Читать книгу Galisia - Gerald Förster - Страница 3
Prolog
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Und ich sah einen Engel vom Himmel fahren, der hatte den Schlüssel zum Abgrund ... in seiner Hand.
(Offenbarung des Johannes 20,1)
Er sah noch einmal nach dem Kuvert, das Mariella Popp ihm am Nachmittag auf den Schreibtisch gelegt hatte. »Dem Herrn von Aktien und Papieren - zum Fünfzigsten! Wir gratulieren« stand in schnörkeliger Handschrift auf seiner Vorderseite. Das kommt dabei heraus, wenn Sekretärinnen sich im Reimen versuchen, dachte Wolf Gulau amüsiert. Eine Perle, diese Frau.
Gedankenversunken blickte er durch die breite Glasfront hinaus auf das hell erleuchtete Bankenviertel. Es war eine unglaubliche Aussicht von Deutschlands höchstem Gebäude. Vorhin hatte er fasziniert den farbenprächtigen Sonnenuntergang hinter dem Taunus betrachtet und dabei an den Tag vor dreizehn Jahren denken müssen, an dem der neue Germania Bank Tower mit Pomp und großem Tamtam eingeweiht worden war. Es war ein denkwürdiger Tag gewesen. Und ein richtungsweisender zugleich. Nach Käsehäppchen hatte es im Atrium nicht wieder geduftet, ebenso wenig, wie das alberne Gekicher der Hostessen dort je wieder gehört worden wäre. Was seither hingegen wie eine gute Tradition gepflegt wurde, waren die Zusammenkünfte mit dem Kanzler, hier in der achtundneunzigsten Etage, wo seinerzeit die Erwartungen formuliert und die Kompetenzen abgesteckt worden waren. In der Folge kam es zu einem für beide Seiten gedeihlichen Arrangement, von dem man fortan einträchtig profitierte. Seine Bank war zu einem der potentesten Geldhäuser in Europa aufgestiegen, er selber rangierte auf der Forbes-Liste der European Billionaires unter den Top Ten, noch vor den russischen Gasoligarchen, und Kanzler Brutus Aitel war mit seiner inzwischen vierten Amtszeit belohnt worden. Keinerlei Anlass zur Klage, war sein stilles, nicht uneitles Resümee. Gelegenheit für den Puppenspieler, die Fäden für einige Tage aus der Hand zu geben und sich eine Verschnaufpause zu gönnen.
Die Führungsebene hatte zusammengelegt und ihm eine Reise nach Kanada geschenkt. Kanada. Land des Ahorns und der Grislybären. Allein im Klang dieses Namens schwang noch immer etwas mit, das seine Sehnsüchte weckte, grenzenlose Sehnsüchte, die sich für ihn in der Unendlichkeit der nordamerikanischen Prärien versinnbildlichten.
Es war Samstag. Die Angestellten, die sonst die oberen Etagen mit Leben erfüllten, waren längst im Wochenende. Den ganzen Abend hatte er sich durch Aktenberge gegraben. Jetzt sah er zum ersten Mal auf die Uhr. Gleich zwölf. Rasch sortierte er noch einige Unterlagen auf einen Stapel, bevor er seinem gläsernen Turm für zwei Wochen den Rücken kehren würde. »Vancouver Island, ich komme«, summte er einstimmend zu »Fare fare away«, der Hymne der Weltenbummler, vor sich hin. Dabei schien es ihn in keiner Weise zu stören, dass sein Text nicht auf die Melodie passen wollte. Eben stellte er sich vor, wie er vor der imposanten Kulisse des Golden Hinde einen kapitalen Lachs aus dem Sproat Lake zog, als er aus der Garderobe hinter sich ein leises, sirrendes Geräusch und, aus dem Augenwinkel heraus, einen sonderbar fahlen Lichtschein wahrnahm. Was ist das, fragte er sich eher beiläufig und ohne sich umzublicken. Egal, was sollte es schon sein. Er musste sich jetzt beeilen. In wenigen Stunden ging der Flieger.
Beschwingt küsste er den Briefumschlag und wollte sich just erheben, als er plötzlich heftig zusammenfuhr. Etwas Kaltes drückte gegen seinen Nacken. Für einige Sekunden stockte ihm der Atem. Schweiß trat auf die Stirn. Sein Puls begann zu hämmern. »Was ... wer sind Sie?«
Im gleichen Maße, in dem er versuchte sich umzudrehen, spürte er den Druck zunehmen. Ein dünnes, warmes Rinnsal lief an seinem Hals herab und versickerte im Hemdkragen. »Wer sind Sie? Wie sind Sie hier hereingekommen? Was wollen Sie? Geld? Ich habe Geld.« Mit jedem Wort klang seine Stimme hektischer. Er zeigte auf einen in die gegenüberliegende Wand eingelassenen Tresor. »Der ist voll davon. Bedienen Sie sich. Es gehört Ihnen. Alles!« Verstohlen blickte er zum Alarmknopf.
