Читать книгу Der Jäger und sein Ziel ... - Gerd H Meyden - Страница 10
Der Bär vom Kitzbüheler Horn
ОглавлениеIn meinem ehemaligen, weitläufigen Revier in den Allgäuer Bergen hausen viele Murmele. Sie heißen hier so, anderwärts sind es Mankei, Munggen oder Marmotta. Aus letzterem Namen entstand das Wort „Murmeltier“. In jenem Revier findet man sie fast nur auf der östlich und südlich gelegenen Seite des Stillach-Rappenalptals. Sicher liegt das an den ansonsten zu steilen Hängen. Die für ihren Lebensraum notwendigen Bergwiesen sind geländebedingt rar. An einem besonderen, fast ebenen Platz inmitten der schroffen Bergwelt waren sie zahlreich daheim. Ausgerechnet vor einer bewirtschafteten Hütte, der „Enzianhütte“ unterhalb des Linkerskopfs. Sie waren deshalb die Menschen gewohnt, keinesfalls mehr scheu und pfiffen nur, wenn ein Hund auftauchte.
So erging es mir mit meinem jungen Schweißhund, der zum ersten Mal in seinem Leben mit diesen Gesellen zusammenkam. Nach einer Pirsch in der Höhe gönnten wir uns eine Rast vor der Hütte. Bald darauf schlupften die ersten neugierigen Murmele wieder aus ihren Bauen und beäugten, Mannderl machend, uns Neuankömmlinge. Die junge Hündin vermutete, es wären die ihr verhassten Katzen und sauste los, um denen eine gehörige Lektion zu erteilen. Aber – wie sonderbar, die vermeintlichen Gegner waren sofort vom Erdboden verschluckt. Und sie rochen ganz anders, gar nicht nach den Stubentigern. Ratlos stand Silva vor dem Bau. Das war offenbar nicht ihr Wild. Seit diesem ersten, prägenden Erlebnis stand für sie fest, diese Höhlenbewohner sind genauso uninteressant wie Nachbars schwarze Hühner.
Ein ähnlich enttäuschendes Erlebnis hatte sie im gleichen Jahr bei einem Urlaub an der Nordsee. An einem breiten, endlos langen und menschenleeren Strand robbte vom höher gelegenen Dünenkamm eiligst ein Seehund dem Meer zu. Er hatte wohl dort oben verschlafen. Die Silva startete los, um den sonderbaren Hasen oder Fuchs anzuschauen. Neben dem wunderlichen Tier herlaufend ging’s den Wellen zu. Als dann die Robbe spur- und geruchlos darin verschwand, war die junge Hündin fassungslos. Es fehlte nur, dass sie kopfschüttelnd zurückkam. Dies war wohl das einzige Mal, dass jemals ein Schweißhund mit einem Seehund um die Wette gerannt ist.
Doch zurück ins Allgäu. Seit Jahren haben die Murmele hier keine Jagdzeit mehr, und nur der Adler darf sie sich erjagen. Wie es jedoch dazu kam, dass unser Berufsjäger mich mit Murmelöl zum Schmieren der Gelenke bedienen konnte, ist wohl sein Geheimnis geblieben.
Meine Schwiegermutter, die aus einem Gasthof im Hintersteiner Tal stammte, wusste von einer anderen Verwendung des Murmelfetts. Im elterlichen Gasthof kehrten zur Winterzeit nach getaner Arbeit immer die Wegmacher ein. Was heutzutage der Straßenräumdienst mit Motorkraft bewältigt, erledigten die Älpler früher mühevoll mit der Schaufel. Das macht Hunger und Durst. Der Wirt spendierte dazu die entsprechende Stärkung. Zur Erhöhung der Bekömmlichkeit von Speis, Bier und Enzianschnaps setzte jeder der Mannsbilder hernach die eigene Flasche mit Murmeleschmalz an und nahm einen kräftigen Schluck. Für diesen Genuss muss man allerdings in hochalpiner Wolle gefärbt sein.
Am südlichen Ende unseres ehemaligen Jagdreviers, welches zugleich der südlichste Punkt Deutschlands ist – man blickt von dort hinunter nach Warth im Vorarlberger Lechtal – liegt eine kleine Hochebene, wo sommers das Vieh hinaufgetrieben wird. Mehrere Hütten bieten Unterkunft für Hirten und Sennen. Hier ist ebenfalls der ideale Lebensraum für die Murmele. Doch überall, wo der Mensch die Umwelt für sich allein beansprucht, kommt es zu Kollisionen. Die Hirten beschwerten sich, dass die Kühe mit ihren Haxen in die Bau-Einfahrten einbrechen und so zu Schaden kämen. Fazit: Die Murmele müssen weg!
Um die aufgebrachten Bauern zu beschwichtigen, wurde eine Eingabe an die Behörde gemacht und um Abschussgenehmigung für ein paar Murmele angesucht. Wie wir hörten, stand die Genehmigung kurz bevor. Als aber eine grün orientierte Beamtin davon Wind bekam, landete das Gesuch im Papierkorb.
