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Kapitel 1

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Niemand kann zwei Herren dienen: entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird dem einen anhangen und den andern verachten.

(Bergpredigt, Matthäus 6,24)

Es muss um 1820 bei einem Dampferausflug auf dem Rhein geschehen sein: Der als Schöngeist geltende preußische Kronprinz und spätere König Friedrich Wilhelm IV. verliebte sich unsterblich in das malerische Flusstal, und um sich seiner neuen Liaison ausgiebiger widmen zu können, ließ er sich auf den Fundamenten der mittelalterlichen Burgruine Stolzenfels eine Sommerresidenz errichten. Die »Perle der Rheinromantik«, als die das gleichnamige Schloss bis heute bezeichnet wird, hatte sich nach mehreren Besitzerwechseln lange Zeit in Landeseigentum befunden, bis es im letzten Jahr wieder privatisiert worden war. Der Vorstandschef von EuroPharm, dem größten Pharmaunternehmen der Welt, hatte sich das ehrwürdige Gemäuer als lieu de villégiature und späteren Alterssitz auserkoren. Von den Dividenden eines einzigen Jahres hatte er sich seinen lang gehegten Wunsch, ein eigenes Schloss zu besitzen, leicht erfüllen können. Wie nahezu alle historischen Herrenhäuser war nun auch die »Stolze Schöne« in die Hände eines Wirtschafts- oder Politikmächtigen gewechselt, und auf dem Schlossberg, den man nach seinem Verkauf mit einer videoüberwachten Umzäunung gesichert hatte, war es still geworden.

In dieser Nacht war der Stolzenfels’sche Friede jäh gestört worden. Blaulichter umkreisten den Innenhof. Hell erleuchtete Treppenhäuser und hektisches Tun und Treiben auf den Fluren zeugten von einem schwerwiegenden Zwischenfall. Schlag zwölf war auf dem Monitor, der die obere Etage überwacht, die elektronische Lebensanzeige erloschen. Ein Wachmann hatte daraufhin die Polizei alarmiert. Rikard Avaran, einer der einflussreichsten Männer der deutschen Industrie, lag tot in seinem Schlafgemach.

Um viertel nach eins hatte man Hauptkommissar Brandt benachrichtigt. Die Stadt ist wie ausgestorben, bemerkte er auf der kurzen Fahrt von seiner kleinen Wohnung am Florinsmarkt zum Schloss. Sommerliche Temperaturen hätten in einer Nacht wie dieser vor nicht allzu langer Zeit noch für gut gefüllte Weinlokale und reges Treiben am Deutschen Eck gesorgt. Auf den Straßen aber herrschte leere Tristesse, wie in jeder Nacht seit der Ausgangssperre. Außer einem Patrouillenfahrzeug des Militärs blieb es leer auf dem linken Rheinufer. Er lenkte den alten Daimler die Serpentinen zum Schloss hinauf. Gegenüber dem Torwächterhaus gewahrte er, im Schutze der Bäume, mehrere dunkel gekleideter Gestalten, die Richtmikrophone und Kameras bei sich trugen. Er stoppte seinen Wagen an der provisorischen Absperrung und zeigte dem Posten seine Polizeimarke. »Ich frage mich, wie diese Zeitungsfritzen schon wieder Wind davon bekommen konnten.«

»Lästiges Pack! Wir kümmern uns darum«, winkte der mit verächtlicher Geste ab und ließ den Kommissar, nachdem er noch einen Blick in den Fond geworfen hatte, passieren.

Als Brandt eintrat, fand er den Rechtsmediziner, Jan Uhland, bereits geschäftig über den toten Hausherrn gebeugt. Uhland, ein drahtiger Mittvierziger mit kernig-markanten Zügen, der sein Haupthaar so kurz trug wie seinen Dreitagebart, galt als Koryphäe der forensischen Pathologie. Sie warfen sich einen kurzen Blick zu.

»Doc, was gibt’s?«

»Einsetzender rigor mortis.« Er klang mürrisch, wie immer, wenn man ihn aus dem Schlaf gerissen hatte.

»Und das heißt?«, fragte Brandt müde.

»Exitus vor höchstens zwei Stunden.«

»Kannst du schon etwas zur Todesursache sagen?«

»Letale Intoxikation. Er hat einen Einstich am Hals, stark gerötet und von einer ringförmigen Schwellung umgeben. Ihm wurde eine giftige Substanz injiziert.«

In all seinen Jahren bei der Mordkommission war Brandt der Tod schon in jeder denkbaren Variante begegnet. Ein Giftmord also. Abgesehen von der Prominenz des Opfers auf den ersten Blick nichts Außergewöhnliches. »Gift«, wiederholte er deshalb eher ungerührt.

»Ein Giftmischer, der an Gift gestorben ist. Da sage noch einer, die Welt sei nicht gerecht.« Wenn es neben dem Analysieren toten Gebeins eine zweite Passion in Uhlands Leben gab, dann war es seine erfrischende Renitenz, die sich gern in semantischem Feinsinn, bisweilen auch in bitterbösem Sarkasmus äußerte. Gesellschaftliche Mechanismen sezierte er mit Worten ebenso messerscharf wie eine Leiche mit dem Skalpell. Ungefragt aber blieb er eher wortkarg. Den Mainstream bedachte Uhland allenfalls mit einem gleichgültigen Schulterzucken, und was seine Lebensplanung anging, gab er den klassischen Modellen bedenkenlos das Nachsehen. Er lebte in einer alten, von Efeu umrankten Wassermühle an einem Eifelflüsschen, zusammen mit seiner koreanischen Lebensgefährtin, kinderlos, glücklich und ohne Ambitionen auf staatlichen oder gar kirchlichen Segen. Er und Brandt arbeiteten seit vielen Jahren zusammen. Ihre anfängliche gegenseitige Wertschätzung war im Laufe der Zeit zu einer soliden Freundschaft herangewachsen. Der Kommissar schätzte ihn als kompetenten Fachmann und Ratgeber, ebenso wie als guten Zuhörer.

»Hat er sich gewehrt?«

»Ich schätze, dafür fehlte ihm die Gelegenheit. Er hat eine leichte Schnittverletzung am Hals, so, als wäre ihm ein Messer an die Kehle gehalten worden bis das Gift wirkte. Mehr nach der Obduktion.«

»Habt ihr ein Tatwerkzeug gefunden?«

»Nein, nichts. Aber das hier solltest du dir ansehen.« Uhland schob die Decke beiseite.

Brandt riss die Augen auf. »Was ist das?«

»Nun, wenn du mich so direkt fragst, das ist ein A.«

Der Kommissar sah den Doktor strafend an. »Was du nicht sagst.«

»Eine Verbrennung, post mortem zugefügt.«

»Du meinst, mit einem Brenneisen?«

»Nein, es sieht eher aus, als hätte sich seine Kosmetikerin bei der Haarentfernung mit der Lasertemperatur vertan. Eine oberflächliche Hautverkohlung mit glatten, sauberen Wundrändern. Ich habe so etwas noch nie gesehen.«

»Ein Laser? Warum lasert jemand seinem Opfer ein A auf die Brust? Eigenartig. Gibt es sonst noch etwas?«

»Auf dem Kissen neben seinem Kopf lag ein Filmdragee. Es ist schon auf dem Weg ins Labor.«

Brandt machte sich ein paar Notizen und wandte sich dann um. »Was hat die Auswertung der Satellitendaten ergeben?«, fragte er in Richtung der Spurensicherer, die damit beschäftigt waren, Türklinken und Mobiliar nach Fingerabdrücken und genetischem Material zu scannen.

»Ich fürchte, wir haben ein Problem«, bemerkte einer der in weiße Overalls Gekleideten und drehte sich dabei langsam um. Anton Kallenbach war der Leiter des Erkennungsdienstes und, neben Uhland, wichtigster Mann in Brandts Team. Die beiden kannten sich schon aus Kindheitstagen. Zusammen waren sie zur Schule gegangen und gemeinsam hatten sie in Köln Kriminalwissenschaften studiert. Nach dem Studium trennten sich ihre Wege, und mehr als zehn Jahre später war es beiden wie eine glückliche Fügung erschienen, dass sie ihre Arbeit bei der Koblenzer Polizei wieder zusammengebracht hatte. Seinen alten Schwung hatte Kallenbach peu à peu gegen das Rundumbehagen eines erfüllten Familienlebens eingetauscht, und auch äußerlich machten sich die Jahre bemerkbar. Die hellblonde Lockenpracht hatte den Kampf gegen das Dahinschwinden aufgegeben, seine Sehkraft benötigte inzwischen das Zutun optischer Hilfsmittel und die Taille war längst nicht mehr die schmalste Stelle zwischen Brust und Hüfte. Ihn selbst focht es wenig an, dass die Zeiten vorbei waren, in denen er von Unterwäsche-Labels für den Laufsteg gebucht wurde, denn in gleichem Maße, wie er sowohl an empirischer Erfahrung als auch an Umfang gewann, hatte er die Prinzipien des ungezwungenen Laissez-faire in seine Lebensmaxime aufgenommen. Nur im Kopf war er noch immer der Freigeist von früher.

»Toni, nun sag schon, wem wir diese schlaflose Nacht verdanken.«

Das nonchalante Begrüßungslächeln des Kriminaltechnikers verwandelte sich übergangslos in eine skeptische Miene. »Dieser Fall wird das Nervenkostüm des Staatsanwaltes auf eine harte Probe stellen.«

»Es ist fraglich, ob es unser Fall bleibt. Avaran war nicht irgendwer. Mich wundert, dass die Schlapphüte noch nicht hier sind. Aber was meintest du mit ›Problem‹?«

Kallenbach runzelte die Stirn. »Um null Uhr gab es ein schwaches Signal, keine zwei Minuten lang. Es wurde nicht identifiziert!«

»Eine Störung?«

»Unwahrscheinlich. Es gab noch nie eine Störung.«

»Dann wurde die Datenübertragung manipuliert?«

»Ausgeschlossen. Der Stream kann weder beeinflusst noch unterbrochen werden. Jeder Versuch wäre tödlich.«

Brandt sah ihn ungläubig an. »Du willst mir also sagen, dass wir keine Aussage zum Täter treffen können?«

»So ist es.«

Jetzt war der Kommissar wach. »Dann dürfte es allerdings zu einer Angelegenheit für den Staatsschutz werden.« Sichtbar erheitert schnippte er mit den Fingern. »Aber bis es soweit ist, werden wir die Gelegenheit wahrnehmen, unsere Fähigkeiten in klassischer Detektivarbeit unter Beweis zu stellen.«

»Ich habe das dumme Gefühl«, orakelte Kallenbach, »dass uns diese Geschichte noch arge Kopfschmerzen bereiten wird.«

Seine Intuitionen hatten Brandt schon oft auf die richtige Fährte geführt. Heute aber schien etwas anders zu sein. So zweifelnd hatte er ihn bislang selten erlebt. Doch jetzt wollte er nicht darauf eingehen. Ganz sicher würde das Tageslicht bereits die eine oder andere Erleuchtung mit sich bringen. »Wer hat ihn gefunden?«, fragte er, als hätte er die Andeutung eben überhört.

»Ein Wachmann hat uns informiert, als sein Dienstherr plötzlich vom Monitor verschwunden war.«

»Wie kam der Täter herein?«

»Preisfrage! Niemand kommt hier herein.«

»Was meinst du damit?«

Kallenbach sah den Kommissar an. »Hatte ich schon erwähnt, dass uns diese Geschichte noch Kopfschmerzen bereiten wird? Das Gebäude ist eines der am besten gesicherten in ganz Deutschland. Alle Überwachungssysteme waren eingeschaltet, als wir eintrafen. Detaillierte Auswertungen laufen noch, ich kann dir aber jetzt schon sagen, dass es zur fraglichen Zeit keinerlei Bewegungen auf dem Gelände gab. Und die Wachmannschaft hat mir versichert, dass nicht einmal eine Maus ihre Checkpoints unbemerkt hätte passieren können. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie er das angestellt hat.«

»Aber das er hereinkam, steht doch außer Frage, oder?«, fragte Brandt und klang dabei fast ein wenig spöttelnd.

»Das ist das einzige, was ich dir bestätigen kann. Es ist, als sei er aus dem Nichts aufgetaucht und dorthin auch wieder verschwunden.«

»Was spricht dagegen, dass er durch den Keller oder über das Dach kam?«

»Neueste und teuerste Gerätschaft. Zusätzlich zu unserem Schutzprogramm hat sich Avaran seine Sicherheit einiges kosten lassen. Er hat einen Lifescanner installieren und den gesamten Gebäudekomplex mit einem PSC1 umgeben lassen.«

»Mit einem was?«

»Ein Energieschirm. Der Mann vom Wachdienst hat es mir wie eine überdimensionale, über den Schlossberg gestülpte, unsichtbare Glocke beschrieben. Wer oder was dem Schirm zu nahe kommt und größer ist als eine Elster, löst Alarm aus.«

Brandt bekam große Augen. »Ein Energieschirm?«

»Ein neues Spielzeug für die Leuchttürme der Gesellschaft, erst seit drei Monaten auf dem Markt. Der Wachmann kann es dir besser erklären.«

»Größer als eine Elster«, überlegte er. »Also angenommen, ein Kind wirft einen Ball über den Zaun, wird Alarm ausgelöst?«

»Abgesehen davon, dass es nicht ohne weiteres in die Nähe des Zaunes käme, so ähnlich haben es sich die Konstrukteure wohl gedacht.«

Der Kommissar war beeindruckt. »Apropos Elster, kann man schon sagen, ob etwas gestohlen wurde?«

»Nichts, soweit wir das bisher beurteilen können.«

»Vielleicht fand der Täter eine Gelegenheit, sich im Gebäude einschließen zu lassen.«

»Welche Gelegenheit? Das Schloss ist längst nicht mehr für die Öffentlichkeit zugänglich. Außerdem widerspräche es dem, wenn auch nur fragmentarischen, Satellitensignal, und auch der Lifescanner hat nichts dergleichen angezeigt.«

Brandt stutzte. »Ich glaube, ich muss meine Kenntnisse in Sicherheitselektronik mal wieder auffrischen. Was, in aller Welt, ist denn nun wieder ein Lifescanner?«

Kallenbach lächelte milde. »Auch das lässt du dir am besten von dem Wachmann erklären. Laut seiner Aussage jedenfalls hat der Lifescanner kein unbefugtes Leben im Schloss erkannt. Und der nimmt sogar die fürstliche Hauskatze wahr. Schau hier.«

Er deutete auf einen kleinen roten Punkt auf dem Bildschirm seines Interface, mit dem er sich Zugriff auf die Computer des Wachdienstes im Erdgeschoss verschafft hatte. »Und diese großen Kleckse hier, das sind wir.«

Nachdenklich ging Brandt im herrschaftlichen Schlafzimmer auf und ab. Er blieb am Fenster stehen und sah hinunter auf den Rhein, wie sich seine seichten Wellen gläsern im schwachen Mondlicht kräuselten. Dieses Schloss ist abgeschirmt wie Fort Knox. Niemand spaziert hier unbemerkt ein und aus. Ganz davon abgesehen, man geht nicht einfach zu jemandem wie Avaran. Man nähert sich ihm nicht einmal. Das ist verbotenes Terrain.

Das Leben hatte es mit Vincent Brandt nicht immer gut gemeint. An Schicksalsschlägen aber war er nie zerbrochen. Nicht, als seine Eltern bei einem Verkehrsunfall starben und er, als damals Neunjähriger, fortan bei seinen Großeltern aufwuchs und auch nicht, als seine Frau und seine kleine Tochter der Großen Grippe zum Opfer fielen. Unlängst hatte er seinen dreiundfünfzigsten Geburtstag gefeiert und er war sein einziger Gast. Die Jahre hatten dem schlanken, großgewachsenen Mann tiefe Furchen ins Gesicht gezeichnet und sein Haar war ergraut. Er war ein ernsthafter Analytiker, ein scharfer Beobachter mit verlässlichen Intuitionen und einem ausgeprägtem Rechtsbewusstsein.

Brandt stammte aus einem mittelrheinischen, von dunkelgrauem Moselschiefer geprägten, kleinen verschlafenen Dörfchen. Urbane Betriebsamkeit war seinen Einwohnern so fremd wie die sterile Anonymität der Stadt. Man fühlte sich als Teil einer verschworenen, die Beschaulichkeit schätzenden Gemeinschaft. Wenn er sich heute an seine Kindheit erinnerte, erschienen ihm immer wieder die gleichen Bilder: Wie er mit dem flachsblonden Toni aus der Nachbarschaft durch die nahen Wälder streifte, wie sie sich mit blauen Zähnen anlachten, wenn sie wieder einmal zu viele der köstlichen Heidelbeeren gefuttert hatten oder wie sie auf einer Wiese lagen, Grashalme kauten und, was bei den beiden Jungs stets zu außerordentlicher Erheiterung führte, mit einer selbstgebauten Zwille die nebenan weidenden Schafe beschossen, die dann unter entsetztem Geblöke davonstoben.

