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Kapitel 3 – Schwindel

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»Mensch Wolff, so eine Scheiße aber auch. Dass euch das in dieser Nacht passieren musste.«

Helmi setzt sich zu uns und stellt drei frische halbe Bier auf den Tisch.

»Probieren, die Herren. Neu! Elch-Bräu aus Thuisbrunn. Das läuft runter, sag ich euch.«

»Also dann a Prösterla!«

Tatsächlich. Schön herb.

»Sehr gut, Helmi, da könnt’ ich mich daran gewöhnen. Ja, ja. Das war ein Ding am Samstag. Ich habe so etwas noch nie erlebt.«

»Macht dir das nichts aus? Ich meine, die meisten kippen um oder speien wie die Reiher oder machen beides!«

»Mein Magen hat schon einige Signale gesendet, aber ich bin nicht so der Speityp. Ich kann da ziemlich viel wegstecken, das war schon immer so. Ich darf denjenigen nur nicht kennen und so was kommt hoffentlich nie vor.«

»Mir wär’n net bei der Mordkommission, wenn mer bei jed’n Dod’n gleich umfall’n däd’n!«

»Herbert, das stimmt. Aber jetzt verrate mir mal, was wir denen morgen erzählen.«

»Na ja, du wasst scho. Ich hob a weng mei Fühler ausgstreckt, wos die morng so wissen woll’n.«

»Und?«

»Und, Scheiße. Die wer’n auf dem Dhema rumreiten, dass widder irgendwo aaner mit aaner gud’n Prognose rausderft hot. Du wasst scho. Kinderschänder, Vergewaltiger, a schönes Gutachten, und scho schlächder widder zu.«

»Ich hab’s mir fast schon gedacht. Da werden die Stammtische wieder bestens bedient von der Presse. Manchmal haben die aber auch recht. Und jetzt?«

»Etz bass auf. Ich hob den Cem scho drauf ang’setzt. Der hot doch europaweit such’n soll’n. Do gibt’s ähnliche Fälle in Polen, Rumänien, Slowenien und Italien. Abber immer nur ein Mord. Gut. Ähnlich. Die Opfer wor’n ganz schee herg’richt und die Gliedmaßen wor’n a a weng verbog’n, abber natürlich net so wie unserer.«

»Auf was willst du hinaus?«

»Also. Mir stell’n uns auf den Standpunkt, dass do zwor a Verrückter rumläfft, aber in jed’n Land bloß eine Dad verübt. He? Und desweg’n gehen mir davon aus, dass des hier bei uns auch ein Einzelfall ist! Des steht für uns nach unseren umfangreichen und nächtlichen Recherchen fest.«

»Und das nehmen die uns ab?«

»Na, na. Und dann präsendieren wir eine Liste mit allen Entlassungen aus der Psychiatrie aus den letzten acht Monaten.«

»Wieso acht?«

»Weil vor neun Monaten so a kritischer Fall entlassen wor’n iss.«

»Woher ...«

»Du host doch den Harald drauf ang’setzt!«

»So schnell geht das bei euch?«

»Scho, Wolff.«

»Und was war das für einer?«

»No, a so a Vergewaltiger halt, der die Frauen dann anschließend herg’richt hot. Abber net so wie am Samstoch.«

»Und das reicht denen dann?«

»Die ham genauso wenich wie mir und bis die do drauf kumma, des dauert.«

»Herbert, du hast den Hauptkommissar wahrlich verdient.«

»Abber im Ernst. Des schaut net gut aus, odder?«

»Nein, Herbert, es sieht gar nicht gut aus. Wir haben lange mit Dr. Rosser gesprochen und die Hannah hat da sehr viel Ahnung. Herbert, da läuft einer draußen rum, der das morgen wiederholen könnte. Außer wir haben Glück und der zieht weiter. Aber das Problem wird dadurch nur verlagert und nicht gelöst!«

»A so ein Scheißdreck abber auch. Du soch a mol. Die Hannah hot mich g’frocht, wie alt du bist. Geht a wen’g wos mit dera?«

»Hör mir bloß damit auf. Ilse ist auch schon bei dem Thema, nur weil ich mit ihr heute nach Erlangen gefahren bin. Aber die ist fachlich ganz gut drauf!«

»Bloß fachlich?«

»Nur fachlich!«

»Helmi, host noch a wen’g a so a Bier?«

»Na dann bring ich euch doch noch zwei!«

*

Pressekonferenz im Rathaus. Großer Bahnhof. Der OB sitzt rechts neben mir. Links von mir Dr. Ruschka, dann Staatsanwalt Gastner. Herbert habe ich neben den Bürgermeister gesetzt. Für alle Fälle. Wenn mir nichts mehr einfallen sollte. Ganz außen am Tisch sitzt Cem. Wegen der »Auslandsberührung«.