Da griffen die Hirten zur Selbsthilfe. Irgendwie hatte sich eine Gruppe der kleinen Höhlenbewohner unter einer der Hütten in eine Kellergrube verirrt, wo sie nicht mehr herauskonnten. Die Bauern erschlugen sie alle. Dem Jäger war die Ernte und Erlegerfreude genommen, die „Schädlinge“ waren erledigt und der bäuerliche Zorn verraucht. Der Amtsschimmel wieherte siegesfreudig.
Die Verwandtschaft dieser Langschläfer ist über die nördlichen Regionen des Globus beinahe weltweit mit etwa vierzehn verschiedenen Unterarten verbreitet. Einige dieser Verwandten konnte ich auf der Steinbockjagd im mongolischen Altai kennenlernen.
Zusammen mit meinem Guide Darmaa pirschte ich in den Gipfelregionen des Hochaltai. Bei einer Rast sahen wir unterhalb unseres Ausgucks eine große Murmelefamilie beim eifrigen Äsen. Nur ein einzelner großer Bär hielt nahe beim Felsenbau aufrecht stehend Wache. Auffallend waren seine Größe und sein fast steingrauer Balg. Auch der Warnpfiff unterscheidet sich von dem unserer Alpenmurmeltiere. Wir hatten bereits auf der Herfahrt bei diversen Rasten den sich ganz anders anzuhörenden Pfiff vernommen. Er klingt eher wie ein Kreischen, halt „Murmelisch“ auf Mongolisch.
Mit dem Spektiv konnte ich dem Sippenchef lange zuschauen, bis er plötzlich mit gellendem Pfiff die ganze Bande in den Bau scheuchte. Was war da los? Da sah ich auch schon einen prächtigen, großen Fuchs – auch er hatte einen mehr steingrauen als roten Balg – heranschnüren. Der Wächter ließ ihn nicht aus den Augen und tauchte auch nicht ab, selbst als der Graue – der „Rote“ kann man in diesem Fall ja nicht sagen – nur wenige Meter an ihm vorbeischnürte. „Reineke mongolicus“ schenkte ihm nicht einmal einen Seitenblick, so als wollte er dokumentieren: „Du interessierst mich gar nicht, wohl bist du auch schon recht zäh!“ Man kennt das ja aus der Fabel, wo dem Fuchs die ohnehin unerreichbaren Trauben sowieso viel zu sauer sind.
Darmaa erzählte mir, dass er es bedauere, dass noch keine Jagdzeit auf Murmele sei. Diese Delikatesse darf erst in einigen Wochen bejagt werden. Dann aber wird Mitte Juli zum Naadam Fest auch „Chorlog“ bereitet.
Auf meine Frage, was das denn wohl Köstliches sei, gab mir der Mongole das Rezept: Man ziehe dem Murmele den Balg wie einen Sack ab, nur mit der Öffnung oben und unten. Dann wird das zerlegte Tier hineingefüllt und beide offenen Sackenden verschlossen. Daraufhin kommt der Murmelesack in heiße Holzasche oder unter glühend gemachte Steine. Nach der Garzeit öffnet man den Sack, und der „würzige“, ölige Fleischsaft ist der kulinarische Himmel aller Steppen-Gourmets.
Darmaa musste bei der Beschreibung dieser edlen Speise vor Appetit schlucken. Vielleicht erging es dem Fuchs auch so?
Auf jeden Fall hätte es mich sehr gefreut, wenn ich wenigstens einmal im eigenen Jagdbann solch seltene Beute machen, mich an Erlegung, Balg und der raren Trophäe von gelben Nagezähnen hätte erfreuen können. Lieber jedoch ohne anschließenden Chorlog – auch wenn Darmaa mich nur zu gerne an diesem Hochgenuss hätte teilhaben lassen.
Als ich einem Jagdfreund von meinem Wunsch erzählte, tröstete er mich mit einer Einladung zur legalen Murmelejagd in Tirol. Er habe einen Freund, der eine kleine Eigenjagd auf dem Kitzbüheler Horn hat. Es gäbe da viele Mankei – dort heißen sie halt so – und der Eigentümer mit dem schönen Namen Severin freue sich über einen Gast.
Heiß brannte die Septembersonne vom wolkenlosen Himmel, als Severin uns hinauf zu den Hochalmen geleitete. Unterwegs bekam ich all die Ermahnungen, die mir aus Literatur und Erzählungen bekannt waren.
„Schieß nie, wenn der Mankei in der Nähe des Baues ist. Er muss im Schnall liegen, sonst ist er verloren. Und – was hast denn für a Büchs?“
Für diesen Fall hatte mir mein Freund seine 222 ausgeliehen, denn all meine eigenen Waffen hatten ein zu grobes Kaliber für das kleine Wild. Die Probeschüsse saßen perfekt, und so war der Gastgeber beruhigt.