Eine einschneidende Wendung nahm das Leben des kleinen Vincent, als eines Tages Vater und Mutter von einer Spritztour in das nahegelegene Koblenz nicht wieder nach Hause gekommen waren. Ein Sattelzugfahrer hatte eine rote Ampel übersehen. Der Kleinwagen und seine Insassen wurden bis zur Unkenntlichkeit zerquetscht. Später bezeichnete er es als Glück im Unglück, dass er aus seiner vertrauten Umgebung nicht herausgerissen wurde, weil seine Großeltern, die den Nachbarhof bewohnten, ihn wie selbstverständlich aufnahmen. Seine kindliche Unbeschwertheit aber hatte an diesem Tag ihr jähes Ende gefunden.

Brandt war ein Mann ohne Fassade, indes mit direkter Ansprache. Im Gegensatz zu Uhland, der sich eher des eleganteren Floretts, respektive der scharfzüngigen Ironie als verbale Waffe bediente, sagte man ihm nach, dass die seine eher der mittelschwere Säbel sei. Seit mehr als zwanzig Jahren war er Polizist und bis heute fiel es ihm schwer, zwischen Arbeit und Freizeit zu unterscheiden. Seine Karriere fand ihren vorläufigen Höhepunkt vor sechs Jahren, als er zum Leiter der Mordkommission ernannt wurde. Brandt redete weniger aber sah mehr als andere, was ihm in seiner Dienststelle den, wie Kallenbach fand, adelnden Beinamen »Holmes vom Hunsrück« eingebracht hatte.

Nach dem Tod seiner Frau war er keine neue Beziehung wieder eingegangen. Der Schmerz über den Verlust saß zu tief. Noch nach Jahren, als die Zeit die Wunden leidlich geheilt hatte, glaubte er, seine Erfüllung allein in seinem Beruf gefunden zu haben und dass eine Frau in seinem Leben wohl keinen Platz wieder fände. Mit dem Alleinsein hatte er sich arrangiert, auch wenn ihm die allabendliche Leere in seiner kleinen Wohnung bisweilen schwermütige Momente bescherte.

Nach dem Studium hatte es ihn zur Marine gezogen. Einmal die Meere zu befahren war ein Traum, den er als kleiner Junge schon träumte. Er entschied sich für eine Offizierslaufbahn bei den Seestreitkräften. Eine degenerierte Bandscheibe bereitete seiner militärischen Karriere jedoch ein vorzeitiges Ende. Nach achtjähriger Dienstzeit wurde er als Fähnrich zur See entlassen.

Danach tauschte er die eine Uniform gegen eine andere. Er absolvierte ein Praktikum bei der Kriminalpolizei in Hamburg. Brandt wurde der Sonderkommission »Robin Hood« zugeteilt, die seit Wochen hinter einem Serienmörder her war, der seine Verbrechen ausschließlich in Hautevolee-Kreisen beging. Man fand seine Opfer allesamt erstickt. Robin Hood, wie sich der Täter selber nannte, hatte ihnen bündelweise Geldscheine in den Rachen gestopft und dann Mund und Nase mit Paketklebeband verschlossen. Er verstand sich, so hatte er es in einem Bekennerschreiben kundgetan, als korrigierendes Element in einer Welt voller Missverhältnisse. Wer im Überfluss lebe, solle auch am Überfluss sterben, lautete sein Credo. Tatsächlich fand er in den Reihen der armen Bevölkerungsschichten Sympathisanten, die ihn geradeheraus zum Helden verklärten. Für Brandt aber, in dessen Weltanschauung Recht und Gerechtigkeit höchste Wertschätzung genossen, war dieser Kerl nichts anderes als ein brutaler Verbrecher. Er war maßgeblich an seiner Ergreifung beteiligt. Dass dank seiner Hilfe dem Recht Genüge getan werden konnte, hatte ihm eine tiefe Genugtuung bereitet. Ebendieses Hochgefühl und ein gleichzeitiger nüchterner Kassensturz seiner Talente und Interessen verschafften ihm die Gewissheit, dass eine andere Laufbahn als die des Kriminalisten für ihn nun nicht mehr in Frage käme.

Jetzt, mehr als zwanzig Jahre später, als er vor dem toten Industriebaron stand, kam ihm der Fall von damals wieder in den Sinn. Reflexartig suchte er nach Zusammenhängen. Robin Hood hatte noch in der Untersuchungshaft seinem Leben ein Ende gesetzt, indem er sich einen Kugelschreiber bis zum Anschlag ins Auge rammte. Trieb da vielleicht wieder so ein Verrückter sein Unwesen, ahmte da womöglich jemand diese kaum zu begreifenden Taten nach?

In diesem Moment fielen ihm die eindringlichen Worte, die Staatsanwalt von Stauffen ihm vorhin mit auf den Weg gegeben hatte, ein: »Wir brauchen einen schnellen Ermittlungserfolg, Herr Brandt! Wir reden hier von einem Wirtschaftsmagnaten, der von uns aufwendig bewacht wurde. Sein Tod könnte unabsehbare Konsequenzen haben. Die Mittel für ARGUS werden nur solange fließen, wie wir erfolgreich sind. Wenn sich die Souveräne unseres Schutzes nicht mehr sicher sind ... Ich meine, wir leben zu einem guten Teil von diesen Einnahmen. Wir müssen unabkömmlich bleiben, verstehen Sie. Also schaffen Sie mir den Täter her!«

Mit der Reform der bewaffneten Exekutivorgane waren Polizei und Militär zu den »Supranationalen Sicherheitsorganen« zusammengelegt worden. Fortan veränderte sich die Aufgabe der Kriminalpolizei dahingehend, dass sie weniger für die Verfolgung von Straftaten im Allgemeinen zuständig war, sondern vorzugsweise dann tätig wurde, wenn Souveräne, wie sich die Eliten der Gesellschaft neudeutsch nannten, direkt oder indirekt von Delikten berührt waren. Konflikte in den unteren Schichten überließ man weitgehend dem Selbstlauf. Erziehungsmaßnahmen wie Gefängnisstrafen kamen immer seltener zur Anwendung, weil eine andere Form des Freiheitsentzuges sich als rentabler wie auch umfassend wirksamer erwiesen hatte, als jeder Aufenthalt in einer Zelle: Die Mangelsituation zwang die Bevölkerung, unverhältnismäßig viel Zeit zur Deckung ihrer natürlichen Lebensbedürfnisse aufzuwenden. Gleichzeitig vertraute man auf die zunehmende Entbildung der Massen, die Begehrlichkeiten und damit einhergehende Straftaten schon deshalb einschränkte, weil sie dort kaum noch vorstellbar waren.

Ein wesentlicher Bestandteil der Reform war ARGUS, ein Programm zum Schutz der Souveräne. Mit seiner Einführung erhielten die Kriminalämter Anteile aus den Erlösen, die die Nutznießer des Programmes zu entrichten hatten. So stellte man sicher, dass die Polizei den Privilegierten ihre ungeteilte Aufmerksamkeit widmete. Diese Praktik hatte sich seit einigen Jahren bewährt und in Polizeikreisen wollte man das großzügige und somit heißbegehrte Zubrot längst nicht mehr missen. Ein Ausfall der Maßnahme hätte unweigerlich eine drastische Minderung ihrer Einkünfte zur Folge. Die Honoratiorenschaft zahlte für ihre Sicherheit und erwartete dafür zuverlässigen Schutz.

Brandt war damals der Ideengeber für das Programm - ARGUS stand für adaptable & reliable guard system - gewesen. Nach dem massenhaften Exodus der Industrie aus Deutschland und den nachfolgenden Unruhen wurde ein kleines Team beauftragt, ein verbessertes Konzept für den privaten Personenschutz zu entwickeln. Der »Vorzeigebulle der Nation«, wie die Medien ihn damals nannten, war für seine Planung und die anschließende Umsetzung verpflichtet worden. ARGUS war ein ausgeklügeltes Zusammenspiel aus lückenlosem Monitoring schutzwürdiger Personen, ihrem sicheren Transport sowie individuell anpassbarer Überwachungselektronik auf deren Privatgrund. Nach einem Jahr Entwicklungsarbeit war ARGUS soweit ausgereift, dass es vom Innenminister erwartungsvoll und dankend absegnet werden konnte. Danach hatte Brandt die Zuständigkeit wieder abgegeben. Er sah seine Aufgabe nicht darin, die Funktionalität eines Bewachungssystems auf dem neuesten Stand zu halten, um dem Einfallsreichtum politisch Andersdenkender zu begegnen. Das wäre ein Job für jemanden, der den bequemen Beamtenalltag in einem geheizten Büro suchte. Nachdem das Konzept stand, sollte seine Sache wieder die Arbeit an den Brennpunkten sein.

Ursprünglich war ARGUS nur für die Bewachung von Politikern und Großindustriellen vorgesehen. Später wurde der maßgeschneiderte Schutz jedem ermöglicht, der Willens und in der Lage war, die nicht unerheblichen Kosten dafür zu berappen. Der zu schützende Personenkreis umfasste inzwischen auch Militärs, kirchliche Würdenträger, Adlige, prominente Ärzte und Anwälte, ebenso wie zu Wohlstand gekommene Sportler oder Künstler. Als sich die Krawalle auszuweiten begannen, ging die Angst unter den Souveränen um. Eines Morgens fand man einen Abgeordneten, der sich als erster für die Abschaffung der Rentenzahlungen ausgesprochen hatte, am Terrassendach vor seinem Haus erhängt auf. Seither verkaufte sich ARGUS wie die sprichwörtlichen warmen Semmeln.

Brandt war besorgt. »Ich muss nicht erwähnen, welche Auswirkung Avarans Tod auf unsere Budgetierung haben könnte. Stellt sich unser Schutzprogramm als unzuverlässig heraus, haben wir ein Problem.«

Uhland grinste. »Da fällt mir spontan ein Personenkreis mit einem weit größeren Problem ein.«

Verbindungen, wie die Natur sie versteht, zeichnen durch ihre Fertilität für Bestand und Entwicklung des Seins auf diesem Planeten verantwortlich. Ihre Früchte weisen elterliche Merkmale auf, wobei sich über die Generationen immer die mit dem besseren Anpassungsvermögen an die vorhandenen Umweltbedingungen durchsetzen. Somit ist das Werden, wenngleich nur eingeschränkt vorhersehbar, gewährleistet. Es ist ein kontinuierlicher Fluss hin zu einer nie vollendeten Reife.

Aus einer Verbindung von Kapital und Politik hingegen entsteht ein Artefakt, ein impotenter, inkurabler Homunkulus, in dem jegliche Entwicklung ihren Schlusspunkt findet. Um aber ihrer Profit generierenden, Macht verbriefenden Frucht die Existenz zu wahren, bedienen sich ihre Eltern verschiedener lebenserhaltender Strategien, wie Manipulationen auf der einen und Verordnungen, welche dieselben legitimieren sollen, auf der anderen Seite. Wesentliche Voraussetzung, dass die gesellschaftliche Balance währenddessen nicht in eine womöglich gefährliche Unwucht trudelt, ist die umfassende Kontrolle derer, die derlei Methodik nicht nur hinzunehmen, sondern auch tunlichst zu bejubeln haben.

Ein gutes Jahrzehnt war es her, dass der Staat die Aufsicht über die Haushalte von Städten und Gemeinden übernommen hatte. Ziel war der Zugriff auf das gesamte Steueraufkommen durch den Finanzminister, was nichts anderem als einer kommunalen Komplett-Insolvenz gleichkam. Wenn Regierung und Länder anfangs noch um einen tragfähigen Kompromiss zur geänderten Mittelverteilung gerungen hatten, wurden letzten Endes alle Kontroversen durch ein Machtwort des Kanzlers für »einvernehmlich beigelegt« erklärt.

Weitere fünfzehn Jahre zuvor, einhergehend mit der Wiedereinführung der nationalen Währungen in Europa, war Deutschland in eine prekäre wirtschaftliche Situation geschlittert. Bankenlobbyisten hatten noch gewarnt, ein Ende der Einheitswährung werde eine Krise auslösen, die einem Weltkrieg gleichkäme, doch den hatten die Finanzkartelle längst selber entfesselt. Freilich nicht mit militärischen Mitteln, sie bedienten sich einer subtileren Waffe: Geldmanipulationen. Das bot einen weit weniger martialischen Auftritt, die Auswirkungen aber waren nicht minder verheerend. Viele Jahre hatte die europäische Gemeinschaftswährung als Instrument zur reibungsfreien Durchsetzung von Finanzinteressen gedient. Ihre Grablegung hatte am Ende, trotz aller vorausgegangen Kassandrarufe, außer der turnusfälligen Rezession keine Folgen für die Geldindustrie. Nach einer kurzen Einrüttelphase lief die Maschinerie wieder wie geschmiert.

Konzerne und Industrieunternehmen dagegen waren in dieser Periode sukzessive, gemäß ihrem Drang, lohnendere Märkte zu erobern, nach Asien und Südamerika weitergezogen. Das Gros der Arbeitsplätze wurde in sogenannte aufstrebende Nationen ausgelagert. In Deutschland beließ man, wenn überhaupt, nur die Konzernzentralen. Lediglich in einigen der alten Produktionsstätten wurden noch diverse Jobs angeboten. Arbeitsverträge vergab man nur wochenweise und die Verdienste, die dort zu erzielen waren, reichten kaum zum Leben. Trotzdem spielten sich an jedem Montagmorgen die gleichen Szenen vor den Werkstoren ab. Um jede angebotene Stelle wetteiferten ein Dutzend Interessenten, und wem es nicht gelang, einen der heißbegehrten Wochenverträge zu ergattern, und wer auch ansonsten keine Möglichkeit des Gelderwerbs fand, wie etwa durch private Dienstleistungen, dem blieb oftmals nur der Einsatz von Überlebenstechniken, die getrost als akrobatisch zu bezeichnen waren.

Auch EuroPharm beschäftigte Wochenlöhner. Um seine Verbundenheit zur Heimat zu demonstrieren, residierte der Vorstand weiterhin in Berlin. Entwicklung, Produktion und andere wichtige Ressorts, insgesamt fast dreihunderttausend Arbeitsplätze, waren schrittweise nach China verlegt worden. In Deutschland existierten, neben einigen Prüf- und Kontrolllabors, nur noch die Auslieferungslager für den inländischen Handel. Jeden Sonntagnachmittag bildeten sich vor dem Firmengelände bereits Schlangen. Die Frühschicht begann am Montag um sechs, das Auswahlverfahren für die Arbeitskräfte zwei Stunden vorher. Für die Prozedur ging man durch eine der Schleusen am Werkstor, wo ein Lesegerät den Gesundheitszustand vom personal chip scannte. Wer für tauglich befunden wurde, erhielt eine sechs Tage gültige Arbeitserlaubnis, die ihm für die nächste Woche beileibe kein üppiges Leben, zumindest aber das Überleben sicherstellte.

Im Gegensatz zu anderen großen Unternehmenssparten hatte die Rüstungsindustrie Deutschland nicht den Rücken gekehrt. Um unabhängig von Vorschriften weltweit ihre Güter zu vertreiben, strebte ihre Lobby nach rechtlicher Autonomie, die sie mit der Drohung erwarb, als eine der letzten produktiven Gewerbe das Land zu verlassen. Die Regierung lenkte ein und ließ die Manager gewähren.

Die Abwanderung der Konzerne und die damit einhergehenden Steuerrückgänge brachten Deutschland an den Rand des Staatsbankrottes. Verschärft wurde die ruinöse Bilanz zusätzlich durch die Auswirkungen der Großen Grippe, die zwischenzeitlich wütete. Das Land verlor ein Drittel seiner Bevölkerung, vornehmlich junge Leute. Vielerorts lohnte es nicht mehr, die Infrastruktur zu erhalten, geschweige denn auszubauen. Der Verfall der Städte vollzog sich schleichend. Aufgrund des stark zurückgegangenen Individualverkehrs wurden kaum noch Straßen repariert, wichtige Bahnlinien mussten aufgegeben werden und viele öffentliche Einrichtungen fielen notwendigen Sparmaßnahmen zum Opfer. Einzig in Ämter und Behörden, in Polizei und insbesondere in das Militär investierte man weiterhin großzügig.

