt; sie kennen keinen Pardon, und um die Körper der Erschlagenen führen sie wilde Tänze auf. Allein, es gibt auch Dinka deren Gemüt für Barmherzigkeit empfänglich ist. Nie werden Geschwister und Eltern sich gegenseitig im Stich lassen.

Die Annahme, dass bei diesen Wilden ein Familiengefühl in unserem Sinne nicht vorhanden sei, ist nicht gerechtfertigt. Im Frühjahr 1871 erlebte ich folgendes: Ich weilte damals in der Seriba Kutschuk-Ali am Djur unter dem Volke gleichen Namens. Einer der Dinkaträger, die Vorräte für mich von der Meschra herbeigeschafft hatten, war seiner geschwollenen Füße wegen nicht imstande, in seine Heimat zurückzukehren. Viele Tage saß er allein da. Es herrschte Hungersnot im Lande, und ab und zu erhielt er von mir eine Handvoll Durra und Reste von unseren Mahlzeiten. Er konnte also zur Not leben und befand sich auf sicherem Boden; es hätte daher nur der Geduld bedurft, um nach der Heilung seine Familie zu erreichen. Aber nicht lange währte es, da stellte sich sein bejahrter Vater ein, um ihn abzuholen. Auf seinen eigenen schwachen Schultern trug der Alte den fast zwei Meter langen Lümmel 16 Wegstunden weit nach Hause. Die Eingeborenen sahen diese für unser Empfinden ungewöhnliche Leistung als etwas ganz Selbstverständliches an.

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Georg Schweinfurth: Forschungsreisen 1869-71 in das Herz Afrikas

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