Читать книгу Lese-/Rechtschreibstörung - Gerd Schulte-Körne - Страница 10
Оглавление5 Woran erkenne ich eine Rechtschreibstörung?
Eine Rechtschreibstörung sollte erst ab Mitte der zweiten Klasse diagnostiziert werden, jedoch lassen sich bereits in der ersten Klasse Hinweise für eine Rechtschreibstörung finden. Diese Anzeichen erlauben, frühzeitig den Bedarf an spezifischen Hilfen und Unterstützung zu erkennen und diese zur Verfügung zu stellen.
Anzeichen für eine Rechtschreibstörung in der ersten Klasse sind z. B. anhaltende Probleme, Laute zu unterscheiden ( Kap. 2) und den Lauten die entsprechenden Grapheme zu zuordnen (z. B. dem Laut /b/ in Ball das Graphem B). Meist gibt es schon Hinweise aus dem Kindergarten, dass Probleme beim Finden von Reimwörtern und Erkennen von Silben bestanden. Insbesondere die fehlende Kenntnis von Buchstaben ist häufig bei Kindern mit einem Risiko für eine Rechtschreibstörung.
Die Rechtschreibstörung tritt ebenso wie die Lesestörung gehäuft familiär auf. Sind ein Elternteil und/oder ein Geschwister von einer Rechtschreibstörung betroffen, so liegt das Risiko für das weitere Kind bei ca. 50–70 % für eine Rechtschreibstörung, wie Zwillingsstudien zeigen.
Beim Schreiben fällt auf, dass die Kinder zum Teil nur einzelne Grapheme und unvollständige Wörter schreiben. Meist stimmt auch die lautliche Entsprechung des Graphems nicht (z. B. das Graphem <d> wird anstatt <t> (Torde) bei dem Wort Torte geschrieben. Oder oft als Wortruine bezeichnete Verschriftlichung von Wörtern, wie z. B. kaszimr für Klassenzimmer, treten auf.
Mit dem Fortbestehen der Rechtschreibprobleme nimmt die Motivation und das Interesse am Schreiben ab. Bei schriftlichen Äußerungen und Textproduktion schreiben die Kinder mit einer Rechtschreibstörung meist weniger, verwenden meist einfache Satzkonstruktionen und haben viele Rechtschreibfehler.
Typische Rechtschreibfehler, die diagnostisch auf eine Rechtschreibstörung hinweisen, gibt es allerdings nicht.
5.1 Hintergrund
Die Rechtschreibfähigkeit entwickelt sich ebenso wie das Lesen in Phasen. Steht zu Beginn des ungestörten Rechtschreibprozesses der systematische Erwerb der Zuordnung der Phoneme zu den Graphemen, erwerben die Kinder in der nächsten Phase Wissen über orthografische Regelmäßigkeiten. Diese Regelmäßigkeiten finden sich z. B. im Wortstamm, der auch Morphem genannt wird. Ein paar Beispiele sollen dies verdeutlichen. Zunächst Beispiele für orthografische Regelmäßigkeiten.
Hierzu gehören das Wissen über häufige (dd) und seltene (vv) Buchstabenkombinationen sowie das Wissen über häufige Positionen von Buchstabenkombinationen (mm in der Wortmitte) im Vergleich zu seltenen Positionen in einem Wort (ff am Wortanfang). Dieses Wissen ist den Kindern meist nicht bewusst, sie erwerben es durch den Kontakt mit dem Schriftsprachmaterial, sei es durch eigenes Lesen oder auch durch gemeinsames Lesen und Vorlesen von Texten. Verständlicherweise ist dieses Wissen sprachspezifisch. Ein Beispiel aus dem Englischen verdeutlicht es: die Buchstabenkombination <ght>, wie in dem englischen Wort night, ist sehr häufig, hingegen kommt diese Kombination im Deutschen nicht vor.