Eine andere Strategie als die Industriekonzerne verfolgte die Finanzbranche, die am Standort Deutschland festhielt. Der Einfluss der Geldmärkte hatte rund um den Globus dramatisch zugenommen. Durch ihre Kreditsysteme kontrollierten sie alle wichtigen Nationen. Ziel der Bankenkartelle war es in letzter Konsequenz, an der Spitze einer elitären »Eine-Welt-Regierung« zu stehen, was sie seit einiger Zeit auch immer öfter und vehementer einforderten. Deutschland, ein von fortschreitender Deindustriealisierung ergriffenes Land, in dem man sich von jeglichem Engagement, das mit Geldwirtschaft zu tun hatte, den dringend herbeigesehnten Aufschwung erhoffte und wo deshalb kaum mit politischer Gegenwehr zu rechnen war, bot als Standort zur Verfolgung ihrer ehrgeizigen Ziele beste Bedingungen. So war der Kanzler in der Hoffnung, die völlig aus dem Ruder gelaufene Staatsverschuldung wieder in den Griff zu bekommen, damals der Forderung des Vorstandes des größten nationalen Bankenkonsortiums, Wolf Gulau, nachgekommen, ihm das Finanzministerium zu unterstellen. Die Finanzen von einem Fachmann managen zu lassen hielt er offenbar für eine vernünftige Idee. Der größte Gläubiger aber war dessen eigene Bank, die Germania Bank. In seiner neuen Funktion als Finanzminister trieb dieser den Staat in immer höhere Schulden. Aber damit nicht genug: Er legte dem Parlament einen Gesetzentwurf vor, nach dem alle Steuergelder, die bisher in die Länder- und Gemeindetöpfe flossen, an die zentrale Staatskasse abzuführen und von dort wieder neu aufzuteilen waren. Außer den zwingend notwendigen Zuweisungen zur Erfüllung der kommunalen Pflichten, die im Wesentlichen nur noch aus der Vollzugskontrolle von Gesetzen und Vorschriften bestanden, oblag jede weitere Mittelvergabe allein seinem Gutdünken.

Ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur uneingeschränkten Herrschaft über die Finanzen war, die Öffentlichkeit hinter sich zu bringen. Durch absichtsvoll herbeigeführte Krisen und geschickt orchestrierte Medienkampagnen hatten viele Menschen ihre Ersparnisse verloren. So aufgestachelt verlangten sie daher immer lauter nach einem fähigen Mann an der Spitze des Finanzressorts, einem, der etwas vom Geld verstünde. Und wer anderes konnte das sein, als ein mit allen Wassern gewaschener Banker. Dass sie dabei ausgerechnet nach dem Verursacher ihrer Misere riefen, erkannten sie auch dieses Mal nicht. Damit war Gulaus Bank de facto in der Lage, den Staatshaushalt lückenlos zu kontrollieren. Auf die Frage eines Journalisten, was ihn denn eigentlich zu politischer Arbeit befähige, antwortete Gulau einmal: »Der Staat benötigt Geld. Meine Bank erzeugt Geld.« Als der Journalist nachfragte, ob es denn nicht eher so sei, dass speziell die Germania Bank weniger Geld erzeuge, als vielmehr vorhandene Werte so abstrahiere, dass die Verbindlichkeiten immer beim Staat, die Gewinne aber immer bei der Bank lägen und dass er den Fiskus somit zu seiner privaten Profitmaschine umfunktioniert habe, brach er das Interview mit einem: »Wie war nochmal Ihr Name?« ab.

Korrumpierte Parlamentarier segneten Gulaus neues Gesetz ab, ohne sich auch nur im Ansatz über seine Folgen im Klaren zu sein. Von nun an existierten die Prinzipien des Föderalismus und die Souveränität der Länder als Bestandteil im politischen System Deutschlands nur noch auf dem Papier. Bürgermeister und Landräte prophezeiten, dass die neue Gelderverteilung, wie man sie sich hinter verschlossenen Türen ausgedacht und dann in den staatlichen Medien als innovative Reform des deutschen Finanz- und Steuerrechts verkündet hatte, nicht funktionieren würde. Eine Einschätzung, mit der sie recht behalten sollten. Städte und Gemeinden verhungerten am ausgestreckten Arm. Notwendige Mittel zur Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens waren praktisch nicht mehr vorhanden. Der Betrieb von Kliniken und Krankenhäusern konnte, ebenso wie der von Bildungseinrichtungen, nur noch in stark eingeschränktem Maße sichergestellt werden. Auch für den Erhalt von kulturhistorisch wertvollen Gemäuern standen keine Gelder mehr zur Verfügung. Die finanzielle Notlage zwang die Länder, Schlösser, Burgen und Museen samt ihrer Kunstschätze zu veräußern. Kultur rechnete sich ohnehin nicht mehr, seit der größte Teil der Menschen im Land kein regelmäßiges Einkommen mehr erzielte und sein knappes Salär für etwas Essbares zusammenhalten musste. Zudem verband man mit dieser Maßnahme die Hoffnung, dass das kulturelle Erbe von privaten Händen besser gepflegt werden würde, als die klammen Länder und Gemeinden dazu noch imstande gewesen wären.

Die Grundstruktur der Gesellschaft hatte sich verändert. Nachdem der Mittelstand durch einen nicht länger verkraftbaren, finanziellen Aderlass weitgehend zerrieben war, gliederte sie sich im Wesentlichen in ein auf nur noch zwei Schichtungen reduziertes System: in die oben positionierten Eliten und die dominierten Massen in den unteren Etagen der Gesellschaftspyramide. Die umgreifende Verarmung hatte viele in eine prekäre Lebenssituation gebracht. Irgendjemand hatte sich selbst einmal als »Brick« bezeichnet, was im Englischen so viel wie »Ziegel« bedeutet, in erweitertem Sinne aber auch mit »Brikett« übersetzt werden kann. Eine kritische Selbstreflexion hatte ihm die Erkenntnis eingebracht, dass er, gleich einem Mauerstein, wohl nützlicher Teil eines Bauwerks sei, bei nachlassendem Nutzen aber wie ein Stück Kohle verfeuert werden würde. »Brick« wurde sehr schnell zur Modevokabel. Es klang nach einer Mischung aus Sarkasmus und Galgenhumor, wenn sich Angehörige der unteren Schichten fortan selber »Bricks« nannten. Von besser Bemittelten ausgesprochen indes haftete dem Begriff immer ein leiser Beigeschmack der Verachtung an. »Bricks« wurde bald zur allgemeingebräuchlichen Bezeichnung für jene drei Viertel der Bevölkerung, deren Leben sich zwischen täglichem Überlebenskampf, Sorge um Nest und Nachwuchs, Sportübertragungen, digitalen Verführungen und Streitereien ums Nichts abspielte, die sich in Drogen, Religionen, Alkohol und Promiskuität flüchteten, die ihrer Kompetenz enteignet worden waren und in deren abgeschottetes, kleinkriminelles Milieu sich der Staat kaum noch einmischte. Dieser Schicht, so hieß es, fehle sowohl das Interesse als auch das intellektuelle Verständnis für Recht und Ordnung, soziale Verständigung und kulturelle Identität. Allein die Staatsdiener, zu denen auch Brandt und sein berufliches Umfeld zählte, Banker, vermögende Freiberufliche und einige Sportidole, denen in den Armenbezirken eine vergleichbare Verehrung zuteilwurde, wie den Gladiatoren der römischen Antike, bildeten eine Art Restbürgertum.

Zeitgleich mit der Reformierung der Exekutivorgane und der Einführung von ARGUS war die deutsche Bevölkerung mit dem Gesetz der »Nachhaltigen Terrorprävention« konfrontiert worden. Zur Sicherheit der Bürger und zum Zweck einer effektiven Verbrechensbekämpfung, so die amtliche Lesart, war mit seinem Inkrafttreten das Tragen des personal chip vorgeschrieben. Binnen einer Jahresfrist wurde jeder auf deutschem Territorium lebenden Person der Chip eingesetzt. Neugeborene bekamen ihn seither unmittelbar nach der Geburt implantiert. Der in den Hirnstamm eingepflanzte Mikrochip übernahm nach seiner Initialisierung die Steuerung der Informationsflüsse im Zwischenhirn sowie der Afferenzen vom und zum Rückenmark. Ein unqualifiziertes Entfernen des Chip oder der Versuch einer elektronischen Manipulation hatte schwerwiegende Beeinträchtigungen des Zentralnervensystems zur Folge und führte notwendigerweise zum Hirntod.

Der künstliche Körperteil stellte aber nicht nur das Überleben sicher, sondern regelte längst auch den Alltag. Ohne den Chip war man quasi nicht mehr existent. Er hatte Personaldokumente, wie Reisepass oder Führerschein, abgelöst. Alle persönlichen Informationen, unter anderem biometrische Daten, Gesundheitszustand, Auffälligkeiten, Lebenslauf, Qualifikationen wie auch die Bonität bildeten das »Persönliche Profil«, das auf dem Chip gespeichert und auf den zuständigen Behördenservern einzusehen war. Auch jeglicher Zahlungsverkehr wurde über den Chip abgewickelt. Ein direkter Kontakt mit seiner Bank war für den Kunden nicht mehr vorgesehen. Alle Kontobewegungen wurden via Satellit auf den Chip übertragen, und über sein »InterData,- Funk- & Media Access Device«, kurz Interface, war es jedem Bürger möglich, Geldbewegungen und seine daraus resultierende Kredithöhe einzusehen. Geldkarten aller Art waren abgeschafft und das wenige noch im Umlauf befindliche Bargeld fand im normalen Tagesgeschäft kaum noch Akzeptanz. Zahlkassen gab es in den Verkaufseinrichtungen nicht mehr, man zahlte per Chip »im Vorbeigehen« an einem der Disponierer, die in Märkten, Kaufhäusern und Läden an den Ausgängen angebracht waren.

Global Observation and Trace Tracking System – am Namen des Systems hatte ein ganzes Angestelltenheer des Informationsministeriums getüftelt. Auch wenn es im Englischen keine umgangssprachliche Entsprechung dafür gab, so ließ sich doch aus den Anfangsbuchstaben das Akronym ›GOTT‹ ableiten, ein Abstraktum, welches den Menschen von Anbeginn Ehrfurcht abverlangte und ihnen nun die neue Allmacht vergegenständlichen sollte. Und in der Tat, mit der Inbetriebnahme des Systems sah und wusste sein Betreiber, der Staatsschutz, alles über eine Person, konnte walten und richten, so, wie es in den Vorstellungen Gläubiger nur der Schöpfer selbst vermochte. Als das System, seinem Allgewalt suggerierenden Namen gerecht werdend, weltweit zum Einsatz kam, wurde das Kurzwort ›GOTT‹ auch in andere Sprachen übernommen, wenngleich es seiner Sinnfälligkeit aus dem Deutschen dort entbehrte.

Anfangs stieß ›GOTT‹ auf erhebliche Ressentiments bei der Bevölkerung. Denen begegnete man zuerst mit den üblichen Mantras, wie etwa »Zu Ihrer eigenen Sicherheit« oder »Fortschritt durch den Chip«. Derlei Slogans wären leicht als Täuschungsversuche zu entlarven gewesen, doch die Anfälligkeit großer Teile der Gesellschaft für seligmachendes Heilsgefasel spielte ihren Verbreitern unwillkürlich in die Hände. Nach einer »vertrauensstiftenden Phase« schließlich wurde das Tragen des Chip ohne weitere Debatten per Gesetz verordnet. Unbestritten wartete dieser mit einigen Features auf, die den Alltag vereinfachten. Tatsächlich aber ließ sich damit dessen originärer Zweck, nämlich die umfassende Kontrolle der Privatsphäre, unkompliziert verschleiern.

Das Konzept sah vor, dass jeder Person, neben ihrem persönlichen Profil, ein digitaler Identifikationscode zugeordnet und auf ihrem Chip hinterlegt war. Der Chip stand in permanentem Austausch mit einem Satellitensystem, den sogenannten Fahndungssatelliten, kurz »Fahnder« genannt. Alle ermittelten Daten wurden live an die Rechenzentren der Sicherheitsorgane gesendet, dort elektronisch ausgewertet und in einer Datenbank gespeichert, auf das auch Brandt im Rahmen seiner Ermittlertätigkeit zugriffsberechtigt werden konnte. Anhand dieser Informationen waren Polizei und Militär imstande, Aufenthalte und Wege einzelner Personen, genau wie Menschenansammlungen, zu jeder Zeit und an jedem Ort festzustellen.

Das neue Verbrechensbekämpfungsgesetz sah man in der Regierung als erforderlich an, weil sich infolge der Deindustriealisierung die Armut auch in den bislang besser situierten Schichten ausgebreitet hatte. Der Mittelstand war zusehends verarmt, und als die Banken begannen, Konten und Eigenheime der Bürger zu pfänden, entdeckten diese ihre Gemeinsamkeiten mit dem Prekariat. Eines Tages standen sie gemeinsam auf der Straße. Wöchentlich traf man sich in allen größeren Städten zu Protestmärschen, die oftmals dann, wenn die Sicherheitskräfte einschritten, in blutigen Straßenschlachten endeten. Am Ende waren die zuständigen Organe kaum mehr in der Lage, ihre Aufgabe zu bewältigen.

Um bei militärischen Einsätzen im Inneren stets die höchstmögliche Effizienz zu erzielen, hatte der Staatsschutz die alte Idee, die Bevölkerung per Chip zu erfassen und zu kontrollieren, wieder aus der Schublade gekramt. Versammlungen waren jetzt schon in ihrer Entstehung zu erkennen und befähigten das Militär, bei sich anbahnenden Ausschreitungen schnell und wirksam gegenzusteuern.

Bei der Einführung von ›GOTT‹ setzte die Regierung insbesondere auf das Vertrauen der jungen Leute. Und in der Tat war die Jugend auch schnell begeistert ob der neuen Möglichkeiten, die der künstliche Körperteil bot. Ohne die wirklichen Absichten seiner Betreiber zu hinterfragen, war man bereit, für einige innovative Spielereien sein Privatleben offenzulegen. Die Erfahrungen der Vergangenheit noch im Gedächtnis war es die ältere Generation, die kritisch bis ablehnend auf den Chip reagierte. Es hatte sie damals nicht unvorbereitet getroffen, als die Erfassung ihrer Daten und das Ausspionieren ihrer Privatsphäre Stück für Stück legalisiert und schließlich zur Normalität geworden war. Doch anstatt sich zu widersetzen, und wäre es nur durch den Verzicht auf einigen elektronischen Flitter gewesen, huldigten sie den Mainstreamclaqueuren. Mehr noch: Sie fanden es zunehmend unvernünftig, sich nicht jedem neuen vermeintlichen Komfortmuss zu unterwerfen. Was ein gesunder Verstand anfangs noch instinktsicher als nutzlos oder schädlich beurteilt, deutet ein durch methodische Einflüsterungen ermüdeter Verstand irgendwann als logisch und unverzichtbar um. Eine menschliche Schwäche, die sich politische Treiber und Trommler gern zunutze machen. Und so waren sie dem Apparat, dessen berechnende Radikalität sie regelmäßig unterschätzten, einmal mehr in die Falle gelaufen.

›GOTT‹ war zuerst ein deutsches, später dann ein Projekt der internationalen Konföderation, in dem Deutschland die Pionierrolle zukam. Angesichts der »guten Erfahrungen«, die man hier gesammelt hatte, verordnete man sehr schnell zuerst im restlichen Europa, dann in Nordamerika, Russland und den bevölkerungsreichen ostasiatischen Ländern seinen Einwohnern den Chip. Vier Jahre später war ›GOTT‹ weltweiter Standard. Einzig einige südafrikanische Staaten lehnten eine Verchipung ihrer Bevölkerung ab, der Grund, warum die Konföderation sie fortan boykottierte. Grenzübertritte in und aus diesen Ländern waren seither streng reglementiert, ebenso wie Handels- und diplomatische Beziehungen weitgehend eingestellt wurden.

Jeder Schritt, jede Bewegung gleich welcher Art, jeder Kontakt zu einem Lesegerät, jede gesendete oder empfangene Nachricht, jede Kontobewegung, jede Besorgung, selbst jeder Restaurantbesuch erzeugte Daten, die pausenlos vom Chip via Satellit zu einem der Zentralrechner übertragen und dort ausgewertet wurden. ›GOTT‹ verband als erstes intelligentes Spähsystem alle weltweit gesammelten Informationen. Es wusste, wo sich eine Person aufhielt, was sie tat, warum sie es tat und berechnete voraus, was sie als nächstes tun würde. Software-Algorithmen beurteilten, ob sich eine Person den Vorschriften gemäß oder verdächtig verhielt. Das System war sogar imstande, Schlüsse über Charakter und Wesensmerkmale zu ziehen. Was der Kirche in zweitausend Jahren mit der Proklamation eines allessehenden Gottes und mit der formelhaft wiederholten Warnung vor einem himmlischen Strafgericht nie vollständig gelungen war, nämlich das Massenbewusstsein zu lenken, erreichten die Geheimdienste mit dem Einsatz des Global Observation and Trace Tracking System. Im Unterschied zu den überlieferten Göttern aber, die noch nie jemand zu Gesicht bekommen hatte und deren Wirken gern von ungöttlichen Pannen begleitet war, existierte ›GOTT‹ real und arbeitete fehlerfrei.