»Meine Damen und Herren von der Presse, sehr geehrte Anwesende, Herr Oberbürgermeister im Besonderen«, der Chef eröffnet die Sitzung, »außergewöhnliche Ereignisse haben uns heute hier zusammengebracht. Ich gebe zu, Nürnberg befindet sich in einer schwierigen Zeit ...«

»Hören Sie doch auf mit diesen Floskeln. Es ist eine Katastrophe hereingebrochen über unsere Stadt. Und sie halten Volksreden! Da läuft ein Verrückter herum und mordet.«

Einer der Journalisten wird jetzt schon ärgerlich und die anderen nicken zustimmend.

Ich muss eingreifen.

»Meine Herrschaften, Sie werden unserem Chef schon seine einführenden Worte zugestehen. Aber wenn ich schon das Wort habe, dann kann ich Ihnen Folgendes sagen. Zweifellos, und ich kann das ganz unverblümt aussprechen, haben wir eine Katastrophe. Am frühen Samstagmorgen wurde ein Mann auf der Fleischbrücke brutal dahingemetzelt. Die Umstände sind Ihnen bekannt, die vermeintlichen Einzelheiten konnten wir ja schon in der Presse lesen. So viel zu den Volksreden. Sie konnten ja nicht einmal die ersten Untersuchungen abwarten und haben Ihre einschlägige Leserschaft bedient!«

Ich ernte sofort fast tumultartigen Widerspruch.

»Lassen Sie mich bitte fortfahren. Ich bitte um Ruhe. Hätten Sie gründlichere journalistische Arbeit geleistet und erst einmal abgewartet«, Herbert hat mir geraten, richtig auf Konfrontation zu gehen, »dann hätten wir Ihnen am Montag schon genauere Angaben machen können.«

Aus dem Saal kommen verhaltene Beschimpfungen.

»Sie haben doch nichts! Und morgen kann der nächste Mord geschehen, Sie sind der Sache nicht gewachsen! Sie müssen die Bürger schützen!«

»Entschuldigen Sie, wie war Ihr Name?«

»Frommberger, von der Nürnberger Zeitung.«

»Ah, von der NZ. Ich kann mich erinnern, dass Sie sehr schnell an Details von Verbrechen kommen. Leider nicht immer gut recherchiert!«

»Das ist eine Unverschämtheit!«

Dr. Ruschka sieht zu mir herüber und macht eine mahnende Miene.

»Nein. Ist es nicht. Denn wenn Sie zu der Tat am Samstag gute Informationen gehabt hätten, dann wäre Ihnen nicht ein gravierender Fehler unterlaufen.«

Der OB schaltet sich ein.

»Herr Hauptkommissar Schmitt, wir wollen uns doch hier nicht mit Einzelheiten aufhalten. Was können Sie uns an Ergebnissen bieten?«

»Dazu komme ich gleich, Herr Oberbürgermeister. Übrigens, ich leite die Sondereinheit als Erster Hauptkommissar. Also.«

Ich wende mich wieder den Anwesenden im Saal zu.

»Was Ihnen entgangen ist, oder was Ihrem Informanten entgangen ist, sagen wir es einmal so, ist die Tatsache, dass ... «

»Welcher Informant bitte?«

»Das weiß ich nicht. Oder haben Sie die Leiche selbst gesehen? Also nein. Sie hatten in Ihrem Artikel vom Dienstag angedeutet, dass man davon ausgehen könne, es handele sich womöglich um einen entlassenen Sexualstraftäter, der rückfällig geworden ist. Nun. Ich habe die Leiche selbst gefunden.«

Wieder geht ein Raunen durch den Raum.

»Und ich kann Ihnen versichern, das ist nicht die Tat eines Sexualverbrechers. Ganz sicher nicht. Dieser Täter geht präzise vor, nicht triebgesteuert, sondern völlig kontrolliert.«

»Was soll das an der Gefahr für die Bevölkerung ändern? Lehmann, Süddeutsche Zeitung.«

Ich erkenne den Journalisten. Es ist Mister Unbekannt, den Herbert damals wegen des Mordes in der EU-Behörde angeschleppt hatte.

»Wir waren in den letzten Tagen nicht untätig. Es gibt vergleichbare Fälle in Polen, Rumänien, der Slowakei und Italien. Aber es war immer nur ein Opfer, dann ist der Täter weitergezogen.«

Ich bitte Cem Arslan, das Wort zu übernehmen und er schildert kurz die dortigen Ermittlungsergebnisse. Zugegeben, nicht ganz so genau.