Die baum- und strauchlose Hochebene ist eine bucklige Welt. Schon von weitem sahen wir etliche Mankei umherhuschen, und auf gellende Warnpfiffe hin waren sie blitzschnell abgetaucht. Hinter einem Felsbrocken fanden wir Deckung. Es dauerte keine halbe Stunde, da erschienen wieder ihre sichernden Köpfe vor den Einfahrten. Bald waren wieder kleine Affen und größere Bären und Katzen unterwegs zum Äsen. Ich wollte mir einen möglichst starken Bären auswählen, und so wurde mir die Zeit nicht lang, zumal das Bergpanorama allein den Aufstieg gelohnt hätte.
Plötzlich huschte ein größerer Bursche auf einen der kleinen Hügel, richtete sich auf und sicherte rundum.
„Den packsch!“, flüsterte mir der Severin zu. „Herrschaft! Des isch a amol a starker Bär!“
Dort auf dem kleinen Buckel war er weit genug vom Bau entfernt, und mit der guten Auflage an dem Felsen war der Schuss kein Kunststück. Im Knall der kleinen Büchse lag der Bär verendet auf der Hügelkuppe, schlegelte noch einmal kurz und rutschte auf der abgewandten Seite in die Senke. Das ging ja schnell und einfach. Mir ging’s fast zu schnell. Die Freunde beglückwünschten mich mit kräftigem Schulterklopfen, und freudig stiegen wir hinab zur Beute.
Doch da kam die Enttäuschung wie eine kalte Dusche. Genau in der Senke, in die der Bär abgekippt war, gähnte ein großer Bau. Da war er hineingerollt.
Severin kratzte sich am Kopf. „Der Deixl solls holen!“
Die Baueinfahrt ging mindestens einen Meter weit senkrecht in die Tiefe. Wie es dort weiterging, konnte man nur ahnen. Unsere Arme waren zu kurz, um da hinunterzulangen.
„Jetzt müss’ mer graben“, war Severins Vorschlag. Hier lag eine dicke Humusdecke, unsere Chancen waren gut, ein gutes Stück hinunterzugraben. Bei einem Felsenbau wären alle Mühen vergebens gewesen. So aber fuhr der Bauer zu Tal, um Hacke und Schaufel zu holen.
Jetzt jedoch kam die große Schinderei. Im glühenden Sonnenschein lief uns der Schweiß in Strömen herab. Hemd und Hose mussten wir ablegen. Abwechselnd gruben mein Freund und ich in die Tiefe. Bis zur Hüfte schon waren wir zum Erdmittelpunkt in Richtung Neuseeland vorgedrungen, doch kein Haar des Bären war weder zu sehen noch zu greifen. Und dann die große Enttäuschung: Der Fels begann. Ende der Graberei. Doch ich dachte nicht ans Aufgeben. Weit unterhalb der Almfläche wuchs ein Haselstrauch. Da wollte ich mir eine Gerte holen, um wenigstens zu ertasten, wo der Mankei lag.
Und tatsächlich, vorsichtig, den Stecken um eine Biegung schiebend, stieß ich auf etwas Weiches. Das musste der Bär sein. Doch wie ihn da herausziehen? Der Stecken hatte ja keinen Greifarm. Da fiel mir eine Geschichte ein, die ich einmal gelesen hatte. Da sah es so aus, als würden die Jäger ebenfalls in einem Felsenbau einen Dachs auf die gleiche Weise wie ich den Mankei verlieren. Sie spalteten einen Stecken am Vorderende zu einer Gabel. Mit dieser drehten sie den Stock in die langen Haare der Schwarte und zogen den Dachs langsam und vorsichtig heraus.
Das wollte ich auch probieren. Die Freunde runzelten zweifelnd die Stirn, doch machten sie mir Mut zum letzten Versuch. Also musste ich nochmals zum Haselstrauch hinunter und eine andere, biegsamere Gerte schneiden. Dann stocherte ich mit der gespaltenen Spitze vorsichtig nach dem Murmele. Bloß – wo hatte der die längeren Haare, in die sich der Stecken eindrehen ließ? Sehen konnte ich eh nichts, und so blieb mir nur das Probieren. Immer wenn ich auf den weichen Körper stieß, drehte ich mein Steckerl wie eine Spaghettigabel. Doch umsonst, sie konnte sich nicht festbeißen. Ich musste die langen Haare des Bürzels erwischen, das könnte gehen. Aber ohne Sicht dahin finden? Geduld ist des Jägers wichtigste Tugend, und ich gab nicht auf. Und dann – juhe – plötzlich ließ sich die Gerte nicht mehr drehen. Sie hatte gebissen. Zentimeter für Zentimeter konnte ich sie mit dem Mankei daran herziehen, immer in Angst, sie könnte sich vom Wild lösen. Und nach spannenden Minuten sah ich das schwarze Ende vom Bärenbürzel. Jetzt nur langsam. Den könnte ich jetzt mit den Händen fassen. Dazu musste ich kopfüber in die Grube hinab. Die Freunde hielten mich an den Füßen fest, und endlich gelang es mir, bis zum Mankei hinunterzugreifen. Erdverschmiert, aber glücklich zog ich meine Beute ans Tageslicht.