Die Idee von der totalen Steuerung des Menschen war perfektioniert, das Instrument dafür in die Köpfe verschoben: Kontrolle durch Selbstkontrolle. Aus der verbindlichen Gewissheit einer Dauerobservierung erwuchs intuitiv die Angst, dass aus den gesammelten Daten falsche Schlüsse gezogen und man schuldlos von der unheimlichen Maschinerie verschlungen werden konnte. Und so hinderte man sich letztendlich, in gleichsam freiwillig gezwungenem Gehorsam, selber am Ausleben von natürlichen Bedürfnissen und Begabungen. Identitäten waren zu digitalen Adressen konvertiert.

Die Menschen wehrten sich nicht mehr dagegen. Sie flohen auch nicht mehr, denn es gab kein Wohin. Und dem Bastard, geboren aus der Ehe von Politik und Kapital, war ein gedeihlicher Fortbestand gesichert.

Personen in »herausragender gesellschaftlicher Stellung«, wie Rikard Avaran, ermöglichte man die Deaktivierung ihres personal chip. Diese Prozedur, so hieß es, sei ein technisch hochanspruchsvolles Verfahren, bei dem erst während des Eingriffs ein Programm die erforderlichen Codes generiere, die den Chip stilllegten und damit die Blockade des Nervensystems aufhoben. Danach konnte der Chip entfernt werden, ohne dass die betroffene Person Schaden nahm.

Indes besaß ein »Explantierter« einen Status, der die Inanspruchnahme von ARGUS nahelegte. So wurde die gewonnene Freiheit durch das Schutzprogramm, das, wie ein Fahnder, jeden Schritt beobachtete, praktisch wieder eingebüßt. Insofern war ein Souverän inhaftiert wie jeder andere auch, in einem Edelgefängnis zwar, aber inhaftiert. Trotzdem, allein die Gewissheit, selber zu entscheiden, wann und wie man überwacht wurde, ging, so fand man in den elitären Kreisen, mit einer elementaren Aufwertung der Lebensqualität einher. Zudem war es auf den Upper Class Partys immer wieder ein besonderer Genuss, einen »Chipsy« auf seinen »kleinen Makel« hinzuweisen.

»Warum Avaran?«, dachte Brandt laut.

»Ich kann mich irren«, antwortete Uhland bissig, »aber ich schätze, er hat sich nicht nur Freunde im Leben gemacht. Dieser Unfall, als den die Staatspresse seine Gewinnparanoia damals verkleidete, war die größte humane Katastrophe aller Zeiten.«

Brandt musste nicht daran erinnert werden. »Ihm wurde keine Schuld nachgewiesen.«

Uhlands Bissigkeit schlug in Groll um. »Nein. Weil es in diesem Land keine Gerichte für Leute wie ihn gibt.«

Während sich die Journaille seinerzeit mit Spekulationen überbot, was denn genau zur Katastrophe geführt hatte, sprachen die offiziellen Medien beharrlich von einem Unfall. Selbst Brandt, der sich als einen eher getreuen Staatsdiener bezeichnete, war diese These so wenig glaubhaft erschienen, wie das Presseorgan selbst. Denn immer dann, wenn es seinem Informationsauftrag hätte nachkommen sollen, sah es seine Bestimmung darin, die Ereignisse zu interpretieren statt zu erklären.

»Zugegeben, er gehört nicht zu den Opfern, die mein Mitgefühl erwecken. Aber es ist nicht unsere Aufgabe, die ethischen Maßstäbe der Justiz zu bewerten. Meine Frage zielte auf etwas ganz anderes ab: Avaran war ein Kontrollfreak. Dieses Haus gleicht einem Maginot-Bunker. Allein hier einzudringen ist ein Husarenstück. Aber ihn zu töten und wieder zu verschwinden, und das alles unerkannt und innerhalb weniger Sekunden, das ist ein wahrer technischer Coup.«

Tatsächlich schien das Schutzbedürfnis Rikard Avarans hochgradig ausgeprägt, hatte er doch, zusätzlich zu den ARGUS-Maßnahmen, noch weiter aufgerüstet. Neben der obligatorischen Wachmannschaft beaufsichtigte ein Dutzend Elitesoldaten das Schloss und seinen Herrn. Fünf Männer waren für die Sicherung von Höfen und Gärten zuständig, weitere fünf patrouillierten in den Umgebungsparks und zwei beaufsichtigten die Monitore im Erdgeschoss.

Im Frühjahr hatte eine Neuerscheinung auf der Securitymesse für Aufsehen gesorgt. Einer auf Überwachungstechniken spezialisierten schwedischen Firma war es gelungen, hochfrequente Felder in beliebigen Formen und Größen zu erzeugen. Mit Hilfe von Sendern und Sensoren, die man rund um ein Gelände in Fels oder Erdreich verdeckt platzierte, ließ sich ein halbkugelförmiges Energiefeld mit einem Durchmesser von mehreren hundert Meter aufbauen. Avaran war einer der ersten, der sein Anwesen mit Hilfe dieser unsichtbaren Kuppel schützen ließ.

Um seine Wissenslücken in punkto Sicherheitselektronik, speziell der auf Stolzenfels, zu füllen, begab sich Brandt nach unten in den großen Rittersaal, wo die Männer des Wachdienstes vor ihren Bildschirmen saßen. »Guten Morgen«, rief er ihnen angesichts der fortgeschrittenen Uhrzeit zu. Inzwischen war es fast fünf und draußen schickte der Tag sein erstes diffuses Licht über den Rhein. »Darf ich Ihren Namen erfahren?«, sprach er einen der Wachleute an.

»Hauser«, knurrte der ohne aufzuschauen. Hauser war ein finster dreinblickender Zweimeterriese, der Brandt augenblicklich an einen Eisenbieger erinnerte, den er als Kind einmal auf einer Kirmes bestaunt hatte. Sein kahler Schädel, ein schwarzer Kinnbart und eine dunkle Sonnenbrille, die er offenbar auch nachts nicht abnahm, beförderten zusätzlich sein angsteinflößendes Äußeres.

»Ich bin Hauptkommissar Brandt, der leitende Ermittler. Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.«

Hauser drehte sich langsam um. Dann stand er auf. Wenn sich seine Statur im Sitzen bereits erahnen ließ, ragte der Wachmann jetzt wie ein Berg vor dem Kommissar auf, der, selbst eine stattliche Erscheinung, ehrfürchtig nach oben blickte, als er dessen tatsächliche Ausmaße erfasste. Vorsichtig griff er nach der ausgestreckten klobigen Pranke. »Ist Ihnen gegen Mitternacht etwas Besonderes aufgefallen?«, fragte er, noch immer von Hausers physischer Wucht ergriffen.

»Bei meinem letzten Kontrollgang um halb zwölf gab es keine besonderen Vorkommnisse. Genau um null Uhr dann erlosch die Anzeige auf dem Lifescanner.«

Donnerwetter, es spricht, stellte Brandt erleichtert fest. »Was genau tut dieser Lifescanner?«

Hauser brachte sich in Positur, als hätte er einen wichtigen Vortrag zu halten. Dabei zeigte er sich weit weniger einsilbig und auch viel umgänglicher, als Brandt es nach dem ersten Eindruck befürchtet hatte. »Es handelt sich um ein hochsensibles Messinstrument, einfach gesagt, um eine Kombination aus Temperaturfühler und einer Art Seismograph. An allen Zimmerdecken befinden sich Sensoren, die thermographische Abweichungen wahrnehmen, wie sie durch unsere Körperwärme entstehen, genauso wie die Schwingungen, die unser Puls erzeugt. Mittels dieser beiden Informationen identifiziert es alles, was sich warmen Geblüts und eines Herzschlages erfreut als lebendes Objekt, welches dann schematisch auf dem Bildschirm dargestellt wird. Sehen Sie hier.« Er zeigte auf einen der Monitore. »Das ist das Schlafzimmer. Diese roten Visualisierungen sind ihre Leute.«

Brandt nickte. Es waren die »Kleckse«, die er vorhin auf Kallenbachs Interface gesehen hatte.

»Personen«, fuhr Hauser fort, »die sich im Gebäude aufhalten, werden von den Sensoren erfasst und als solche erkannt. Ändern sich die Voraussetzung, die zur Identifizierung führen, erlischt die Anzeige. Avarans Herzstillstand löste den Alarm aus.«

»Was haben Sie danach getan?«

»Was das Regelwerk von ARGUS in diesem Fall vorschreibt: Bei Unregelmäßigkeiten jedweder Art ist sofort die nächste Polizeidienststelle zu kontaktieren. Was ich auch unverzüglich tat. Dann sind ein Kollege und ich nach oben gegangen und haben nachgesehen. Er war tot.«

»Wie haben Sie seinen Tod festgestellt?«

»Herr Hauptkommissar, ich habe dreizehn Jahre meines Lebens in Kriegsgebieten zugebracht und dabei unzählige Tote gesehen. Glauben Sie mir, ich weiß, wann einer tot ist.«

Brandt nickte abermals. »Wir müssen das später noch protokollieren. Das heißt also, unmittelbar nachdem das Gerät keine Lebenszeichen mehr von Avaran sendete, waren Sie an seinem Bett?«

»Keine fünf Minuten später.«

»Liefert das Gerät nur Livebilder oder zeichnet es auch auf?«

»Alles wird gespeichert. Sie können hier jede Bewegung nachvollziehen, die es seit dem letzten Jahr in diesem Haus gegeben hat.«

»Gut, dann sehen wir uns doch die Bilder an, die während der Tatzeit aufgezeichnet wurden.«

»Kein Problem.« Hauser setzte sich wieder. Er stellte die Uhrzeit ein und startete die Wiedergabe. Minutenlang blickten sie auf ein regloses, farbig leuchtendes Oval, den schlafenden Hausherrn. Als es erlosch, begannen Hausers Finger auf der Tastatur herumzuklimpern. »Sie können sich denken, dass ich es mir schon angeschaut habe. Mir ist nichts außergewöhnliches aufgefallen.«

»Spielen Sie es noch einmal ab!«

Hauser gehorchte, wenn auch widerwillig. »Da, sehen Sie das?«, rief Brandt plötzlich.

Der Wachmann schaute aufmerksam auf den Monitor. Ein schwacher rötlicher Schatten bewegte sich quer durch den Raum auf das Oval zu, um dort kurz zu verharren. Nach kurzer Zeit verschwand er wieder. Genauso unvermittelt, wie er gekommen war.

Hauser riss die Augen auf. »Verdammt! Das muss ich übersehen haben. War er das?«

»Ich schätze, wir haben eben ihren nächtlichen Besucher kennengelernt. Aber«, und dabei sah er den Wachmann fragend an, »er war viel kleiner als Avaran.«

Hauser grinste. »Das ist leicht zu erklären. Er liegt im Bett, der Eindringling hingegen steht. Eine stehende Person reflektiert eine kleinere Fläche als eine liegende.«

Das leuchtete ein. Aber wo war er hergekommen und wie hatte er sich wieder davongemacht? Brandt fand keine Erklärung für das, was er eben gesehen hatte. Nachdenklich lief er zwischen den Überwachungsterminals und einigen der aufgestellten alten Rüstungen auf und ab. »Immerhin, der Lifescanner hat ihn erfasst. Er ist kein Geist«, murmelte er vor sich hin. Dann wandte er sich wieder an den Wachtmeister. »Was glauben Sie, wie er hereinkam?«

»Ich habe nicht die blasseste Ahnung. Selbst wenn wir unterstellen, die Mannschaft sei in einen kollektiven Sekundenschlaf gefallen, so müsste sein Kommen und Gehen auf den Instrumenten nachvollziehbar sein. Aber Sie haben es ja selber gesehen, da ist nichts.«

Brandt wollte noch etwas wissen: »Erklären Sie mir doch bitte noch, wie dieser Energieschirm funktioniert.«

»Der power shield, kurz PS1, wie die Schweden ihr Produkt getauft haben, wurde zur Kontrolle militärischer Objekte ohne ständige Anwesenheit von Wachdiensten konzipiert. Es verhindert nicht das Eindringen von Unbefugten, aber es verhindert das unbemerkte Eindringen. Sobald man dem Schirm zu nahe kommt, wird ein Alarm ausgelöst.«

»Wie kommt man als Privatperson an solch eine Spielerei?«

»Das Geschäft mit dem PS1 lief nur schleppend. Kaum ein Land war bereit, in diese teure Technologie zu investieren. So hat man sich in Stockholm entschlossen, eine zivile Variante, den PSC1, anzubieten. Das C steht für civil

Brandt nickte interessiert. »Und wie regeln Sie es, dass nicht jeder Spatz, der über den Schlossberg fliegt, Sie in Bereitschaft versetzt?«

»Die Stärke des Feldes lässt sich regulieren. Je stärker, desto undurchlässiger ist es. Unser System ist so eingestellt, das alles unter einem Volumen von hundert Litern, das entspricht, grob gerechnet, einem halben Kubikmeter, nicht erfasst wird. Fuchs und Hase zum Beispiel oder der gemeine Sperrling lösen keinen Alarm aus. Hirsch und Wildsau dagegen schon.«

»Und das funktioniert?«, fragte Brandt ungläubig, was ihm ein mitfühlendes Lächeln Hausers einbrachte. »Nehmen wir einmal an«, überlegte er weiter, »der Größenunterschied dieser bunten Kringel lag doch nicht ...« Im selben Moment begriff er bereits, dass das wohl nicht das Highlight der scharfsinnigen Kriminalistenfragen werden würde. Hauser verzog das Gesicht, aber Brandt wollte noch nicht aufgeben. »Nur mal hypothetisch: Jemand richtet einen, sagen wir ...« Er redete jetzt langsamer, wie einer der zu verstehen beginnt, dass er den begonnenen Satz zu keinem glücklichen Ende mehr führen konnte. »... einen Schimpansen so ab ...« Er ließ seine Worte langsam ausklingen, wie ein Decrescendo am Ende einer Klaviersonate. Seine Einlassung musste auf den Wachmann dilettantisch wirken. Der aber ließ sich nichts anmerken.

»Hm, Unsinn.« Brandt konnte sich auf all das keinen Reim machen. »Warum gibt es eigentlich keine Videoüberwachung im Schlafzimmer?«

»Gute Frage. Die wäre hilfreicher gewesen, als dieser ganze millionenteure Firlefanz. Seit die Satelliten über uns kreisen ist es nicht mehr schicklich, sich in Privaträumen von Kameras beobachten zu lassen. Sie werden bei keinem Souverän mehr eine finden.«

Der Kommissar war fürs erste zufrieden. Er hatte sich schon von Hauser abgewandt, als ihm noch etwas einfiel. »Sagen Sie, gibt es auf Stolzenfels unterirdische Kammern, Gänge, Tunnel oder dergleichen?«

»Soweit ich weiß, führte früher unter den alten Fundamenten ein Geheimgang zum Fluss hinunter. Er soll über eine Falltür im Keller erreichbar gewesen sein. Wir haben diesen ominösen Gang nie gefunden, allerdings auch nie ernsthaft danach gesucht. Wozu auch? Genau wie jeder Quadratzentimeter im Schloss werden auch die Kellerräume vom Lifescanner überwacht.«

»Danke, Herr Hauser, das ist vorläufig alles.« Er verabschiedete sich und rief nach einem Kollegen von der Spurensicherung. Eine Minute später erschien ein junger Mann im Treppenhaus, den er vorher noch nie gesehen hatte. Er machte einen sympathischen Eindruck. Offensichtlich ein Neuer in Kallenbachs Truppe.

»Hat sich schon jemand den Keller angesehen?«

»Ja, ich.«

»Darf ich Ihren Namen erfahren?«

Der junge Mann kam näher und streckte seine Hand zur Begrüßung aus. »Jasper Neideck, Kommissar und frisch im Team.«

»Soso, Kommissar Neideck, frisch im Team. Was können Sie mir zu der Falltür sagen?«

»Da gibt es keine Falltür.«

»Gibt es keine oder haben Sie keine gefunden?« Brandt sah den jungen Mann, der jetzt leicht verunsichert wirkte, freundlich an. »Wollen wir noch einmal nachschauen?«

»Ja gern, wenn Sie meinen, Herr Hauptkommissar.«

Sie stiegen über eine schmale Stiege hinab in die alten Gewölbe. Dort nahmen sie sich ein Gelass nach dem anderen vor, konnten aber nichts Ungewöhnliches entdecken. In einem der Räume fiel Brandt auf, dass der Fußboden mit Holzdielen ausgelegt war. Das passte nicht in einen hunderte Jahre alten Keller. Er begann, mit einer Eisenstange den Fußboden systematisch abzuklopfen. In einer Ecke klang es dumpf. »Bitte entfernen Sie hier die Dielen.«

»Sie meinen, ich darf das?«

»Nun, wo es der Wahrheitsfindung dient, dürfen Sie das. Abgesehen davon, wen sollte es noch stören?«

Neideck hebelte mit der Eisenstange drei der Dielen aus dem Fußboden und legte sie beiseite. Brandt hatte richtig gelegen. Eine alte Falltür kam zum Vorschein. Er ergriff den Eisenring und riss die Klappe nach oben.