»Und deswegen können wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt davon ausgehen, dass die Tat am Samstag hier in Nürnberg auch ein Einzelfall bleibt.«

Es folgt Widerspruch aus den Reihen der Anwesenden.

»Wie können Sie da so sicher sein?«

»Sicher ist gar nichts. Und wenn ich Ihnen vor einer Woche diese Tat angekündigt hätte, hätten Sie mich für verrückt erklärt. Sie hätten argumentiert, dass so etwas hier in Nürnberg ›sicher‹ nicht passiert. Aber deswegen legen wir den Fall nicht zu den Akten. Ganz im Gegenteil. Die Ermittlungsarbeit wird unvermindert und mit Nachdruck fortgesetzt, da können Sie versichert sein!«

»Und was, wenn doch so ein Rückfalltäter am Werk ist?«

»Wir haben das überprüft. In den letzten acht Monaten ist kein relevanter Fall aus Haft oder psychiatrischer Unterbringung entlassen worden. In ganz Deutschland nicht. Und unser Kommissar Cem Arslan hier hat die angrenzenden EU-Staaten mit einbezogen.«

»Herr Schmitt, kann unsere Stadt wieder zur Tagesordnung übergehen?«

Der OB will beruhigt werden.

»Die Bürger dieser Stadt, ja. Die Polizei, nein. Wir werden alles daran setzen, dieses abscheuliche Verbrechen endgültig aufzuklären!«

Es folgt zwar kein Applaus, aber die Presseleute ziehen ohne Murren ab.

Dr. Ruschka nickt mir dankbar zu.

Draußen im Treppenhaus nimmt mich dieser Lehmann von der Süddeutschen am Arm und zieht mich zur Seite.

»Das haben Sie gut gemacht, Herr Schmitt. Aber glauben Sie im Ernst an diese Geschichte? Ein Täter, der herumzieht und nur einmal pro Land zuschlägt? Das ist ein Psychopath und der schlägt zu, wenn er die Gelegenheit bekommt!«

»Sie haben uns damals sehr geholfen, Herr Lehmann. Jetzt kenne ich wenigstens Ihren Namen. Damals haben Sie mir Ihren Namen nicht verraten, heute verrate ich Ihnen meine Strategie nicht. Ich denke, wir sehen uns noch! Ich muss in eine Besprechung.«

Bevor ich mich jetzt noch auf ein Gespräch einlasse, bei dem ich konkreter werden müsste, bevorzuge ich den Rückzug.

»Das hast du aber sehr diplomatisch gelöst, mein Wolff.«

Das Lob kommt von Ilse.

»Danke. Aber ich muss mich trotzdem erst noch an meine neue Position gewöhnen. Du, ich sag’s dir, der Herbert wächst geradezu über sich hinaus. Ich kann die Nummer hier und heute nur ihm verdanken. Der hatte alles ganz genau vorbereitet.«

»Also nicht die Neue!«

»Ilse, jetzt hör’ auf damit. Ich habe mir die Personalsituation vorher genau angesehen. Wir brauchten dringend Verstärkung und Hannah war die einzige Option. Zeugnisse, Beurteilungen, Fortbildungen, das war genau das, was ich gesucht habe.«

»Und da kommen natürlich das Aussehen und das Alter gerade recht!«

»Ah. Schon wieder. Du bist eifersüchtig, Ilse. Natürlich ist es schön, wenn die Wunschkandidatin keine Krätze ist.«

»Also doch!«

Wir sitzen alle im Besprechungsraum. Die ganze Sondereinheit. Dr. Ruschka als Kommissionsleiter, Oberkommissarin Ilse Merkel, nein, nicht Schmitt, sie wollte meinen Namen nicht, Oberkommissar Harald Müller, Kommissar Cem Arslan, Kommissarin Hannah de Fries, der frischgebackene Hauptkommissar Herbert Wagner und ich.

Hannah sitzt neben Cem, der über das ganze Gesicht grinst.

»Wenn Ihre schöne Geschichte nur wahr wäre, Herr Schmitt. Dann wäre mir bedeutend wohler. Wann kommen die Ergebnisse der Rechtsmedizin aus Erlangen? Morgen?«

»Wir holen sie morgen Vormittag ab. Ich habe den Professor gebeten, nichts elektronisch zu schicken. Ich will vermeiden, dass die Presse irgendetwas in die Hände bekommt.«

»Nanu! Angst vor einem Maulwurf?«

»Nein, das nicht gerade, Dr. Ruschka. Aber Sie wissen doch, aus so einer großen Organisationseinheit geht immer ein bisserl was nach draußen.«

»Sie klingen jetzt fast wie ein Österreicher!«

»Meine Großmutter ist in Österreich geboren, vielleicht steckt da noch was drin in mir.«

Alle lachen.