»Denken Sie erst gar nicht daran«, warnte der Eindringling grimmig entschlossen.
»Sie dürfen sich nehmen, so viel sie wollen. Bitte!«
»Glauben Sie, ich würde um Ihre Erlaubnis bitten, wenn ich mir etwas nehmen wollte?«
»Um Himmels willen! Was wollen Sie denn von mir?«, wimmerte der Bankdirektor. »Tun Sie mir nichts. Bitte! Heute ist doch mein Geburtstag.«
Gulau war beileibe nicht das, was man einen zupackenden Typ nannte. Er war es gewohnt, dass andere für ihn Dinge erledigten. Bis weit ins Teenageralter hinein hatte ihm seine magere Erscheinung und eine vorstehende Zahnreihe, die sein Profil denkbar unvorteilhaft beeinträchtigte, kaum mehr als die Häme der Mitschüler eingebracht. »Kein Gesicht, sondern ein Malheur, was die Natur dir da an den Kopf gebastelt hat«, spotteten sie, aber ihre Demütigungen sollten bald in Respekt umschlagen. Das Erweckungserlebnis hatte er auf dem Internat. Sein Ruf als Schwächling und die damit einhergehende Erfolglosigkeit beim anderen Geschlecht hatten ihn zunehmend in Selbstzweifel stürzen lassen, als er eines Tages beherzt einer Kommilitonin einen Packen Scheine in die Hand drückte und diese sich daraufhin, zu seinem ungläubigen Erstaunen, auf ein Rendezvous mit ihm einließ. Mit dem Geld des Großvaters, der sechzig Jahre zuvor die größten Banken Deutschlands zu einem mächtigen Finanzkartell zusammenführte, hatte er das Mädchen gekauft. Menschen waren käuflich. Es war eine Erkenntnis, die sein Weltbild maßgebend prägen sollte. Von diesem Tag an zweifelte er nicht mehr. Er bediente sein Ego, wo und wann immer sich die Gelegenheit bot.
Ein athletisch wirkender junger Mann mit rotblondem Schopf, er mochte Mitte zwanzig sein, vielleicht etwas älter, trat um ihn herum und hielt ihm eine japanische Klinge vor das Gesicht. Gulau fasste sich an den Hals. An drei seiner Finger klebte Blut.
»Es heißt, Schwertmeister Masamune Okazaki selbst habe es geschmiedet.« Mit einem sonderbaren, fast leidenschaftlichen Blick sah der Fremde auf den glänzenden Stahl. »So alt schon und dennoch teilt es eine Kokosnuss ebenso leicht, wie eine grüne Gurke.«
»Verstehe! Ich werde Ihnen keine Schwierigkeiten machen.«
»Ich weiß«, entgegnete er in aller Gelassenheit. Gemächlich schritt er durch das großzügige Büro, blieb vor der Fensterfront stehen und sah hinaus in die Nacht. »Ziehen Sie Ihr Jackett aus. Und das Hemd!«
»Was? Warum? Ich verstehe nicht.«
Er hob das Schwert in die Höhe. »Genauso, wie vor dreizehn Jahren.«
Gulau stutzte. »Wie? Was meinen Sie? Was wollen Sie denn von mir?«, jammerte er ein weiteres Mal und mühte sich nach Kräften, die Selbstbeherrschung nicht vollends zu verlieren. Der ungebetene Gast sah ihn mit stechendem Blick an und einen Moment lang bildete er sich ein, Flammen in dessen Augen lodern zu sehen.
»Es war in einer lauen Augustnacht. Wie heute. Sie erinnern sich?«
»Was? Nein! Dreizehn Jahre, das ist lange her.«
»Dann will ich Ihrem Gedächtnis nachhelfen. Man hatte Sie an dem Tag zum Vorstand ernannt. Und es war Ihr Geburtstag. Wie heute. Ihr siebenunddreißigster. Erinnern Sie sich jetzt?«
»Ja, äh ... ja«, stammelte der Bankier unsicher.