»Zugeschüttet!«, rief Neideck.

»Ja, zugeschüttet. Fehlanzeige.«

Die Causa Avaran sorgte für die erwartete Aufregung. Wie von Brandt vorausgeahnt, waren eigens zwei Beamte des Staatsschutzes aus Berlin angereist. Der Geheimdienst spielte als autarke Organisation eine Sonderrolle im politischen Gefüge Deutschlands. Die Frau an seiner Spitze, Alina von Stoltze, unterstand direkt dem Kanzleramt. Somit waren die Männer in Schwarz nicht nur die Task Force des Regierungschefs zur »Erledigung besonderer Aufgaben«, sondern auch seine persönliche Leibwache, ebenso wie sein konspirativer Flüsterdienst. Landläufig galten sie als die geheimnisumwitterten Gralshüter des politischen Status Quo. In ihren Methoden waren sie wenig zimperlich. Von Stauffen hatte einmal, auf einen berühmten englischen Filmspion anspielend, gesagt, sie hätten die »Lizenz zum Töten«. Brandt wusste, die beiden Sonnenbebrillten würden seine Arbeit behindern, sobald er etwas herausfände, was der Regierung unliebsame Erklärungen abnötigen oder ihren Gesinnungsdogmen zuwiderlaufen könnte.

Seit heute Nacht hatte er nicht aufgehört zu grübeln, auf welchem Weg der Täter in das Schloss gekommen war. Dazu drängte sich ihm immer heftiger die Frage auf, wer denn eigentlich die nötige Chuzpe für eine solch unerhörte Tat besitzen konnte. Auch wenn sich das Trauma tief ins kollektive Gedächtnis eingegraben hatte, waren doch immerhin schon zehn Jahre seit dem großen Sterben vergangen. Die spontane Wut eines trauernden Familienvaters käme nach der langen Zeit als Motiv also eher nicht in Frage. Außerdem, so überlegte er, wer das getan hat, muss über technische Möglichkeiten verfügen, die wir nicht kennen, über ausreichende Geldmittel, über Beziehungen in die höchsten Kreise oder über alles zusammen. Dennoch, den Gedanken, den Mörder unter den Souveränen zu suchen, ließ er beizeiten wieder fallen. Das waren allesamt Krähen, die sich gegenseitig die Augen nicht aushackten. Sie hatten die Körner untereinander aufgeteilt, mit unterschiedlichen Anteilen zwar, aber jeder konnte auf seine Weise zufrieden sein. Und auch die Idee, dass der Täter den verarmten Schichten entstammte, verbannte er bald wieder aus seinen Überlegungen. Einem Vertreter dieser lethargischen, grauen Masse war ein derartiger Kraftakt einfach nicht zuzutrauen.

Vermutlich waren an der Ausführung dieser Tat mehrere Personen beteiligt. Denn hier war in jeder Hinsicht ein Aufwand betrieben worden, den ein Einzelner kaum hätte leisten können. Waren der oder die Täter vielleicht von der Konkurrenz beauftragte Killer? Auch hatte man schon von asiatischen Kämpfern mit unfassbaren Talenten gehört, Ninja, die wie Schatten angeflogen kamen, um dann in Sekundenschnelle mit einem Taschenmesser ein ganzes Regiment niederzumetzeln. Blödsinn, dachte er grinsend. Oder war es der Einstand einer bislang unbekannten extremistischen Vereinigung? Auch unwahrscheinlich. Zu dicht hatte der Geheimdienst seine Netze gewebt, als dass sich eine Terrorzelle unbemerkt hätte organisieren können. Oder war es am Ende gar der Geheimdienst selbst? Man sagte über Avaran, Kanzler und Regierung hätten ihm aus der Hand gefressen. War er über seine eigenen Allüren gestolpert?

»Vierzehn Uhr im Konferenzraum, Lagebesprechung!«, platzte Gernot von Stauffen in Brandts Überlegungen.

»Die Schwarzen sind auch dabei?«

»Die insbesondere. Der Kanzler möchte persönlich über die Ermittlungen informiert werden. Er ließ verlauten, dass ihn mit Rikard Avaran etwas ganz besonderes verbunden habe.«

»Das glaube ich aufs Wort.«

Von Stauffen hatte sich schon wieder zum Gehen umgewandt, als Brandt noch etwas einfiel. »Wir haben da einen Neuen, einen Kommissar Neideck. Er ist Kallenbach zugeteilt. Ein talentierter Bursche, wie ich meine, aber was wirkliche Polizeiarbeit angeht ... Ich finde, ein paar praktische Erfahrungen könnten seinen Ermittlerhorizont erweitern helfen. Ich hätte ihn gerne dabei.«

»Ihre Entscheidung. Meinen Segen sollen Sie haben«, antwortete der Staatsanwalt lakonisch.

Die Besprechung begann pünktlich. Neben von Stauffen und Brandt, nebst einem über die unerwartete Berufung überraschten Polizeinovizen Neideck, waren auch Uhland, Kallenbach sowie die Agenten Schmidt und Schmidt - die vom Geheimdienst hießen alle Schmidt – anwesend. Außerdem hatte man die Fallanalytikerin und Kriminalpsychologin Thea Voss hinzugebeten. Früher hatte sie für die Kripo Koblenz Täterprofile erstellt, heute arbeitete sie hauptsächlich in beratender Funktion. Ihre Gabe, das »Wesen des Bösen« analytisch zu durchdringen, hatte die Aufklärungsquote im Rhein-Mosel-Dreieck kontinuierlich und zu höchster Zufriedenheit der Staatsanwaltschaft nach oben getrieben.

Voss war eine auffallend attraktive Frau, wohl irgendwo zwischen ihrer vierten und fünften Lebensdekade. Brandt hatte sie schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen. Sie sieht verdammt gut aus, entsann er sich augenblicklich. Nordischer Typ, aufgeweckte, stahlblaue Augen und eine außergewöhnlich gut gelungene Komposition aus Model und Rubensfrau. Ihr Exgatte hatte sich nach ein paar Ehejahren entschieden, für den Staatsschutz zu arbeiten. In diesem Beruf erwartete man von ihm, und freilich auch von seiner Angetrauten, absolute Gefolgschaft. Sie aber war eine couragierte Frau, die kein Blatt vor den Mund zu nehmen bereit war und offen kritisierte, was sie für kritikwürdig hielt. Der Autorität zu hofieren war für sie nie eine Option. Auch nicht dem Mann an ihrer Seite zuliebe. Sie hatte ihm nicht nachgetrauert. Einer, der sich auf einen unredlichen Pakt einließ, hätte auf Dauer ohnehin nicht zu ihr gepasst. Einige Male schon hatte Brandt das Gefühl, ihr nicht ganz gleichgültig zu sein, aber wahrscheinlich, so argwöhnte er, war das nur eine seiner männlichen Eitelkeit geschuldete Einbildung.

Die Runde wurde durch Maximilian Ulfkötter komplettiert. Ulfkötter galt als einer der Altmeister des deutschen Journalismus und war bis heute ein ebenso kluger wie eloquenter Infragesteller der herrschenden Ordnung. Bis zuletzt hatte er sich gegen die Verstaatlichung der Presse gewehrt. Am Ende war ihm nichts anderes übriggeblieben, als sich dem Druck der Informationsbehörde zu beugen und, wollte er weiter seinem Beruf nachgehen, für das Regierungsblatt WAHRHEIT zu schreiben. Mit erheblichen Bauchschmerzen hatte er das Angebot akzeptiert, die Redaktion einiger Lokalausgaben im Rheinland zu übernehmen. Weil sich dort aber kein Raum für investigativen, ehrlichen Journalismus fand, schrieb er nebenher für eine Untergrundzeitung. Trotz aller Drohungen und Repressalien seitens der Behörden war er bis heute ein unermüdlicher Verfechter des aufrechten Wortes geblieben. Er war sich bewusst, dass der Geheimdienst ihn beobachtete, und manchmal wunderte er sich, dass man ihn nicht längst aus dem Verkehr gezogen hatte. Er erklärte es sich als strategischen Schachzug der Behörden, ihm in der sonst reglementierten Presselandschaft so etwas wie die Rolle eines intellektuellen Ventils zuzugestehen. Zehn Jahre zuvor hatte er im EuroPharm-Skandal recherchiert und dabei das, wie er selber behauptete, größte Verbrechen aller Zeiten aufgedeckt. Dass man heute ausgerechnet ihn, den unbequemen Journalisten, zu einer Einsatzbesprechung der Polizei zitiert hatte, empfand nicht nur er als merkwürdig. Wahrscheinlich, so mutmaßte er, wollte der Staatsschutz ihn zu seinen damaligen Recherchen befragen, oder er sollte instruiert werden, wie der Tod Avarans in der Presse darzustellen sei.

»Ich denke, wir können beginnen«, eröffnete von Stauffen die ungewöhnlich zusammengesetzte Runde. »Zuerst möchte ich unsere Gäste begrüßen. Herr Schmidt und ... äh ... Herr Schmidt arbeiten für den Staatsschutz. Sie werden uns bei den Ermittlungen unterstützen.«

Unterstützen oder auf die Finger sehen, fragte sich Brandt. Freilich war er sich darüber im Klaren, dass man sich gegenüber diesen Zeitgenossen besser in Zurückhaltung übte, eine kleine Spitze konnte er sich dennoch nicht verkneifen. »Sagen Sie, tragen Sie zufällig den gleichen Namen oder sind Sie miteinander verwandt?« Vielleicht war ihm dieser Gedanke auch spontan gekommen, weil sich die beiden tatsächlich zu ähneln schienen. Oder lag das an ihrer uniformen Kleidung?

»Darf ich Ihnen Hauptkommissar Brandt vorstellen«, kam von Stauffen mit einem strafenden Seitenblick in dessen Richtung den Agenten zuvor. »Er ist der leitende Ermittler.«

»Auf eine gute Zusammenarbeit, Herr Brandt«, antwortete einer der Staatsschützer unterkühlt. Sein prüfender Blick wanderte über die Anwesenden. Bei dem jungen Mann mit dem Sommersprossengesicht blieb er hängen. Schon beim Hereinkommen war Neideck aufgefallen, wie dieser Schmidt ihn angestarrt hatte. Während er vorhin noch Erschrockenheit in dessen Gesicht zu erkennen glaubte, spiegelte sich jetzt eine seltsame Besorgnis darin wider. Aus dem Augenwinkel heraus beobachtet Neideck ihn. Kennen wir uns, fragte er sich. Dann sah er ihm offen ins Gesicht und war einen kurzen Augenblick lang verwirrt. Er durchkramte alle Schubläden, in denen er die Erlebnisse früherer Tage verstaut hatte. Bis er eine alte, eingestaubte Kindheitserinnerung gefunden zu haben glaubte, die aber, wie hinter einer Schattenwand, zu einem konturlosen Flimmern verschwamm. Wer bist du nur, fragte er sich erneut, aber sein Gedächtnis blieb ihm die Antwort schuldig. Eine Verwechslung, sagte er sich schließlich. Nur eine Verwechslung.

Während Neideck noch seiner nebulösen Gedankenreise nachhing, ergriff von Stauffen wieder das Wort. »Herr Kallenbach, bitte fassen Sie für uns den Stand der kriminaltechnischen Ermittlungen zusammen.«

Der Mann vom Erkennungsdienst erhob sich von seinem Stuhl und stützte sich mit den Fäusten auf den Tisch. »Es gibt mehr Fragen als Antworten. Deshalb lassen Sie mich direkt zum springenden Punkt kommen: Um null Uhr haben die Fahnder ein irreguläres Signal aus Avarans Schlafraum empfangen. Mit irregulär meine ich, es wurde nicht identifiziert. Auch war es signifikant schwächer als üblich. Der mutmaßliche Täter hat sich, wie immer er es angestellt hat, seiner Identitätsfeststellung entzogen.«

Schmidt und Schmidt blickten sich an, ohne eine Miene zu verziehen.

»Der im Schloss installierte Lifescanner«, fuhr Kallenbach fort, »liefert ebenfalls unklare Ergebnisse. Seine Aufzeichnungen decken sich mit den Daten der Fahnder, aber es gibt keine Hinweise darauf, wie der Täter in das Gebäude gelangt ist. Schlussendlich ist das Anwesen mit einem Energiefeld umgeben, das jedes Eindringen anzeigen soll. Auch das hat er unbemerkt passiert. Drei unabhängig voneinander arbeitende Systeme hat er überlistet, ebenso wie die Wachmannschaft. Er hat keinen Fingerabdruck hinterlassen, keine DNA, keine Spur, kein Tatwerkzeug. Nichts. Es scheint, als hätte er nicht einmal geatmet.«

»Um die Fahnder kümmern wir uns«, tönte einer der Agenten. »Ansonsten würde ich sagen, Herr Kallenbach, erledigen Sie ihre Hausaufgaben.«

Der warf einen gereizten Blick zurück. »Gut, dass wir darüber gesprochen haben, Herr Schmidt. Für sachdienliche Hinweise bin ich immer offen.«

»Höre ich da einen sarkastischen Unterton?«, entgegnete Schmidt in einem Akzent, der Widerspruch offensichtlich nicht gewohnt war.

»Erklären Sie mir nicht meine Arbeit. Sie machen Ihre, ich mache meine«, antwortete Kallenbach, der nicht aufgelegt war, sich vor der Staatsmacht zu ducken.

Von Stauffen, der die Vibrationen wahrnahm, fühlte sich bereits zum zweiten Mal zum Eingreifen veranlasst. »Machen wir weiter«, unterbrach er die Situation, bevor sie eskalierte. »Dr. Uhland, was hat die Autopsie ergeben?«

Uhland, der sich im Stillen noch über die kleine Szene amüsierte, blickte auf. »Avaran wurde eine Mixtur aus den Insektiziden Chlordan und Aldrin sowie dem Fungizid Hexachlorbenzol in die Halsschlagader injiziert. In der verabreichten Dosis war das Gebräu absolut tödlich. Er starb innerhalb einer, höchstens zwei Minuten. Es handelt sich um Gifte, die in der Landwirtschaft eingesetzt werden und wegen ihrer krebserregenden Wirkung stark umstritten sind. Ich erwähne das deshalb, weil delikaterweise alle drei Substanzen in dem Konzern hergestellt werden, dem das Opfer bis gestern vorstand.«

»Warum wird so ein Zeug nicht verboten?«, rief Brandt aufgebracht.

»Dazu kann ich etwas sagen«, mischte sich Ulfkötter ein. Er setzte seine auffällig gerahmte Brille, die er vorhin auf den Tisch vor sich gelegt hatte, auf die Nasenspitze und schaute unter seinen buschigen Brauen hervor. Dann nahm er sie wieder ab und biss auf einen der Bügel. »Dieses Teufelszeug, wie Sie es völlig zu Recht nennen, stand viele Jahre lang auf der dirty dozen list. Das ist die Schwarze Liste der weltweit geächteten Giftstoffe. EuroPharm gelang es mittels einer Reihe von Gutachten, dass diese und andere verbotene Mittel wieder zugelassen wurden. Ich muss nicht erwähnen, dass man diese Gutachten selber in Auftrag gab und dass sie dann auch die gewünschten Ergebnisse lieferten.«

»Warum tun die so etwas?«, fragte Brandt unwirsch.

»Profit!«, wusste Ulfkötter, der jetzt in Fahrt kam. »Zum einen ist die Produktion verträglicher Pflanzenschutzmittel teuer, zum anderen spekulierte man, so den Verkauf seiner sündteuren Therapiemittel an Krebspatienten zu steigern.«

»Herr Ulfkötter«, unterbrach einer der Herren Schmidt den Journalisten schroff, »wir haben Sie nicht eingeladen, damit Sie uns mit Ihren abstrusen Verschwörungstheorien plagen. Derlei Behauptungen konnten und können Sie nicht belegen.«

»Meine Herren, das hat doch nichts mit unserem Fall zu tun«, versuchte von Stauffen, der ein verbales Gefecht mit den Staatsschützern zu verhindern trachtete, die Gemüter zu beruhigen. »Kehren wir doch bitte zu den Fakten zurück.«

Ulfkötter aber überhörte von Stauffens besorgten Einwurf und redete sich weiter in Rage. Seine Finger krallten sich um die Tischplatte. »Falsch! Das sollte ich nicht belegen. Und damit ich das auch ja nicht vergesse, brannte damals meine Agentur ab. Und mit ihr die Ergebnisse meiner Nachforschungen zu dieser und anderer EuroPharm-Sauereien.« Bei seinem letzten Satz war er laut geworden. Sein Gesicht war rot angelaufen und er atmete schwer, fühlte er sich doch jäh wieder an die Nacht erinnert, in der ein vermummtes Rollkommando sein Allerheiligstes in Asche gelegt hatte. Als bekannt wurde, dass er in Sachen EuroPharm recherchierte, hatte man ihn bespitzelt, dann verhaftet, verhört und sogar in Ordnungshaft genommen. Die Zerstörung seines Büros, davon war der Journalist überzeugt, hatte der Staatsschutz zu verantworten, auch wenn er dafür nie Beweise fand. Er stand auf und sah den Agenten drohend an. Dann aber setzte er sich wortlos wieder auf seinen Stuhl. Schmidt zog es offenbar vor, sich nicht weiter zu äußern und sah teilnahmslos auf den erschöpft wirkenden Zeitungsmann.

