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EINLEITUNG Die Erforschung der ersten drei Jahre Christentum als wissenschaftliche Aufgabe

a) Die wichtige Rolle der Apostelgeschichte für die Geschichte des frühen Christentums

Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte enthalten vom Umfang her gut ein Viertel des Neuen Testaments. Sie bieten mehr Text als die echten Paulusbriefe1 und die Johannesschriften2 zusammen. Ihr Autor, den die altkirchliche Tradition irrtümlich mit dem Paulusbegleiter »Lukas« gleichsetzt3, behandelt im zweiten Teil seines Doppelwerks das frühe Christentum und beschreibt die Urkirche von Jerusalem als leuchtendes Vorbild für die Gemeinden seiner Gegenwart. Die Apostelgeschichte galt jahrhundertelang als einzige anerkannte Quelle für die älteste Kirchenhistorie.

b) Kritik am Bild der Apostelgeschichte vom frühen Christentum

Indes bezweifelt die Forschung seit langem den wissenschaftlichen Wert des lukanischen Berichts vom idealen apostolischen Ursprung des Christentums. »Geschichtlich ist eine solche Anfangszeit unmöglich.«4 Damals waren die Christen5 keinesfalls »ein Herz und eine Seele«6, mitnichten »einmütig« beieinander7 und hielten auch nicht an der »Lehre der Apostel«8 fest. Vielmehr traten zur Zeit des Lukas – wie man aus der von diesem komponierten »Abschiedsrede des Paulus« an die Ältesten der Gemeinde von Ephesus9 erschließen kann –, »grausame Wölfe«10 auf, nämlich Männer aus den eigenen Reihen, die »Verkehrtes reden, um die Jünger hinter sich herzuziehen.«11

Angesichts dieser Gefahr ermahnt Lukas in der Form einer idealisierten Erzählung Christen seiner Zeit, am apostolischen Erbe festzuhalten und falschen Propheten zu widerstehen.

Der Altmeister der Lukasforschung, Hans Conzelmann, führt aus, das Gemälde der Apostelgeschichte zeige »große Linien. Es wirkt geschlossen und daher überzeugend. Auch wenn man an Einzelheiten zweifelt, etwa an der Heilkraft des Schattens des Petrus …, bleibt ein starker Eindruck vom Leben der jungen Gemeinschaft. Der Historiker hat aber zu fragen, ob diese Geschlossenheit aus der geschichtlichen Wirklichkeit oder aus der Gestaltungskraft des Autors der Apostelgeschichte entspringt.«12 Conzelmann zieht das Fazit: »Die Erforschung dieses Buches (nämlich der Apostelgeschichte) führt zu dem Ergebnis, daß die Geschichte der Urgemeinde fast unbekannt bleibt. Wohl sind einzelne Ereignisse und – in blassen Umrissen – einige Personen zu erkennen. Aber der Ablauf der Geschichte dieser Gemeinde, ihre Lebensform und Verfassung müssen mühsam und mit nur wenigen sicheren Resultaten rekonstruiert werden.«13

c) Programm und Durchführung der vorliegenden Arbeit

Um den Ablauf der urchristlichen Geschichte geht es im vorliegenden Buch. Es zeigt, was wir über das älteste Christentum – konkret: seine ersten drei Jahre – wirklich wissen. Die Zahl »drei« ergibt sich daraus, dass die Zeit zwischen der Hinrichtung Jesu und der Bekehrung des Paulus ungefähr drei Jahre beträgt.14 Diesen Abschnitt stellt Lukas in Apg 1,1–8,40 dar und lässt ihn mit zwei Geschichten von der erfolgreichen Mission des Philippus außerhalb Jerusalems enden. Davor hatte er von der Flucht des griechischsprachigen Teils der Urgemeinde, den »Hellenisten« um Stephanus, aus Jerusalem berichtet. Paulus war, so Lukas, bei der Steinigung des Stephanus anwesend und mit ihr einverstanden.15 Er wurde anschließend in Jerusalem sogar zum Verfolger16 und reiste im Auftrag des Hohenpriesters nach Damaskus, um dort Christen aufzuspüren.17 Aber kurz vor Erreichen seines Ziels, so Lukas weiter, begegnete ihm der himmlische Jesus.18

Neben der Apostelgeschichte enthalten die echten paulinischen Briefe Nachrichten über die ersten drei Jahre Christentum. Paulus’ Unterweisung im christlichen Glauben beginnt – ungefähr drei Jahre nach Tod und »Auferstehung« Jesu – in Damaskus, dem Ort seiner Verfolgungstätigkeit und Bekehrung. Im Anschluss an seine Bekehrung und einer Reise nach Arabien kehrte er in diese Stadt – Damaskus – zurück, und nicht nach Jerusalem.19 Also hat er in Damaskus Christen verfolgt.