»Aber jetzt im Ernst, Herrschaften. Ich fahre morgen nach Erlangen und hole den Bericht. Aber der wird uns kaum weiterbringen. Wir wissen dann nur das, medizinisch fein säuberlich aufbereitet, was wir am Samstagmorgen sowieso gesehen haben. Außer der Täter hat seinen Namen noch irgendwo in die Haut des Opfers geritzt.«

»Des kannst abber vergess’n!«

»Genau, so ist das. Wir kommen nur weiter, wenn wir genau so ein Verhaltensmuster irgendwo anders finden. Harald, Cem, wie weit seid ihr?«

»Die Geschichten aus dem Ausland habt ihr ja schon verwendet. Mehr war da nicht. In Russland hatte es da mal einen ähnlichen Schlächter gegeben, der hätte zu unserem Fall super gepasst. Aber der wurde erschossen. Ansonsten Fehlanzeige. Und bei dir, Harald?«

»Na ja, es sitzt einer in Ansbach in der Psychiatrie. Ich war da gestern und habe mich mit dem Chefarzt unterhalten. Der war von Kind an gestört. Diebstähle, aggressives Verhalten, ständiges Lügen. Als Jugendlicher kamen dann Drogen und Alkohol dazu. Und kleinere Einbrüche. Der hat geklaut, was ihm in die Finger kam. Dann kamen die Jugendstrafen. Da hat er das Einbrechen erst richtig perfektioniert.«

»Und gleich weitergemacht?«

Hannah will das wissen.

»Klar. Da kamen die richtig großen Sachen, aber deswegen sitzt er da natürlich nicht. Dabei hatten die ihn nicht erwischt. Er war 25, als er Vater und Großvater erschlug und brutal verstümmelte. Zwar nicht genau so, wie der am Samstag es getan hat, aber der Arzt hält so was für möglich.«

»Das ist eine dissoziale Persönlichkeitsstörung gefolgt von psychotischen Schüben. Früher hieß das schlicht Psychopathie. Der Begriff war aber zu wenig differenziert, weswegen die Wissenschaft ihn heute eher nicht verwendet.«

Alle sehen Hannah erstaunt an.

»Genau so ein Zeugs hat der Arzt erwähnt. Deswegen war der schuldunfähig und sitzt seit fünf Jahren in Ansbach ein!«

»In der Regel führt ein starkes kindliches Trauma wie etwa Missbrauch oder Gewalt zu einem solchen Verhalten im jugendlichen Alter. Auch enorme Aggressionen sind nicht ausgeschlossen. Dass aber einer solche Sachen wie in unserem Fall veranstaltet, ist bisher noch nicht dokumentiert.«

Hannah de Fries beendet ihre Vorlesung.

»Das ist alles schön und gut, aber es nützt uns nichts, weil der da sitzt und nicht raus kann.«

Da hat Ilse jetzt auch wieder Recht.

»Davon konnte ich mich gestern überzeugen. Da kommt keiner an die Luft. Die Abteilung ist hermetisch abgeriegelt. Keine Chance. Der Typ hat auch keinerlei Erleichterungen bekommen, weil seine Gewaltfantasien noch immer da sind. Das dauert mindestens noch zehn Jahre, sagt der Arzt, wenn das überhaupt noch was wird mit dem.«

»Hast du ihn gesehen? «

»Nein. Die lassen niemanden zu ihm. «

»Ich fahre morgen mit nach Erlangen«, sagt Hannah mit einem fest entschlossenen Ton, »ich muss noch mal mit dem Dr. Rosser reden. Und ich will die Akte von dem in Ansbach.«

Ilse wirft mir schon wieder einen scharfen Blick zu.

»Dann kann doch auch ich mit Hannah nach Erlangen fahren!«

»Wie sieht’s mit deiner Recherche der ungeklärten Fälle aus?«

Ich Idiot. Das hätte ich jetzt genau an diesem Punkt nicht fragen dürfen.

»Die ist noch nicht abgeschlossen.«

»Dann loss halt den Wolff fohr’n. Der geht scho net verlor’n.«

»Da bin ich mir nicht mehr so sicher, Herbert.«

Hannah quatscht scheinbar unbeteiligt mit Cem. Irgendwie muss ich die Situation retten.

»Genau, Herbert. Was ist mit deinen Straßeninterviews?«

»Ja. So. Die ham etz a wen’g warten müssen, weil du ja net g’wusst hast, was du dene Presseheinis sag’n sollst. Da iss mei ganze Zeit draufgangen. Dud mer leid.«

»Ja. Geht in Ordnung.«

»Ilse, mogst mir vielleicht helfen? Ich zieh morgen los!«

Der Herbert als Retter.