»So, jetzt atmen wir alle wieder durch die Nase und dann mache ich mal weiter«, meldete sich Uhland nach einem Moment angespannter Stille wieder zurück. »Auf Avarans Kopfkissen haben wir eine Medikamentenkapsel gefunden. Die Analyse ergab, dass es sich um das Grippemittel Eutamidin handelt. Interessanterweise ist es ein Exemplar aus einer elf Jahre alten Charge, also jener Produktion, die damals wirkungslos geblieben war. Und es wird noch spannender: In dem injizierten Giftcocktail haben wir den H5N1 Virus nachgewiesen. Allerdings in seiner nicht mutierten Form.«

Augenblicklich wurde es still und eine seltsame Verunsicherung machte sich breit. Bloß das nicht, nicht noch einmal, schien jeder zu denken. Selbst Schmidt und Schmidt wirkten plötzlich nervös.

»Was ich mit ›nicht mutiert‹ sagen will«, fuhr Uhland unaufgeregt fort, »in dieser Form ist der Virus ungefährlich. Zudem war er lyophilisiert. Das ist eine spezielle Form der Trocknung, die zum Verlust seiner viralen Aktivität führt. Damit ist er konserviert und unfähig, sich zu vermehren. Ich möchte behaupten, dieses Gebräu wurde in einem Labor und von einem Fachmann zusammengemischt.«

Ganz langsam wich der Schrecken wieder aus den Gesichtern. Was ihm folgte, waren fragende Blicke.

»Wir können also davon ausgehen, dass da jemand etwas von der Materie verstanden hat. Ein Chemiker möglicherweise«, schlussfolgerte Brandt. »Allerdings frage ich mich, was dieser Auftritt soll.«

»Diese Mixtur, das Eutamidin, das sind symbolische Hinweise auf EuroPharm«, meldete sich Voss zu Wort. »Hier wurde eine aufwendig vorbereitete Tat zelebriert. Jemand bestrafte Avaran für das, was er zu verantworten hat. Vielleicht ist es späte Rache, vielleicht mehr.«

»Rache, Symbole«, fiel ihr der Geheimagent, der bisher geschwiegen hatte, ins Wort. »Bevor Sie sich da in etwas verrennen, Frau Voss, meine Herren, möchte ich eines klarstellen: Avaran trägt keine Schuld an dem, was damals passiert ist. Der Oberste Gerichtshof hat das ausdrücklich bestätigt. Ich rate Ihnen dringend, Ihre Ermittlungen in die richtige Richtung zu lenken.«

Brandt war für seine Verhältnisse bisher zurückhaltend geblieben, jetzt aber wurde er deutlich. »Herr Schmidt und Herr Schmidt, so werden wir nicht weiterkommen. Ein mutierter H5N1 war der Auslöser des größten Sterbens in der Geschichte der Menschheit und er stammte aus dem Hause EuroPharm. Das werden Sie nicht ernsthaft bestreiten wollen. Wir haben zwei Möglichkeiten: Entweder wir lenken, wie Sie es eben nannten, unsere Ermittlungen in die richtige Richtung, oder wir finden heraus, was wirklich passiert ist. Aber seien Sie sich eines bewusst: Stolzenfels ist eine uneinnehmbare Festung. Dennoch ist der Täter dort nach Belieben ein- und ausspaziert. Nicht modernste Elektronik, geschweige denn die Wachmannschaft, konnte ihn davon abhalten. Wer dort hineinkommt, der kommt überall hinein. Woher wollen sie wissen, dass er nicht vorhat, noch weitere Morde zu begehen? Wie es im Moment aussieht, ist vor ihm niemand sicher. Und wenn ich niemand sage, meine ich: Niemand!« Beim letzten »Niemand« hatte er mit der Faust auf den Tisch geschlagen. Dann schaute er in die Runde und wurde sowohl verlegener als auch mitgerissener Blicke gewahr. Er nickte leicht in alle Richtungen und war augenblicklich wieder die Ruhe selbst. Schmidt wollte etwas erwidern, aber Voss ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Ich bin sicher, dass das Motiv in der Vergangenheit zu suchen ist. Sie sollten aufhören, sich und uns Theater vorzuspielen. Max Ulfkötters alte Recherchen kursieren bis heute im Netz. Stimmt es, was dort zu lesen ist? Sie kennen die Wahrheit. Sagen Sie uns, was vor zehn Jahren tatsächlich geschah. Um Avarans Tod aufzuklären, benötigen wir ein wirklichkeitsgetreues Bild von ihm und seinem Unternehmen.«

Die Agenten sahen sich überrascht an. Mit einer derartig vehementen, zugleich aber auch stichhaltigen Argumentation hatten sie offenbar nicht gerechnet. Erregt flüsterten sie miteinander. »Wir ziehen uns kurz zurück«, erklärte dann einer der beiden.

Brandt und Voss hatten Anerkennung für ihre offenen Worte geerntet. Nur von Stauffen war es nicht geheuer, wie die beiden eben die Staatsgewalt zurechtgewiesen hatten. Minuten vergingen in unbehagliche Stille, während sich die Staatsschützer vor der Tür berieten. Nach einer unendlich langen Viertelstunde kehrten sie zurück.

»Also schön, Frau Voss, Herr Brandt«, begann einer der Agenten. Er war leiser geworden und klang viel zurückhaltender als vorhin noch. Eine seltsame Betroffenheit lag in seiner Stimme und in seinen Zügen war sogar so etwas wie Aufrichtigkeit zu erkennen. »Sie haben recht. Wir können nicht wissen, was diesem Verbrecher im Kopf herum geht. Ab jetzt sind wir alle potentielle Opfer.«

Von Stauffen lächelte verlegen, während Schmidt sich dem Pressemann zuwandte. Sein Ton wurde wieder schärfer. »Das geht an Ihre Adresse, Herr Ulfkötter: Rikard Avaran ist an einem Herzinfarkt gestorben. Bei seiner labilen Gesundheit war das nur eine Frage der Zeit. Er hat sich einfach zu viel zugemutet. So wird es morgen in der WAHRHEIT stehen. Und falls von dem hier und jetzt Gesprochenen etwas in einem dieser Sudelblätter zu lesen sein sollte, wissen wir, an wen wir uns zu wenden haben. Glauben Sie mir, es wäre ihre letzte Ausgabe. Und noch etwas: Tun Sie sich selbst den Gefallen und verzichten Sie auf Ihre privaten Schnüffeleien. Die Ermittlungen sind Sache der zuständigen Behörden.«

Dem Journalisten war anzusehen, dass es in ihm brodelte und wie er sich mühte, eine verbale Entladung zu verhindern. Schmidts Augen wanderten indes von Ulfkötter wieder zu den anderen. »Ich gehe davon aus, dass alles, was Sie jetzt hören, hier im Raum bleibt. Es soll Ihren Ermittlungen dienen und ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Betrachten Sie das als verbindliche Anordnung.«

Schulmeisterlich blickte Schmidt über die Köpfe hinweg. Weil offenbar niemand etwas einzuwenden hatte, schlug er wieder einen sachlicheren, gedämpften Ton an. »Ich bin diplomierter Pharmazeut. Wenn ich Ihnen jetzt etwas über die sogenannte Große Grippe erzähle, weiß ich also, wovon ich rede. Wie Sie wissen, waren, bevor die Industrie Deutschland den Rücken zu kehren begann, in jedem größerem Unternehmen Mitarbeiter des Staatsschutzes tätig. Ihre Aufgabe war es, den Firmen beratend zur Seite zu stehen. Mein Auftrag war es, Methoden und Prozesse bei EuroPharm unterstützend zu begleiten. Ich durfte erfahren, was diesen Konzern groß gemacht hat: Neben dem Fleiß seiner Belegschaft waren es in erster Linie die strategischen Fähigkeiten seiner Führungskräfte ...«

Ulfkötter, der bereits bei »beratend zur Seite zu stehen« heftig zusammengezuckt war, riss es vom Stuhl. »... wozu auch diverse Machenschaften, Intrigen und, Einflussnahmen gehören!«

Von Stauffen hielt sich die Hand vor die Augen. Schmidt stockte kurz, fuhr dann aber scheinbar völlig gelassen fort. »Ein ausführlicher Bericht zu den Umständen, die letztlich zur Großen Grippe führten, liegt im Archiv des Ministeriums für Gesundheit. Da es sich um ein vertrauliches Dokument handelt, werde ich Ihnen das Wichtigste daraus kurz zusammenfassen. Herr Ulfkötter, selbstverständlich steht es Ihnen frei, mich zu ergänzen. Zum besseren Verständnis werde ich zuerst versuchen, die Hintergründe zu skizzieren.« Schmidt hatte die Stimme gehoben und hielt einen Moment inne. Dabei sah er seinen Partner an, bis dieser, ohne aufzublicken, kaum merklich nickte. »Um der Anforderung der Politik nachzukommen, wachsende Rendite zu generieren, begannen nach der Jahrtausendwende viele Unternehmen ...« Er zögerte kurz. »... lassen Sie es mich so ausdrücken: kreative Gedanken zu entwickeln. Ein Vorreiter hierbei war der Schweizer Pharmakonzern Rosch. Dort hatte man die ...« Er zögerte erneut und suchte nach der passenden Formulierung, die das charakteristische Streben einer Kapitalgesellschaft beschreibt, die dabei angewandten Methoden aber per se nicht infrage stellt. »... die wegweisende Idee, den Umsatz von Medikamenten durch eine geschickte Marketingstrategie anzukurbeln.«

»Gestatten Sie mir zwei kleine, aber nicht unwesentliche Präzisierungen«, warf Ulfkötter, der seinen Arm gehoben hatte, ein. »Die Idee, eine gefahrlose Krankheit zu einer gefährlichen Epidemie aufzubauschen, um dann ein Medikament, das sonst im Speicher verrottet wäre, als einzig wirksames Gegenmittel anzupreisen, war sehr wohl für die Pharmaindustrie wegweisend, für die Menschen aber bedeutete es unnütze Kosten und gesundheitliche Risiken. Und zweitens: Die so gern proklamierte Legende, nur ein stetiges Wirtschaftswachstum könne den Lebensstandard der Bürger konstant halten, war weniger politisch motiviert als vielmehr eine gern gebrauchte Floskel der Konzerne selbst. Die Politik hat nur die Forderungen der Wirtschaft verkündet. Der Verkauf von Medikamenten brachte Millionen, Rosch aber strebte nach Milliarden.«

»Aber Herr Ulfkötter«, schaltete sich von Stauffen ein und sah dabei entschuldigend in Richtung der beiden Staatsschützer, »vom Wachstum haben wir doch alle etwas.«

»Ach so? Helfen Sie mir«, entgegnete der Journalist spöttisch. »Wie lautete noch mal die Frage, auf die das Wachstum die Antwort liefern sollte? Ich empfehle Ihnen, eine bessere Zeitung zu lesen!«

Ein zustimmendes Gemurmel erhob sich, in dem von Stauffens verständnisloses »Also bitte, Herr ...« von niemandem mehr gehört wurde. Schmidt fuhr mit einem energischen »Ich will offen zu Ihnen sprechen« dazwischen. Augenblicklich wurde es wieder still. Er zögerte einen Moment und dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck zu einer fast leidvollen Miene. »Ich bin persönlich daran interessiert, dass der Tod von Rikard Avaran so schnell wie möglich aufgeklärt wird.«

Schmidt wirkte kurz verunsichert, fand aber seine Souveränität schnell wieder. »Aber kehren wir zur Vorgeschichte zurück. Ende des zwanzigsten Jahrhunderts ...« Unvermittelt brach er seinen Satz ab und sah den Anwesenden in die Augen. »Irgendwie habe ich das Gefühl, es ist egal, was ich Ihnen jetzt erzähle, Sie werden es anzweifeln. Vielleicht möchte unser Chefenthüller fortfahren. Herrn Ulfkötter werden Sie wohl Glauben schenken.«

Schmidt sah den Journalisten auffordernd an. Der blickte argwöhnisch zu dem Agenten hinüber und nickte dann langsam. »Wie Sie meinen.« Ulfkötter legte seine Brille wieder vor sich auf den Tisch, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich langsam zurück. »Ende des zwanzigsten Jahrhunderts also«, nahm er Schmidts angefangenen Satz auf, »entwickelte der Biochemiker Buschberger das Grippemittel Flutamin, dessen Wirksamkeit immer umstritten blieb. Der Antrag auf Arzneimittelzulassung scheiterte, weil man seinen Nutzen nicht belegen konnte. Das Präparat drohte, ein Flop zu werden. Erst durch massive Einflussnahme auf wichtige Entscheidungsträger der Weltgesundheitsorganisation wurde es, trotz nicht nachgewiesener Wirksamkeit, dafür aber mit nachweisbaren Nebenwirkungen, in die Pandemiepläne der WHO aufgenommen. Als man dann in den Medien von einem angeblich mutierten H5N1-Virus, der wegen seiner Harmlosigkeit bis dahin kaum wahrgenommen wurde, berichtete und passend dazu einige Grippetote aus Fernost präsentierte, war erreicht, was man erreichet werden sollte: Besorgte Menschen kauften sich scharenweise das Medikament. Rosch steigerte seinen Umsatz durch den Verkauf von Flutamin innerhalb eines Jahres um zwei Milliarden. Die Lobbyisten in der WHO drängten die Politik, sich mit dem Wirkstoff ausreichend zu bevorraten. Durch willfährige Einkäufe der Regierungen wurde das Präparat zum Verkaufsschlager. Von Roschs Erfolg angestachelt, versuchten gleich mehrere Pharmakonzerne, unter anderen die ebenfalls in der Schweiz beheimatete Neuwallis AG, das gleiche Vorgehen noch einmal: Drei Jahre nach dem Erfolg von Flutamin wurde abermals eine, im Normalfall für den Menschen harmlose, durch den Influenza-A-Virus H1N1 hervorgerufene Krankheit, für gefährlich erklärt. Vorhandene Impfstoffe wurden als unwirksam hingestellt und man begann mit der Produktion eines speziellen Präparates. Wieder sorgten die Medien für Verunsicherung und wieder funktionierte das Geschäft mit der Angst. Die Politik gehorchte auch dieses Mal. Die Lobby setzte sich erneut durch und man folgte praktisch ungeprüft den Empfehlungen der WHO, sich mit dem Impfstoff Pandein einzudecken. Allein das deutsche Gesundheitsministerium bestellte daraufhin fünfzig Millionen Dosen. Alle Wirksamkeitsstudien wurden von der Pharmaindustrie finanziert und zurechtgetrimmt, eine unabhängige Studie wurde nie in Auftrag gegeben. Wohl die letzte Grippelüge noch im Hinterkopf und das Flutamin im Arzneischrank entstand in der Bevölkerung ein zunehmendes Unbehagen gegenüber den Behauptungen der Pharmastrategen. Weniger als zehn Prozent ließen sich impfen. Wegen ihrer begrenzten Haltbarkeit mussten übrig gebliebene Impfstoffe im dreistelligen Millionenbereich vernichtet werden. Gelder, die ohne Gegenleistung aus öffentlichen Kassen direkt in private Portemonnaies geflossen waren.«

Ulfkötter blickte triumphierend auf. Von Stauffen schaute nichts Gutes ahnend zu Boden, während die Augen der anderen gespannt auf Schmidt gerichtet waren. Der blieb einen Augenblick lang stumm. Dann schob er die Unterlippe nach vorn und nickte bedächtig. »Nun«, antwortete er und musste sich dabei räuspern, »ich hätte es an der ein oder anderen Stelle anders formuliert, aber grundsätzlich ist das alles richtig.«

Von Stauffen glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Was war das, der Staatsschutz auf einem Canossagang? Ungläubige Blicke schwirrten durch den Raum. Man sah sich an und hob die Schultern. Ulfkötter aber war alles andere als überrascht. »Also bitte! Das ist doch nichts Neues. Genauso hatte ich es damals in meinen Artikeln geschrieben und so ist es seitdem auf verschiedenen Webseiten nachzulesen.«

»Sie haben recht, wir haben unsere Erkenntnisse mit den Ihren verglichen und in den meisten Punkten Übereinstimmung festgestellt«, bemerkte Schmidt wie selbstverständlich.