»Gut. Dann erinnern Sie sich gewiss auch daran, dass es die Nacht war, in der Sie einen Menschen töteten. Das Jackett!«
Im Bruchteil einer Sekunde lief Gulaus Hirn auf Hochtouren. Was meinte der Kerl? Er konnte nur ... Nein, das war nicht möglich. Wusste er ...? Unsinn! Gar nichts konnte er wissen. Niemand wusste etwas. Er versuchte einen Strategiewechsel. »Sie haben keine Ahnung, mit wem Sie sich anlegen. Ich spiele in der Oberliga. Und dort an der Spitze. Was Sie hier veranstalten, wird Sie den Kopf kosten. Also lassen Sie es besser sein. Ich brauche nur ...«
Unvermittelt zuckte er zusammen. Die Klinge war leicht an seinem Hals entlanggefahren und jetzt spürte er ihre Spitze direkt an der Kehle. »Im Augenblick sollte Ihrem eigenen Kopf die größere Sorge gelten. Zum letzten Mal: ausziehen!«
Gulau musste einsehen, dass sein Fluchtversuch nach vorn fehlgeschlagen war. Angesichts des schneidenden Argumentes an seinem Hals zog er sein Sakko aus und begann mit zittrigen Fingern, das Hemd aufzuknöpfen. »Wer, zum Teufel, sind Sie?«
Der Fremde beugte sich langsam zu ihm herunter. »In jener Nacht vor dreizehn Jahren waren Sie mit ihrem Wagen im Bahnhofsviertel unterwegs. Sie waren auf der Suche. Auf der Suche nach jungem Fleisch. In der Kaiserstraße haben Sie zwei Burschen angesprochen. Einer der beiden stieg bei Ihnen ein. Ich konnte ihn nicht zurückhalten. ›Hör auf, dir Sorgen zu machen‹, rief er mir lachend zu, ›morgen dinieren wir im Hilton‹. Es waren die letzten Worte, die ich von ihm hörte. Am nächsten Tag hat ihn die Polizei tot aus dem Main gefischt. Erwürgt. Vergewaltigt, erwürgt und weggeworfen. In seinen Taschen hat man mehr als zehntausend Neue D-Mark gefunden. Ihr Geld. Ich habe keine Sekunde gezweifelt, dass Sie ihn umgebracht haben.« Er kam dicht an Gulaus Gesicht heran. »Hat er genauso hilflos geschaut, wie Sie jetzt? Der Junge hieß Leon. Er war mein Freund. An seinem Grab habe ich geschworen, eines Tages Genugtuung für seinen Tod einzufordern. Dieser Tag ist heute gekommen. Bevor Sie sterben, will ich Ihnen die Gelegenheit geben, ihr Gewissen zu erleichtern.«
»Sterben?«, schrie Gulau entsetzt auf. »Nein! Ich will nicht sterben. Ich kenne Ihren Freund nicht. Gehen Sie doch endlich!«
»Sie sind nicht nur ein Mörder, sondern auch ein erbärmlicher Feigling«, schäumte der Fremde. Dabei verzerrte sich seine bislang gleichgültige Miene zu einer irren Fratze. Er holte zum Streich aus. »So soll es geschehen!«
»Halt!«, kreischte Gulau bebend vor Angst. »Hören Sie auf! Ich gebe es zu. Ich gebe alles zu.«
Langsam sank der Arm wieder nach unten. »Ich höre.«
Verängstigt blickte der Bankier auf die Klinge, die unmittelbar vor seinem Gesicht schwebte. Die Adern an seine Schläfen waren angeschwollen. »In jener Nacht bin ich mit ihm zu einem Parkplatz am Mainkai gefahren«, erzählte er stockend. »Ich habe ihm keine besondere Beachtung geschenkt. Er war ein Stricher, so gut wie jeder andere. Wir hatten dreihundert Mark vereinbart. Als er mitbekam, wer ich bin, wurde er unverschämt. Plötzlich wollte er dreitausend. Sonst würde meine Frau morgen aus der Boulevardpresse erfahren, dass ihr Gatte kleine Jungs fickt. Da habe ich ihn geschlagen. Immer und immer wieder habe ich auf ihn eingeschlagen. Er hat sich nicht gewehrt. Ich habe ihm dann alles Geld in die Taschen gestopft, das ich bei mir trug.« Seine Stimme wurde heiser. Er atmete hastig. »Dann tat ich, wofür ich bezahlt hatte. Dabei habe ich zugedrückt. Fester und fester habe ich zugedrückt. Erst als er sich nicht mehr bewegte, habe ich losgelassen. Dann war es zu Ende. Wie erstarrt bin ich neben ihm gesessen ... wie erstarrt ... nur dagesessen. Als es dämmerte, habe ich seinen toten Körper aus dem Auto gezogen und in den Fluss geworfen.« Gulau sah zu Boden. »Ich habe ihn getötet. Und in den Fluss geworfen!« Erschöpft sank er in sich zusammen. »In den Fluss ...«, wiederholte er noch einmal tonlos.