»Herbert, ich helfe dir. Ein wenig frische Luft kann mir nicht schaden.«

Und wieder ernte ich einen ernsten Blick.

Wieder auf dem Flur.

»Wolff, warum willst du ständig mit der zusammen sein. Genüge ich dir nicht?«

»Was soll das, Ilse. Die Hannah hat eine psychologische Vorbildung und kann mit dem Pathologen ganz anders reden als wir alle zusammen. Und wenn ich mit ihr zusammen sein wollte, dann muss ich das nicht dienstlich bei einer Fahrt nach Erlangen organisieren. Wenn ich das will, dann gehe ich heute Abend mit ihr weg oder treffe mich mit ihr in ihrer Wohnung. Aus. Ich gehe heute Abend zum Kuchelbauer. Gehst du mit?«

»Ja.«

*

Eine Vermisstenmeldung ist bis heute, dem sechsten Tag nach dem Verbrechen, nicht eingegangen, was dafür spricht, dass Dr. Rosser mit seiner Theorie vom Obdachlosen richtig liegen kann. Diese Menschen treffen sich zwar oft abends und übernachten gemeinsam an einem geschützten Platz, aber wenn einer nicht mehr auftaucht, dann ist das halt so. Da kümmert sich dann keiner besonders. Wir können auch schlecht mit einem Foto von der Leiche an den uns bekannten Treffpunkten dieser Leute auftauchen und nachfragen. Ohne Gesicht wird das schwierig. Vielleicht hat der Rechtsmediziner noch ein besonderes Merkmal entdeckt.

Unsere Fahrt nach Erlangen verläuft bis Eltersdorf wortlos. Hannah sieht nur geradeaus oder tippt auf ihrem Telefon herum. Dann dreht sie sich zur mir herum.

»Wolff Schmitt. Deine Frau ist nicht begeistert davon, wenn wir beide zusammen ermitteln?«

»Nein, ist sie nicht. Sie ist eifersüchtig. Ich kann das auch nicht verstehen. Früher war sie nie so.«

»Da war ich auch noch nicht bei eurer Truppe. Ich kenne das. In meiner letzten Abteilung gab’s auch Trouble mit der Frau vom Chef.«

»Mit der Frau vom Landmaier Josef? Der ist doch schon 65 und kurz vor der Pension. Ich glaub’s nicht. Der hat dir gefallen?«

»Er mir nicht, aber ich ihm!«

»Der alte Bock. Aber so war der schon immer. War was?«

»Nein. Man hat schon bemerkt, dass er speziell was für mich übrig hatte, aber sonst hat er sich schon korrekt verhalten. Bei der Weihnachtsfeier letztes Jahr musste ich zweimal mit ihm tanzen, obwohl ich Tanzen hasse. Als ich beim dritten Mal dankend ablehnte und er enttäuscht dastand, hat sich seine Alte eben aufgeregt. Der war ja auch blöd, die zur Feier mitzunehmen und dann ständig bei mir anzuklopfen.«

»Kann ich mir bildhaft vorstellen. Ich kenn’ die. Da durfte keine andere mit ihm auch nur reden, schon war die auf 180. Der Josef! Wolltest du deswegen die Abteilung wechseln?«

»Nein. Als von euch die Anfrage kam, habe ich nicht lange überlegt. Mordkommission war schon immer mein Traum. Hat bis dahin nur nie geklappt.«

»Das freut uns auch sehr. Du hast in deiner alten Abteilung auch gute Arbeit geleistet.«

Dr. Rosser bittet uns in sein Büro.

»Also, Herrschaften. Dann fange ich mal von vorne an. Das Opfer, männlich, etwa Ende fünfzig, war nach einem heftigen Schlag mit einem flachen, metallenen Gegenstand sofort wehrlos. Dieser Schlag zerschmetterte den zweiten Halswirbel, sodass sofort eine Querschnittslähmung eintrat. Auffällig ist, dass sich am Wirbelkörper Einkerbungen zeigen, was dafür spricht, dass der Gegenstand scharfe Zacken hatte. Doch dazu noch später. Dieser Mann muss sofort zusammengesackt und wehrlos auf dem harten Boden aufgeschlagen sein. Dafür spricht eine stumpfe Verletzung am Hinterkopf, in der wir Partikel des Pflasters von der Brücke fanden. Ob das Opfer dadurch bewusstlos war, kann nicht mehr geklärt werden. Wir nehmen an, dass er mit dem Rücken auf den Boden fiel und der Kopf dann hart auf dem Steinboden aufschlug, was sehr für einen Bewusstseinsverlust spricht.