»Was meinen Sie mit ›meinen Erkenntnissen verglichen‹? Alle meine Unterlagen sind verbrannt.«

»Das ist nur teilweise richtig. Vor der Zerstörung Ihres Büros haben wir alle für uns wichtigen Dokumente gesichert.«

»Also doch ... Sie ...« Ulfkötter fuhr erzürnt hoch, um einen Augenblick später wie ein altersschwacher Greis und mit ausdruckslosem Blick auf seinen Stuhl zurückzusinken.

»Sie galten als Abweichler und der Staatsschutz hat seine Arbeit getan«, konstatierte Schmidt kühl.

Der Journalist starrte in das Wasserglas vor sich. »Bin ich deshalb hier?«, stöhnte er. »Eine Machtdemonstration? Sie wollen sich meinen Gehorsam sichern?«

Die unerwartete Offenherzigkeit eines Angehörigen der für seine Verschlagenheit berüchtigten Geheimpolizei hatte Erstaunen ausgelöst. Auch Brandt sann nach einer Antwort. Das klang nicht nach Unterstützung in einem heiklen Fall, das klang nach Beichte. Nein, noch anders, das klang nach Verrat. Aber was konnte diese Agenten dazu gebracht haben, die Autorität ihres Arbeitgebers zu untergraben? Verfolgten die beiden Schmidts eigene Ziele? Er wartete ab, ob Ulfkötter noch etwas sagen wollte. Der aber sah noch immer seltsam gleichgültig vor sich hin und schwieg. »Herr Schmidt, ich will nicht glauben, dass sich der Geheimdienst über Nacht zum aufrechten Partner der Öffentlichkeit gewandelt hat. Ich gehe wohl auch nicht fehl in der Annahme, dass Ihr Bekenntnis weder mit Ihren Vorgesetzten abgestimmt ist noch dass es eine neue offizielle Version zu den tragischen Ereignissen gibt. Ihr Eingeständnis kann also nur ein Teil der Wahrheit sein. Was ist der wirkliche Grund für Ihren unverblümten Freimut?«

Der Geheimagent schien verlegen. »Sie haben Recht«, gestand er zögerlich. »Ich habe es bereits angedeutet: Avaran stand mir, sagen wir, nahe. Das muss Ihnen genügen.«

»Ihr persönliches Interesse ist so groß, dass Sie sich erpressbar machen?«, fragte Voss ungläubig.

»In den Augen der Bevölkerung mag er ein Monster sein. Man unterstellt ihm allein die Schuld an der Ausbreitung des Virus. Ich aber sage, er wird zu Unrecht verteufelt. Man macht ihn zum Sündenbock für ...« Er brach den Satz ab. Für einen kurzen Moment nahm seine Miene beinahe weinerliche Züge an. »Er liebte das Geld, aber ich ...« Schmidt stockte erneut. Nur einen Augenblick später fand er in seinen gewohnten Tonfall zurück und sein Blick verwandelte sich wieder zu Eis. »Lassen wir das. Und was meine Erpressbarkeit betrifft, Frau Voss, halte ich das Risiko für überschaubar. Unsere Warnung war ernst gemeint. Aber ich wiederhole sie gerne noch einmal: Wenn ich, egal von welcher Seite, höre, der Staatsschutz hätte aus dem Nähkästchen geplaudert, weiß ich, wo nach der Quelle zu suchen ist.« Wieder sah er dabei Ulfkötter drohend an. Der aber hielt seinem Blick stand, und die Gelassenheit, die er dabei ausstrahlte, verdutzte Schmidt.

Von Stauffen sah sich abermals genötigt, beschwichtigend einzugreifen. »Das also war die Vorgeschichte. Aber wie kam es zur Katastrophe?«, fragte er und hoffte, damit die erhitzten Gemüter wieder auf Normaltemperatur zu bringen.

Schmidt hielt den Journalisten noch immer mit durchdringendem Blick fest. »Weil die gesamte Pharmabranche letzthin nicht mehr die erhofften Gewinne erzielte, gönnte man sich eine Phase der taktischen Neuorientierung. EuroPharm war danach der erste Konzern, bei dem die alte Geschäftstüchtigkeit zu neuem Leben erwachte. Man erinnerte sich an die zuvor schon mehrfach erfolgreiche Strategie, änderte sie aber dahingehend um, dass man ein vermeintlich marktreifes Heilmittel, das bisher noch hinter einer Panzerschranktür ruhte, als Ausgangspunkt für seine Planung hernahm. Es fehlte nur noch eine passende Krankheit. Ich komme später darauf zu sprechen.«

Ulfkötter schüttelte zynisch grinsend den Kopf, was Schmidt geflissentlich übersah. Ungerührt fuhr er fort. »Etwa ab dem Jahre 2010 experimentierten Forscher in einem Hochsicherheitslabor der Rotterdamer Erasmus-Universität mit dem H5N1-Virus. Sie wollten herausfinden, ob er tatsächlich das Potential hat, eine Pandemie auszulösen. Dieser Grippevirus kann für Menschen zwar gefährlich werden, ist aber normalerweise kaum ansteckend. Durch gezielte Mutationen wurde er derart verändert, dass er nun durch Tröpfcheninfektion übertragen werden konnte. Das bedeutete, ein banaler Schnupfen konnte bereits zum Tode führen. Ohne ein sofort verfügbares Gegenmittel wären Millionen Opfer die Folge. Die Erasmus-Universität, die von der holländischen Regierung keine Unterstützung mehr erhielt und deshalb in finanziellen Nöten schwebte, geriet in Avarans Visier. Eine großzügige Spende seines Konzerns rettete sie vor dem finanziellen Aus. Quasi aus Dankbarkeit verkaufte man dem Pharmariesen sein Virenlabor einschließlich aller Forschungsergebnisse. Der mutierte Rotterdamer H5N1 war praktisch eine tickende Bombe. Während es all die Jahre gelungen war, ihn vor etwaigen Terroristen zu schützen, wollte Avaran aus der Arbeit der holländischen Wissenschaftler Profit schlagen. Und zwar in einer Größenordnung, von denen kein Großindustrieller bisher zu träumen gewagt hatte. Hinter verschlossenen Türen gebar man die Idee, den Virus freizusetzen, um dann mit seinem Gegenmittel, das den Namen Eutamidin bekommen hatte, parat zu stehen. Man wäre weltweit als einziger imstande gewesen, ein Heilmittel binnen kurzer Zeit und in ausreichenden Mengen zu liefern. Avaran sah keine Gefahr. Normalerweise dauert es mehrere Monate, bis eine Krankheit sich ausbreitet. Genug Zeit für die Behörden, sich mit Eutamidin zu bevorraten und die Bevölkerung impfen zu lassen. Er brachte außerdem gesetzliche Zwangsimpfungen ins Spiel, und dank seiner Beziehungen bis in die inneren Zirkel der Politik hätte er die vermutlich auch durchgesetzt. Das versprach Gewinne in Billionenhöhe. Gleichzeitig würde man als Retter der Menschheit dastehen. Der Plan schien perfekt.

Mit Eutamidin war ein Breitband-Grippemittel entwickelt worden, das gegenüber den herkömmlichen Medikamenten eine wesentlich aggressivere Wirkung auf Viren besaß. Damit war es für Menschen mit erhöhter Grippeanfälligkeit, in erster Linie also für Kinder und Ältere, geeignet. Die Entwicklung des Medikaments hatte viele Millionen verschlungen. Jetzt sah man die Zeit gekommen, die Ernte einzufahren. Im Labor war seine Wirksamkeit bereits nachgewiesen. Als nächstes sollte eine erste Testreihe am lebenden Objekt folgen. Dafür hatten sich im ersten Schritt zwölf Studenten der Humboldt-Universität zur Verfügung gestellt. Man injizierte ihnen den mutierten H5N1, um ihn anschließend mit Eutamidin wieder zu bekämpfen. Aber es wirkte nicht wie erhofft.«

»Was genau ist schiefgelaufen?«, wollte Brandt wissen.

»Darüber wurde viel spekuliert. Nach Ansicht einiger Fachleute lag es an seiner eingeschränkten Wirkung auf die Zytokine, also unsere Zellwachstumsregulatoren. Zytokine haben unter anderem die Aufgabe, das Immunsystem über eine feindliche Invasion zu informieren. Dabei kann es zu einer Überreaktion des Körpers kommen, einer abnormen, sogar lebensgefährlichen Entgleisung unseres Abwehrnetzes. In der Regel sind Grippemedikamente Kombiimpfstoffe, bestehend aus einem antiviralen Mittel gegen den Erreger und einem Hemmer gegen eben diese Abnormität, den sogenannten Zytokinsturm, der unter Umständen verheerendsten Folge einer Grippe-Infektion. Der zytokinhemmende Effekt wurde bei Eutamidin deutlich abgedämpft, um für abwehrschwache Patienten eine bessere antivirale Wirkung zu erzielen. Für die Probanden, die allesamt jung und kräftig waren, offenbar zu deutlich. Ein älterer Mensch oder ein Kind hätten wahrscheinlich gute Überlebenschancen gehabt, für die Jugendlichen aber bedeutete es das Todesurteil. Sie waren von den Auswirkungen des Zytokinsturms ungleich schwerer betroffen. Ihre Immunreaktion verlief signifikant heftiger als erwartet, ihr Abwehrsystem lief Amok. Das Unglück nahm seinen Lauf. Tom Unterberger, einer der infizierten Studenten, war das erste Opfer der Holländischen Variante der Influenza A/H5N1, die später als die sogenannte Große Grippe in die Geschichte einging. Vier Tage, nachdem ihm der Virus beigebracht wurde, war er derart geschwächt, dass für ihn jede Rettung zu spät kam. Er verstarb noch in der gleichen Nacht. Auch den anderen konnte nicht mehr geholfen werden. Am neunten Tag nach der Infizierung war der letzte von ihnen gestorben. Panisch versuchte man noch, das Medikament zu verändern, aber es blieb keine Zeit mehr. Trotz sofortiger Isolierung fand der Virus seinen Weg nach draußen.

Den Rest kennen Sie. In wenigen Monaten verbreitete sich die Grippe, hauptsächlich unter jungen, gesunden Menschen rund um den Globus. Es benötigte ein weiteres Dreivierteljahr Entwicklungsarbeit, bis das Mittel den mutierten Virus wirksam bekämpfte und in ausreichender Menge produziert war. Inzwischen sollten weltweit fast zweihundertfünfzig Millionen Menschen sterben, dreißig Millionen allein in Deutschland.« Schmidt blickte auf. Seine Miene schien versteinert. »Man kann Avaran Geldgier unterstellen. Aber ich sage ganz klar: Es war ein Unfall.«

Was Schmidts Bekenntnis folgte, war betretenes Schweigen und erneut fragende Blicke. Nur Ulfkötter war hellwach. »Damit bestätigen Sie, dass Avaran eine Viertelmilliarde Menschen auf dem Gewissen hat. Mindestens fünfmal so viele Todesopfer, wie die Spanische Grippe seinerzeit forderte.«

Schmidt zeigte keine Regung. »Mehr habe ich nicht zu sagen.«

Der Journalist schüttelte unzufrieden den Kopf. »Nette Geschichte, Herr Schmidt. Aber ich habe damals etwas anderes herausgefunden. Nämlich dass der Virus nicht vorrangig mit der Absicht, dem Mammonismus zu frönen, freigesetzt wurde, sondern dass politisches Kalkül dahinter steckte. Eutamidin sollte nicht für alle Teile der Bevölkerung zugänglich sein. So wollte man auf die große Anzahl der von Armut Betroffenen und somit potentieller Unruhestifter regulierend einwirken. In der Tat waren nicht die Jungen und Kräftigen das Ziel, sondern die Notleidenden.«

Schmidt blieb ungerührt. »Ich kenne diese Behauptungen, aber mal ehrlich, diesen Unsinn glauben Sie doch selber nicht.«

»Sie wollen nicht wissen, was ich alles glaube«, entgegnete der Journalist noch, dann wurde es still. Sein Einwand hätte noch einmal Fragen aufwerfen müssen, im Eindruck von Schmidts unerwarteter Offenbarung aber blieb er unerwidert. Die Eigenmächtigkeit des Agenten, und das es sich um eine solche handelte, hatte er praktisch zugegeben, musste gute Gründe haben. Was verbindet ihn mit Avaran, fragte sich Brandt.

Von Stauffen erhob sich von seinem Platz. »Es wartet eine Menge Arbeit auf uns. Wenn es ansonsten nichts Wichtiges gibt, würde ich die Runde für heute auflösen.«

Uhland hatte noch einen offenen Punkt. »Avaran wurde auf Höhe des Sternums ein Buchstabe beigebracht. Genau gesagt, ein A. Allerdings ist mir unklar, womit. Es sieht aus, wie eine verunglückte Laserung.«

»Ein A?«, fragte von Stauffen. »Was kann das bedeuten?«

»Wer weiß? Avaran?«

»Welchen Sinn sollte es haben, dem Opfer seine Initiale einzubrennen?«, rätselte Kallenbach. »Womöglich ist er ein Jäger, der seine Beutestücke nummeriert. Der nächste hat dann ein B auf der Brust.«

»B wie Brandt?«, witzelte Uhland, wofür er sich umgehend einen strafenden Blick einfing. »Pardon! Scherz.«

»Der Täter hat sein Opfer signiert«, meldete sich Voss noch einmal zu Wort. »Vielleicht nennt er sich selber A.« Dann neigte sie den Kopf leicht zu Seite. »Wie ich es vorhin gesagt habe: Es ist eine Metapher. Die Giftmixtur stellt den Bezug zu EuroPharm her. Zugleich trägt sie eine Botschaft in sich. Der Virus soll auf Avarans Schuld hinweisen, genau wie das wirkungslose Grippemittel, das man neben ihm fand.«

Brandt schaute zu ihr herüber. »Aber warum erst jetzt, nach so langer Zeit?«

»Schwer zu sagen. Es spricht aber eher dafür, dass es dem Täter nicht um persönliche Motive ging.«

»Sondern?«

»Vielleicht hat er es stellvertretend für alle getan, die Angehörige zu betrauen hatten«.

»Ich weiß nicht, das klingt mir doch ziemlich diffus.«

»Ein verspäteter Michael Kohlhaas?«, fragte Kallenbach skeptisch.

»Ich hätte auch noch den Fliegenden Holländer anzubieten«, ergänzte Uhland spöttelnd, »oder den kopflosen Reiter.«

Ratlose Augenpaare blickten sich an.

Brandt stand auf. »Ich fasse mal zusammen: Dieser Kerl ist der erste Mensch, der nicht von den Fahndern erkannt wird. Er versteht etwas von Chemie oder Virologie, wahrscheinlich auch von Elektronik und Satellitentechnik. Damit nicht genug scheint er auch feinstoffliche Praktiken zu beherrschen, denn er kann sich unsichtbar machen oder durch Wände gehen. Oder beides. Er lässt sein Opfer einen metaphorisch aufgeladenen Tod sterben und signiert es mit einem Buchstaben, auf dessen Bedeutung wir uns keinen Reim machen können.« Der Kommissar sah in die Runde. »Habe ich etwas vergessen?«

Für Neideck war dieser Fall sein erster Gehversuch in praktischer Polizeiarbeit. Umso erfreuter war er, dass er für die Dauer der Ermittlungen vom Erkennungsdienst abgezogen und seinem neuen Förderer als Assistent zugeteilt worden war. Einen besseren Lehrmeister als diesen erfahrenen Polizisten konnte er sich nicht vorstellen. Zuerst sollte er die Aussagen des Wachpersonals protokollieren. Ein Routinejob, der getan werden muss, dachte er. Nicht spannend, aber notwendig.

Brandt steuerte den Dienstwagen zum Schloss hinauf. Er hatte nur einige Stunden auf der schmalen Liege in seinem Büro geschlafen und den Rest der Nacht über den Berichten der Spurensicherung und der Rechtsmedizin gebrütet. Jetzt wollte er sich den Schauplatz des Geschehens noch einmal in aller Ruhe anschauen. Vielleicht hatte er ja etwas übersehen.