Im gleichen Moment riss ihm der Rotschopf das Hemd auf und presste einen metallenen, zylinderförmigen Gegenstand gegen seine Brust.
Gulau schrie auf. »Was tun Sie da, was hat das zu bedeuten?«, stöhnte er und verzog gequält das Gesicht.
Der Fremde war jetzt wieder völlig ruhig. »Wolf Gulau. Nomen est Omen. Ein passenderer Name für Sie hätte selbst mir nicht eingefallen können. Einer, der nicht fragt, der sich nimmt was er will. Und immer zu viel davon. Einer, der andere in den Ruin treibt oder beseitigt, wenn sie ihm im Licht stehen. Einer, der Milliarden hortet und für dreitausend Mark tötet. Haben Sie nie damit gerechnet, dass Ihnen diese Verfressenheit eines Tages zum Verhängnis wird?«
Der Bankier fasste sich an die schmerzende Brust. Er war aschfahl geworden. Von seiner Stirn perlten Schweißtropfen. »Was soll das werden, ein Ethiktribunal? So funktioniert die Welt. Ich kann sie nicht ändern«, krächzte er matt.
»Wenn nicht Sie, wer dann? Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr.« Der Fremde sah sich suchend um. Sein Blick blieb an dem alten, mannshohen Geldschrank hängen. »Öffnen Sie ihn!«
Gulau schaute auf. Also doch! Ein blasser Hoffnungsschimmer. Mühsam erhob er sich und stolperte hinüber zu dem Safe, einem alten Hammeran von 1920. Eigentlich diente er nur der Dekoration, aber es sollte sich eine ausreichend große Menge Geld darin befinden, so spekulierte er. Bisher hatte noch jeder seinen Preis.
»Ein schönes Stück«, befand der Fremde.
»Nicht wahr? Das ist noch solide deutsche Wertarbeit«, erklärte Gulau, neuen Mut schöpfend. »Höchste Sicherheitsklasse, feuersicher bis zweitausend Grad, angeblich sogar wasserdicht. Eine echte Rarität.« Er drehte das Zahlenschloss abwechselnd nach links und rechts. Dann zog er die schwere Tür auf und zeigte hinein. In seinem Inneren türmten sich Geldbündel, die von unterschiedlich farbigen Banderolen zusammengehalten wurden. »Es dürften vier oder fünf Millionen sein. Nehmen Sie es. Machen Sie sich ein schönes Leben. Ich sorge dafür, dass Sie das Gebäude unbemerkt verlassen können.«
Die Klinge fuhr wieder nach oben. »Sie haben es nicht verstanden«, erwiderte der unheimliche Besucher in einem Tonfall, der so frostig und erbarmungslos klang, dass es dem Bankier einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Der schwache Funke der Hoffnung, den er eben noch hatte glimmen sehen, erlosch. »Steigen Sie hinein« hörte er, wie durch einen Vorhang gedämpft, die unheilvolle Stimme sagen. Er begann am ganzen Leib zu zittern. Fahrig nestelte er an den Knöpfen seines offenstehenden Hemdes. »Steigen Sie hinein« hallte es wie ein düsteres Menetekel in seinen Ohren und schlagartig begriff er die Endgültigkeit, die in diesen drei Worten lag. Sehr schnell würde die Luft in dem stählernen Schrank aufgebraucht sein. Und in den nächsten zwei Wochen käme niemandem in den Sinn, nach ihm zu suchen. »Nein! Das dürfen Sie nicht! Hören Sie ... mein Flieger ... Frau Popp! Zu Hilfe!«
»Mach schon.«
Seine Pupillen weiteten sich vor Angst. »Ich werde ersticken!«
»Das werden Sie. Vereint mit Ihrem Kostbarsten.«
»Bitte ...«, flehte er schwach. Dann versagte ihm die Stimme. Etwas Spitzes in seinem Rücken drängte ihn voran.
»Na los!«
Wolf Gulau sträubte sich nicht mehr. Seine Kräfte waren verbraucht. Ein Schritt noch, ein dumpfes Fauchen. Finsternis. Das Zahlenschloss ratterte. Dann war es still.