Anschließend durchtrennte der Täter die Halsschlagader auf der linken Seite. Er wartete aber nicht, bis sein Opfer so viel Blut verlor, dass er daran starb, sondern er machte sich sofort an die übrigen Verstümmelungen. Letztlich ist der Mann zwar an Blutverlust gestorben, aber nicht wegen des Schnitts durch die Halsschlagader alleine. Sonst hätte ich vor Ort dort eine größere Blutlache finden müssen. Blut war aber praktisch überall. Also, der Täter muss anschließend mit einem extrem scharfen Gegenstand brutal von vorne auf die Sehnen und die Muskulatur im Hüftbereich eingeschlagen haben, also genauer auf die oberen Oberschenkelmuskeln, sodass diese durchtrennt wurden. Dann hat er die Kapsel des Hüftgelenkes angeschnitten. Danach bog er dem Opfer, das jetzt auf dem Bauch gelegen haben muss, die Beine mit brachialer Kraft so nach hinten, dass die Hüftköpfe aus den Pfannen sprangen und die Kapseln vollständig aufplatzten. Das kostet erhebliche Kraft, sodass ich jedenfalls eine durchschnittliche Frau als Täter ausschließen möchte.«

»Warum macht der so was?«

»Mmhh. Da müssen wir wohl noch einen Forensiker hinzuziehen, der sich mit Täterpsychologie bestens auskennt. Also ich meine einen Profiler, wie das jetzt heißt. Ich kann mir nur vorstellen, dass er dem Opfer genau an diesen Stellen heftigen Schmerz zufügen wollte. Er wollte sagen, da soll es dir am meisten weh tun.«

»Vielleicht wurde ihm da früher sehr weh getan?«

»Ja, genau, Frau de Fries. Das ist wohl ein richtiger Ansatzpunkt. Machen wir aber weiter. Er hat dann die Leiche, also zu diesem Zeitpunkt war der Tod ganz sicher eingetreten, mit dem Rücken auf die Beine gelegt. Die Knochen standen nach vorne raus. Aber das haben wir ja gesehen, Herr Schmitt.«

»Leider.«

»Dann ging alles sehr schnell. Er schlitzte die Arme der Länge nach auf und schabte die Gesichtszüge ab. Dafür muss er ebenfalls einen bestimmten Grund gehabt haben. Keinen Sinn macht allerdings, dass er den Unterleib aufschnitt. Das erfolgte ohne Konzept, einfach kreuz und quer. Ich nehme an, dass er sich einfach noch sicher fühlte und aus Wut oder Genugtuung diese tiefen Schnitte vollführte.«

»Und die Waffe? Wir können wohl nicht annehmen, dass er allerlei Besteck dabei hatte!«

»Warum nicht? So etwas gab es schon einmal in London! Aber nein. Ich habe die Schnitte und Wunden genau vermessen. Es war ein schwerer Gegenstand aus Metall. Es war ein sehr scharfer und langer Gegenstand. Eine Seite hatte eine Art Zacken oder Sägezähne, oder wie sie das nennen wollen.«

»Ein Jagdmesser!«

»Nun, es gibt solche Messer für die Jagd. Aber die sind zu klein und zu leicht. Ich habe mich daraufhin im Waffenbereich umgesehen. Für mich kommt nur ein sogenanntes Bowiemesser in Frage.«

»Wie im Wilden Westen?«

»Ja, ja. Aber die werden auch heute noch gerne gekauft. Also das sind fast Schwerter. So ein Messer hat eine Klinge mit etwa 30 Zentimetern Länge, die bis zu sechs Millimeter stark sein kann. Dazu kommt der Griff, also die Dinger sind so um die 40 Zentimeter lang und können über ein Kilo wiegen. Die Klingen sind extrem gehärtet und extrem scharf und spitz. Viele haben am Messerrücken diese typischen Sägezähne. Für mich passt eine solche Waffe perfekt zu allen Verletzungen.

Vor allem der Schlag in den Nacken mit dem Ergebnis eines Wirbelbruches ist für mich mit einer solchen Waffe absolut nachvollziehbar. Die kann man mit voller Wucht einsetzen.«

»Und die kann man einfach so mit sich rumtragen?«

»Hannah, man merkt, dass du bei der Sitte warst. Kann man, wenn’s keiner sieht. Das ist rechtlich eine richtige Grauzone. Aber jetzt fällt es mir ein. Da war doch in der Nacht ein Einbruch in einem Outdoorladen. Der hat sich das Ding vielleicht aus dem Schaufenster geholt. Wir müssen morgen gleich dahin. Was war mit den Laborwerten?«