»Wie alt sind Sie, Jasper?«

»Achtundzwanzig.«

»Und was hat Sie zur Polizei verschlagen?«

»Ein Kindheitstraum«, antwortete Neideck. »Wohl entstanden aus einem Kindheitstrauma. Ich war vierzehn, als meine Eltern ums Leben kamen. Die Polizei hat mir damals eine Geschichte von einem Unfall erzählt.«

»Das klingt, als würden Sie etwas anderes glauben.«

»Ich durfte sie nicht mehr sehen. Später habe ich erfahren, dass alles eine Lüge war. Von meinem Vater weiß ich nicht einmal, wo er begraben liegt. Vaters Schwester hat mich danach bei sich aufgenommen. Ein Täter wurde nie gefasst. In meiner Fantasie aber hatte er ein Gesicht. Lange Zeit habe ich davon geträumt, dass ich es bin, der ihm eines Tages die Handschellen anlegt.«

Brandt, der angesichts eigener Erfahrungen sehr gut nachvollziehen konnte, was in dem Jungen vorgegangen sein muss, sah ihn mitfühlend an. »Tut mir leid, das muss schlimm für Sie gewesen sein.«

»Am Anfang war ich völlig verstört. Ich habe mich versteckt, wollte niemanden mehr sehen. Tante Lauretta war immer für mich da, aber sie konnte mir nicht die Liebe geben, wie ich sie von meinen Eltern bekommen hatte. Ihr gehört ein Hotel, und die Arbeit ließ ihr nur wenig Zeit für mich. Ich glaube aber auch, dass ich sie nie nah genug an mich herangelassen habe. Ich wollte allein sein und mich in meiner Trauer weiden. Sehr viel später erst merkte ich, wie mein Selbstmitleid mich immer tiefer herabzog und dass ich mein Eremitendasein aufgeben und ins Leben zurückkehren musste. Ich ging nach Heidelberg um Soziologie zu studieren. Aber nur trockene Theorie war mir auf Dauer zu wenig. Nach dem Studium beschloss ich, meinen Traum aus früheren Tagen zu verwirklichen und Polizist zu werden. Beim Koblenzer Erkennungsdienst erhielt ich eine großartige Chance. Ich absolvierte eine kriminaltechnische Ausbildung. Und jetzt bin ich hier und hoffe, das echte Leben kennen zu lernen.«

»Ich bin sehr froh, dass Sie nach diesen Erlebnissen Ihren Optimismus wiedergefunden haben«, sagte Brandt, nicht ungerührt. »Das echte Leben werden Sie hier kennen lernen, soviel kann ich versprechen. Ich wünsche Ihnen einen guten Start bei uns. Und vielleicht finden Sie bei Ihrer Arbeit Gelegenheit, alte Wunden zu heilen.«

»Das werde ich«, strahlte Neideck. Dabei erinnerte er sich an das Hochgefühl, an diese Jetzt-geht’s-los-Euphorie, die ihn damals überkam, als er beschlossen hatte, aus seinem Trauerrefugium heraus und wieder ins Leben zu treten.

Sie parkten auf dem Plateau vor dem Schloss. »Was haben sie heute gelernt, Jasper?«, fragte Brandt, bevor er die Wagentür öffnete.

Der überlegte. »Zum einen, wir vernachlässigen unsere Instinkte. Mehr und mehr ersetzen wir unser Bauchgefühl durch Rechenmaschinen. Mit Hilfe der Fahnder lässt sich jedes Verbrechen in Sekundenschnelle aufklären. Aber fällt die Technik aus ... ich meine, Sie und Kallenbach haben bestimmt schon eine Idee, wie Sie den Fall angehen werden. Ich dagegen wäre völlig ratlos. Meine Generation muss aufpassen, dass ihr solche Dinge wie der richtige Riecher, der sechste Sinn, nicht völlig verloren gehen.«

Brandt antwortete nicht. »Und zum anderen?«, fragte er stattdessen.

»Zum anderen durfte ich heute mit Vergnügen erfahren, wie anfällig das Regime ist. Die Cäsaren sind von Brutusen umgeben, die allesamt den Dolch im Gewande tragen. Die Macht steht auf tönernen Füßen.«

Brandt nickte. »Vergessen Sie beides nicht!«

Der Hüne mit der schwarzen Sonnenbrille öffnete das Tor und ließ die beiden ein. »Guten Morgen, Herr Hauser«, begrüßte der Kommissar den Wachmann. »Mein Mitarbeiter möchte Ihre Aussagen von gestern früh aufnehmen und ich würde mich gerne noch einmal im oberen Stockwerk umsehen.«

»Gehen Sie nach oben, Kommissar. Sie kennen ja den Weg.«

Neideck zückte sein Interface und wandte sich Hauser zu, während Brandt im Treppenhaus verschwand. Jetzt stand er allein in Avarans Schlafgemach und ließ den Raum eine Weile auf sich wirken. Mit dunklem Holz vertäfelte Wände und Decken, ein mit dicken Teppichen belegter Eichendielenfußboden, schwere weinrote Samtvorhänge, Messingleuchter und altes, massives Holzmobilar verliehen dem Zimmer eine beinahe mystische Atmosphäre. So lebt also jemand, dessen Portfolio ein Volumen von einer Viertelbillion Neuer D-Mark umfasst, dachte er. Nobel, vielleicht etwas düster. Jetzt stand er genau an der Stelle, an der er auf dem Monitor den Täter gesehen hatte. Zwei Minuten hatten ihm genügt, Avaran das Gift in den Hals zu jagen und ihm dann noch ein A auf den Leib zu brennen. Er hatte präzise geplant und gearbeitet. Aber das war auch schon alles, worüber Klarheit bestand. Nachdenklich ließ er sich in einem der mit feinen, tannengrünen Mochetto bezogenen Ohrensessel nieder und sah durch das große Erkerfenster hinunter auf den alten Strom. Das Sonnenlicht brach sich auf den sanften Wellen und eine leichte Brise wehte über das Wasser. Die große Rinne, dachte er, was hat dieser Fluss nicht schon alles gesehen. Eine Jungfrau mit wehendem Goldhaar, die einst von hohem Fels vorbeifahrende Schiffer mit ihrem Gesang verwirrte, – warum hatte die eigentlich das Gesicht von Thea Voss? – den Nibelungenschatz, der auf seinem Grund die letzte Ruhe fand, Raubritter, die auf stolzen Burgen hausten, Könige, Schlachten, Kriege, große Kriege, eine wieder auferstandene Republik und ihren schleichenden Verfall. Und heute? Heute hausen wieder Raubritter auf den Burgen.

Was ist das, diese Besessenheit, jedes gesunde Maß der Bedürfnisbefriedigung überschreiten zu müssen, dieses scheinbar zwanghafte Eifern nach Besitz, fragte sich Brandt in Anbetracht des toten Hausherren, der einen Großteil seines Geldes aufwandte, sich einen vergoldeten, aber wie sich am Ende herausstellen sollte, nutzlosen Hochsicherheitstrakt zu schaffen? Hatte sich Avaran für unsterblich gehalten, hatte er, angesichts seines bar jeder moralischen Bedenken vermehrten Wohlstandes ernsthaft an seinen Frieden geglaubt? In Deutschland breitet sich die Armut aus und eine wohlhabende Minderheit, die allein imstande wäre, die Not zu lindern, verwendet ihr Vermögen, um ihren Wohlstand zu schützen. Das ist so absurd wie unanständig. Wie viele Millionen wurden allein für dieses Haus vertan? Ein Journalist hatte kürzlich errechnet, dass man davon die neun Krankenhäuser, die im Großraum Koblenz aus Geldmangel geschlossen worden waren, dauerhaft hätte weiterbetreiben können. In das Volk hat man nur solange investiert, wie man es brauchte, die Gewinne in die Höhe zu treiben. Heute, wo die Asiaten die Rolle der konsumierenden Emsen übernommen haben, sind die Menschen hierzulande nur noch ein Minus auf dem Kassenbon.

Und die Politik, jene Institution, deren Ermächtigung und Auftrag es gewesen wäre, gegenzusteuern, im ungleichen Verteilungskampf den Ausgleich zu suchen, hatte sich der Wirtschaft angedient, hatte ihr Handlungsmonopol an private Akteure verhökert. Werte, die einst als Synonyme für die Leistungsfähigkeit des Landes galten, wurden dem kurzfristigen Profitstreben unterworfen. Der Staat war zu einem Instrument verkommen, dessen vornehmlicher Zweck es war, die Forderungen des Kapitals zu verkünden, zu rechtfertigen und in Gesetze zu gießen und dafür zu sorgen, dass der Pöbel dessen Glaspaläste nicht einäscherte. Und jene, die die Eidesformel hergebetet hatten, ihre Kraft dem Volk zu widmen und Schaden von ihm zu wenden, hatten sich vom Volk entkoppelt. Sie wähnten sich als Goldmacher und waren doch nur Zauberlehrlinge. Ihre Ansprachen vom Balkon handelten von Fabelwelten, sie waren nicht mehr fähig, die Wirklichkeit zu erfassen. Von alchimistischen Fantastereien besessen hatten sie einer tollwütigen Finanzclique die Hände gereicht. Der Dompteur hatte dem Tiger die Peitsche überlassen und sprang nun selber durch den Reifen. Es bedurfte keines Sarkasmus mehr, ihre Torheiten zu rezensieren, es war hinlänglich entlarvend, sie einfach aufzuzeigen. Und im gleichen Maße, wie sich die Regierung mit der ihr eigenen Janusköpfigkeit den Krösussen unterwarf, erhob sie die Chancenlosigkeit für das Volk zur Rechtsnorm. »Kein Raum mehr für Geschenke«, hieß das in politischem Schönsprech. Statt seiner Verantwortung nachzukommen, lieferte der Staat politisches Illusionstheater, statt Chancen billiges Info- und Entertainment als Stimmungsaufheller.

Brandt, dem Recht und Gesetz stets höchste Güter waren, dem Kollegen eine ureigene Seelenverwandtschaft mit Justitia nachsagten, begann zu zweifeln. Anders als bei Robin Hood, den er einst als einen kriminellen Psychopaten demaskierte, empfand er für diesen Täter eine eigenartige Bewunderung. Zum ersten Mal fragte er sich, ob er denn noch der Gerechtigkeit diente und ob ebendiese nicht längst zu einer nachrangigen Dimension des Rechts verkümmert war.

Hatte dieses Recht überhaupt noch einen Wert? Wie oft in der Vergangenheit wurde es gebeugt, wie oft vergewaltigt? War es nicht in großen Teilen eine Ansammlung von willkürlichen Bestimmungen, dazu angetan, den Status Quo zu wahren? Im Namen dieses Rechts sollte er nun einen, der den wahrscheinlich größten Frevler der Menschheitsgeschichte bestraft hatte, aufspüren und einer Gerichtsbarkeit zuführen, deren Urteil längst feststand.

Er musste an seine Frau denken und an seine kleine Tochter, die einen so überflüssigen Tod gestorben waren. Wie hatte er diese beiden zarten Geschöpfe geliebt. Es war ein Traum, der in einem grausamen Erwachen endete. Avaran hatte sie auf dem Gewissen, hatte seinen Garten Eden zertreten und ihn damit beinahe aus der Bahn geworfen. Würde er nicht einen Märtyrer schaffen, brächte er den Henker dieses Misanthropen hinter Gitter? Konnte er das mit seinem Gewissen vereinbaren?

Brandt erschrak über sich selber. Das war unsachlich. Das Recht, dem ich die Treue schwor, versuchte er sich wieder einzunorden, steht geschrieben. Gerechtigkeit dagegen beruht auf Wohlwollen, ist Ansichtssache und somit abstrakt. Ich muss objektiv bleiben.

Für heute beschloss er, es mit den Grübeleien gut sein zu lassen.

»Jasper, wie denken Sie über den Fall?«, fragte Brandt seinen neuen Assistenten auf der Rückfahrt.

»Ich bin mir nicht sicher.«

»Was Sie denken oder was Sie mir sagen wollen?«

Neideck zögerte. »Ich bin mir nicht sicher, wie offen ich mit Ihnen sprechen kann.«

»Da können Sie sich bei niemandem sicher sein. Was sagt Ihnen denn Ihre Menschenkenntnis über mich?«

»Ich weiß, dass Sie eine Berühmtheit in Polizeikreisen sind.«

Der Kommissar schmunzelte. »Nur Gerüchte. Es wird viel geredet. Aber danach hatte ich nicht gefragt.«

Neideck zögerte erneut. »Gefühlsmäßig«, begann er dann vorsichtig, »würde ich sagen, dass Sie vertrauliche Gespräche auch vertraulich behandeln.«

»Nun, dann steht einem vertraulichen Gespräch ja nichts im Wege«, lächelte Brandt. »Also, was denken Sie?«

Der junge Mann ließ sich Zeit mit seiner Antwort. »Wissen Sie«, antwortete er nach einer Weile, »Marie Antoinette glaubte einst von sich, die wichtigste Frau in Frankreich zu sein, wahrscheinlich, weil sie das meiste Geld ausgab. Die vielen Jahre ihres ungehinderten Treibens bestätigten sie wohl in dieser Überzeugung. Aber eines Tages hat es dann Rums gemacht und ihr Kopf lag im Korb.«

»Was meinen Sie damit?«

»Das Volk ist gemeinhin treu und träge. Aber es will atmen können. Damals wie heute.«

Brandt nickte. »Sie wollen sagen, der Täter ist einer aus dem Volk?«

»Das will ich, und ich wundere mich, dass es so lange gedauert hat. Viel zu lange schon lässt sich der brave Michel die Luft abschnüren. Aber er tut nichts. Als sei er in eine apathische Starre verfallen.«

»Apathie kann eine Lösung sein. Der Große Bruder ist allgegenwärtig. Die Angst vor der Maschinerie erstickt Gedanken, bevor sie gedacht sind. Da richtet man sich lieber in seinem Korsett ein und tröstet sich mit Erinnerungen.«

»Tja, letzte Nacht ist scheinbar jemandem sein Korsett zu eng geworden. Er hat in den Spiegel geschaut und erkannt, dass er mehr tun kann, als nur zu röcheln.«

»Kann er denn mehr tun?«

»Haben Sie nicht auch das Gefühl, dass sich in Deutschland schon seit langem etwas zusammenbraut? Vielleicht trägt diese Tat ja eine noch viel weitreichendere Botschaft in sich, als Frau Voss es gestern andeutete. Vielleicht war es der Fanfarenstoß, den es bedurfte, die schlafende Masse wachzurütteln. ›Denn es wird die Posaune schallen, und die Toten werden auferstehen‹, steht im ersten Korintherbrief.«

»Sie reden ja wie der alte Che«, würdigte Brandt Neidecks leidenschaftliche Ansprache. Er verstand ihn nur zu gut, war er doch in seinen ungestümen Jahren selbst ein feuriger Streiter gegen das opportunistische Schweigen. Als Sympathisant der studentischen Friedensbewegung hatte er sich für die Enthaltung Deutschlands aus allen Kriegseinsätzen engagiert. Mit dem Hochmut missionierender Konquistadoren verkaufte damals der Westen seine imperiale Strategie als universelle Ordnung. Vorschützend, christliche und demokratische Werte in die Welt tragen zu müssen, wurden auf dem Boden von Staaten mit anderen Gesellschaftsentwürfen immer wieder Kriege entfesselt, in denen es in Wahrheit nie um etwas anderes als Macht, Einfluss und den Zugang zu den letzten Rohstoffreserven ging. Natürlich, aus heutiger Sicht war sein jugendlicher Eifer nutzlos. Dennoch beneidete er Neideck jetzt ein wenig, glaubt man in seiner juvenilen Leichtigkeit doch noch, die Welt verbessern zu können. Man weiß noch nicht, dass die Welt nicht verbessert werden will. Wir sind ihr egal. Sie dreht sich einfach weiter und wir krabbeln auf ihr herum und verstehen so wenig. Idealen nachzuhängen ist das Privileg der Jugend, und früh genug, oft zu früh, wird man in seinem Drang ausgebremst. Dann findet sich die Eine, die das Herdfeuer in der Höhle des einsamen Jägers entfacht und die Träume von gestern lösen sich auf im Rauch eines schläfrig machenden Wohlbehagens. Und man gerät, ohne dass man sich dagegen zu wehren vermag, in das unerbittliche Räderwerk der Alltäglichkeit. Für den einen beginnt der Kampf ums Mehr, für den anderen der um die Existenz, und der Tatendrang von eben erschöpft sich bald schon im banalen Streben nach Auskommen und Ruhe.

Dieser Neideck schien ein kluger Kopf zu sein, aufgeweckt, agil und lebenshungrig. Womöglich ein wenig sorglos. »Sie besitzen Courage, Jasper. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Seien Sie achtsam, wem Sie sich anvertrauen. Der Staatsschutz hat seine Augen und Ohren überall.«

Neideck senkte den Blick. »Ja, das weiß ich.« Dann aber blickte er auf. »Vielleicht wurde heute Nacht ein Held geboren. So einer, nach dem sich die Menschen seit langem sehnen.«

»Ein Robin Hood?«

»Ja, so etwas ähnliches.«

Brandt lächelte. Er fand Gefallen an dem jungen Mann. »Ich könnte einen Partner gebrauchen. Was meinen Sie?«

Neideck strahlte. »Das wäre großartig.«

Inzwischen waren sie wieder auf dem Hof des Koblenzer Polizeipräsidiums angekommen. Brandt stellte den Motor ab. »Jasper?«

»Ja?«

»Sagen Sie Vincent zu mir.«

Galisia

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