Meine These, dass Paulus in Damaskus in den christlichen Glauben eingeführt worden sei, steht im Gegensatz zu der oft vertretenen Sicht, der ehemalige Verfolger von Christen in Damaskus habe die christliche Lehre erst im syrischen Antiochien näher kennen gelernt.20 Denn dafür fehlt ein Beleg aus den Paulusbriefen.21 Selbst Lukas lässt Paulus erst gegen 40/​41 n. Chr.22, ca. sieben Jahre nach seiner Bekehrung, nach Antiochien reisen und gibt als Dauer seines Aufenthalts nur ein Jahr an.23

Paulus bezieht sich im Ersten Korintherbrief zweimal auf Traditionen, die er an seine Gemeinde weitergegeben hat, und zitiert sie. An anderen Stellen seiner Briefe führt er Überlieferungen an, ohne dies eigens kenntlich zu machen. Diese Traditionen haben historische und theologische Inhalte. Sie bilden die Bausteine für eine neue Sicht der ersten drei Jahre Christentum.

Statt nun, wie weithin üblich, die Angaben der Apostelgeschichte mit denen der Paulusbriefe zu harmonisieren, werde ich die Eigenart dieser Quellen berücksichtigen und beide zunächst für sich untersuchen. Sie enthalten ja, unabhängig voneinander, Informationen über die ersten drei Jahre Christentum.

Kapitel 1 durchleuchtet Apg 1,1–8,40 die eine Quelle für die ersten drei Jahre Christentum, und fragt nach der geschichtlichen Zuverlässigkeit der dort erzählten Begebenheiten. Die historischkritische Bibelauslegung hat erkannt, dass Lukas aus dem Gesichtswinkel einer späteren Zeit schreibt, und auf viel Unhistorisches in der lukanischen Darstellung hingewiesen. Eine sorgfältige Analyse von Apg 1,1–8,40 soll das klären und zugleich ermitteln, an welchen Stellen vielleicht doch historisch brauchbares Material vorliegt.

Kapitel 2 untersucht ausgewählte Abschnitte aus den Paulusbriefen, der anderen Quelle für die ersten drei Jahre Christentum. Hier ist die Ausgangslage anders als bei der Apostelgeschichte, denn Paulus war über weite Strecken selbst Augenzeuge und hatte persönlichen Umgang mit zahlreichen anderen Augenzeugen. Seine Bemerkungen über die ersten drei Jahre Christentum sind daher näher am zu beschreibenden Objekt als die des Lukas. Dieser gibt zwar u. a. »Augenzeugen« als Quellen an24, lässt sich aber in der Darstellung, abgesehen vom zeitlichen Abstand zum Geschehen, nachweislich stark von seiner eigenen Theologie leiten. Daher besteht von vornherein eine größere Aussicht, auf der Basis der von Paulus zitierten Überlieferungen und seiner eigenen Aussagen Zuverlässiges über die ersten drei Jahren Christentum herauszufinden. Doch ziehe ich ergänzend auch die in Apg 1,1–8,40 als zuverlässig erkannten Traditionen über die ersten drei Jahre Christentum heran und befrage zusätzlich die Evangelien des Neuen Testaments nach Material, das zu dem in den Paulusbriefen passt.

Kapitel 3 stellt unter der Überschrift »Jerusalem und Damaskus – zwei Hauptorte der ersten drei Jahre Christentum« das Ergebnis vor: Zeitgleich gab es am Anfang der Kirche eine christliche Gemeinde in Damaskus und eine in Jerusalem, deren Praxis und Glaube sich deutlich voneinander unterschieden. Vor allem die Paulusbriefe erlauben, wichtige Merkmale dieser beiden Gemeinden herauszuarbeiten, ihr gegenseitiges Verhältnis zu klären und so Grunddaten der ersten drei Jahre Kirchengeschichte zu erheben.

Drei Anhänge vertiefen das Thema des Buches. Anhang 1: »Der historische Wert der Apostelgeschichte« schildert die Geschichte der Erforschung der Apostelgeschichte und untersucht den historischen Wert ausgewählter Texte außerhalb von Apg 1–8. Anhang 2: »Zum Missverhältnis zwischen Theologie und Geschichte im lukanischen Doppelwerk und im Alten Testament« schärft den Blick für die theologischen Interessen, die Lukas bei der Darstellung geleitet haben, und überprüft seinen Anspruch, sachgemäß und historisch genau zu berichten.25 Anhang 3: »Abriss einer Pauluschronologie« erläutert zwei heute übliche Methoden, Lebensdaten des Apostels und Abfassungszeiten seiner Briefe zu errechnen.

Die ersten drei Jahre Christentum

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