»Nun, wie ich vermutete. Die Werte weisen auf sehr einseitige Ernährung und Alkoholismus hin. Hohe Leberwerte, so um die 90, hoher Cholesterinspiegel an die 300, erhöhte Harnsäure und so weiter. Weitere Werte sprechen für häufige Infektionen, wie sie bei einem Leben im Freien oft auftreten. Also meine erste Annahme, dass es sich um einen ›Nichtsesshaften‹ handeln könnte, dürfte bestätigt sein. Auch an dem Zustand der Haut kann man erhebliche Mangelerscheinungen ablesen.«

»Kann man die Gesichtszüge rekonstruieren?«

»Das kann man, Frau de Fries. Sogar ziemlich zuverlässig. Das würde aber nur Sinn machen, wenn sie den Täter im Umfeld des Opfers suchen und es deswegen eindeutig identifizieren müssen. Der arme Mann hier kreuzte rein zufällig den Weg dieses Monsters. Das ist meine Meinung.«

»Können Sie uns ein Fazit mit auf den Weg geben?«

»Es ist das Werk eines Psychopathen, der sich wahllos ein Opfer sucht, ein männliches Opfer, um irgendwelche erlebte und nie verarbeitete Traumata abzureagieren und seiner Umwelt dadurch etwas mitzuteilen. Mehr kann nur ein forensisch geschulter Psychologe dazu sagen.«

»Es geht weiter?«

»Wenn so einer einmal angefangen hat, dann können Sie damit rechnen. Hier oder anderswo. Aber es wird passieren.«

»Sie haben Recht, Dr. Rosser. Es dauert oft Jahre, bis solcher Wahnsinn aus dem Täter herausbricht. Latent ist er vorher immer gefährlich. Aber wenn das erste Opfer erledigt ist, dann will er immer mehr.«

»Sie ...«

»Einige Semester Psychologie.«

»Ah. Ich verstehe.«

»Bevor ich es vergesse. Einen ganz wichtigen Aspekt haben wir noch gar nicht angesprochen. Es gibt keine verwertbaren Täterspuren. Keine fremde DNA. Ich vermute, der Täter hat Schutzkleidung und Handschuhe getragen. Da gibt es so gummierte ABC-Schutzanzüge, die man sogar über die Schuhe ziehen kann. Die können sie bei ebay bestellen. Genau so einen muss er getragen haben, weil wir auf dem Pflaster frischen Gummiabrieb gefunden haben, der mit dem Material der Anzüge vergleichbar ist. Kein Wunder, der Täter wird sich hingekniet haben, um die Tathandlungen auszuführen.«

»Das sind keine guten Nachrichten. Ich muss gleich anschließend mit dem Chef reden. Wir müssen uns wegen der Sicherheit in der Stadt gründlich Gedanken machen.«

»Da könnt ihr alles versuchen. Verhindern können wir das nicht.«

Ich widerspreche Hannah nicht.

»Das mag zutreffen. Aber wir sind Organe des Staates. Und niemand darf uns vorwerfen können, dass wir nichts getan haben. Das ist wie mit diesen Terrorgeschichten. Verhindern kannst du es letztendlich nicht. Aber wenn du untätig warst, dann rollt der Kopf!«

»Komm, wir gehen noch in das Café da vorne, ich lade dich ein. Deine Frau sieht es ja nicht.«

Und wieder sehe ich Hannah lächeln.

Als ich auf dem Parkplatz den Wagen aufsperren will, der Schlüsselsender funktioniert mal wieder nicht, fällt mir der Schlüssel aus der Hand und ich hebe ihn vom Boden auf. Als ich mich wieder aufrichten will, legt Hannah ihre Arme um mich und zieht mich kräftig zu sich hin. Bevor ich reagieren kann, ist ihr Mund auf dem meinen. Sie drückt ihre festen Lippen gegen meinen Mund und ich öffne ihn. Gierig schiebt sie ihre Zunge hinein und ich erwidere die Zärtlichkeit.

Wir küssen uns so für Minuten. Ich kann es einfach nicht glauben, aber ich genieße es. Sie zieht mich fester an sich. Meine Hände greifen unter ihr T-Shirt an ihre schmale Taille und ich fühle ihre sanfte Haut. Ich spüre, dass ich sie haben will. Aber mein Verstand sagt nein.

»Hannah, lass jetzt. Das ist nicht der richtige Ort.« Ich glaube nicht, was ich da sage. »Das ist überhaupt nicht richtig, was wir da machen. Wir dürfen das nicht!«

»Warum nicht? Ich will es und du willst es auch. Es kommt die Zeit.«

Mit diesen Worten setzt sie sich auf den Beifahrersitz und tippt wieder in ihr Telefon. Völlig unbeteiligt. Als ob nichts gewesen wäre.

*

Bei Dr. Ruschka im Büro.

»Chef, es könnte ein ernstes Problem geben. Nach allen bisherigen Erkenntnissen müssen wir mit einer weiteren Tat rechnen. Ich muss es so deutlich sagen. Wenn der Täter sich hier aufhält, dann macht er hier weiter. Wenn er herumreist, dann bekommen andere ein Problem, was mich aber auch nicht beruhigt. Wir brauchen Schutz in der Stadt und wir brauchen ein genaues Täterprofil, das wir mit anderen Fällen vergleichen können.«

»Einen Profiler, Schmitt, so etwas?«

»Genau das. Da reicht unsere Ausbildung nicht und unsere Erfahrung auch nicht. Und die Rechtsmedizin ist ebenfalls überfordert.«

In diesem Moment geht die Tür ganz auf und Hannah kommt herein.

»Ich mache das. Ich kann das. Und ich will das machen.«

»Wird jetzt schon an der Tür gelauscht? Frau de Fries?«

»Sie haben das wohl gar nicht bemerkt, Chef, aber Sie waren hier sehr laut und die Tür stand halb offen. Jeder, der am Flur vorbeigegangen ist, konnte Ihr Gespräch hören. Es wird sehr eng, oder? Und da wird man dann laut, ohne es zu bemerken!«

»Ich möchte nicht, dass Hannah das macht, wir brauchen einen Externen.«

»Das sehe ich anders, Schmitt. Das spricht sich rum. Das ist in der gegenwärtigen Situation unklug.«

»Frau de Fries, ich habe von Ihrer Qualifikation gehört. Machen Sie sich an die Arbeit.«

»Chef!«

»Nein, Schmitt, das ist entschieden.«

»Was unternehmen wir in der Stadt?«

»Gute Frage. Wenn wir massiv Streife laufen lassen, dann kommt die Presse und schürt Panik. Wir brauchen Sondereinheiten in Zivil. Und das schnell. Ich regle das.«

*

Das ist der schwierigste Fall in meiner ganzen Laufbahn. Und jetzt passiert mir das mit Hannah auch noch. Ich bin ein Idiot. Ich habe am vergangenen Freitag die Frau geheiratet, nach der ich ewig gesucht hatte und die ich liebe. Und jetzt das. Was zieht mich zu Hannah hin? Klar. Sie ist sehr jung, sehr schön, irrsinnig attraktiv und betörend sinnlich.

Aber Ilse kann da doch locker mithalten. Ganz sicher. Ich denke, es ist diese Verletzlichkeit, die Hannah ausstrahlt, wenn sie einen ansieht mit dem leicht traurigen Gesichtsausdruck. Sie sendet das Signal »hilf mir«, wenn sie ihren Blick auf einen wirft. Dazu kommt ihre kompromisslose Annäherung. Sie braucht kein Spiel, sie will nicht flirten, nicht umworben werden. Sie zeigt, was sie will, und sie nimmt es sich. Sie gibt einem das Gefühl, dass man begehrt wird, dass man sofort bekommt, was ein Mann will.

Herbert reißt mich aus meinen Gedanken.

»Gut, dass du mich gleich ang’rufen hast, wecher dem Einbruch in des Wandergeschäft. Ich bin gleich hin.«

»Äh, ja, und?«

Ich bin noch immer nicht zurück in der Wirklichkeit.

»Da hat nix weiter g’fehlt als a großes Messer.«

»Lass mich raten, ein Bowiemesser!«

»Woher wasst etz du des scho widder.«

»Deswegen hab ich dich dahin geschickt. Wir gehen davon aus, dass so ein Messer die Tatwaffe ist.«

»Leck mich am Arsch. Ka Wunder, dass der so herg’richt war. Der Verkäufer hat mir a gleiches Modell gezeicht. Des sind drümmer Dinger. Ein ›Herbertz Bowie Messer Master Ranger‹. Des Ding iss 40 Zentimeter lang und sauschwer. Des iss wie a glans ...«

»Schwert. Ich weiß. Und hinten hat es so ein Sägeprofil. Richtig?«

»Wolff, du erstaunst mich!«

»Ganz einfach. Der Rechtsmediziner hat alle Verletzungsspuren vermessen und ausgewertet. Für ihn kommt nur so ein Messer in Betracht. Hast du sonst noch was rausfinden können?«

»Bis etz no nix. Ich bin mit der ganzen Nordseite am Hauptmarkt durch. Etz anschließend mach i die Westseit’n, also direkt den Bereich um die Fleischbrück’n.«

»Du machst das schon, Herbert.«

Fleischbrücke

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