Ein Beispiel für ein Morphem, einem sogenannten Stammmorphem, das die Eigenschaft hat, immer gleich geschrieben zu werden, ist <berg>. Abgeleitete Wörter und Wörter mit diesem Wortstamm haben im Wortstamm die gleiche Schreibweise, wie z. B. bergauf, Eisberg, beherbergen, Bergwerk. Dieses Wissen wird im Gegensatz zu dem Häufigkeitswissen von Buchstabenkombination nicht selten bewusst erworben und ist auch Gegenstand von Förderkonzepten bei der Rechtschreibförderung.
Kinder mit einer Rechtschreibstörung, so zeigen erste Studien, haben ein geringeres Häufigkeitswissen von Buchstaben und auch ein geringeres Wissen über Morpheme. Neben diesem orthografischen und morphematischen Wissen ist auch das Wissen über Rechtschreibregeln wichtig, um bei Unsicherheiten in der Rechtschreibung Lösungen zu finden. Auch wenn Regeln, wie beispielweise die Regel »nach einem kurz gesprochenen Selbstlaut (Vokal) folgen immer zwei Mitlaute« (z. B. in Mutter, kurz gesprochenen Vokal /u/, folgende Mitlautkombination <tt>) nicht immer zutrifft, helfen Rechtschreibregeln Kindern mit Rechtschreibproblemen, mit dieser Strategie Wörter richtig zu schreiben.
Seit vielen Jahren wird versucht, anhand der Art der Rechtschreibfehler eine Rechtschreibstörung festzustellen. Eine Annahme hierzu ist, dass z. B. die Vertauschung der Buchstaben b und p, oder g und d aufgrund einer visuellen Diskriminationsschwäche zustande käme und es daher eine visuelle Form der Rechtschreibstörung gäbe. Diese Annahme und weitere zu vermeintlich spezifischen Fehlertypen haben sich nicht bestätigt. Daher ist die qualitative Bewertung von Rechtschreibfehler zur Feststellung einer Rechtschreibstörung nicht geeignet.
5.2 Fallbeispiel
Sebastian ist in der ersten Klasse und hat von Beginn an Schwierigkeiten, die Buchstaben zu unterscheiden und einfache Silben von der Tafel abzuschreiben. Da er auch unruhig ist, seine Konzentrationsspanne gering und er leicht ablenkbar ist, werden diese Schreibschwierigkeiten auf seine Unruhe zurückgeführt. Ab Mitte der ersten Klasse, als ganze Wörter wiederholt und erste Sätze erstmals geschrieben werden, fällt auf, dass Sebastian, obwohl er die Wörter richtig erlesen kann, diese mit vielen Fehlern schreibt. Trotz wiederholtem Abschreiben von Wörtern, eine Übungsempfehlung der Lehrkraft, gelingt es ihm nicht, selbst häufige Wörter richtig zu schreiben. Bei den Fehlern fällt auf, dass Wörter lautgetreu, wie z. B. das Wort farrat, geschrieben werden. Da die Rechtschreibschwierigkeiten bis zum Ende der ersten Klasse bestehen bleiben und Sebastian zunehmend frustriert und verzweifelt ist, da er trotz des vielen Übens mit dem Schreiben nicht zurechtkommt, entscheiden die Eltern, Sebastian untersuchen zu lassen. Die Klassenlehrerin empfiehlt die Schulpsychologin, oder wenn aus zeitlichen Gründen die Schulpsychologin nicht zur Verfügung stehe, dann die niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiaterin um die Diagnostik zu bitten.
5.3 Praxistipps
Liegen Risikofaktoren für eine Rechtschreibstörung vor, z. B. wegen einer familiären Häufung, oder aufgrund von Sprachproblemen (im Kindergarten andauernde Probleme z. B. bei der Lautunterscheidung), sollte die Rechtschreibentwicklung des Kindes genau betrachtet werden. Liegen schon Schwierigkeiten bei der Buchstabenunterscheidung und der Kenntnis einzelner Buchstaben vor, sollte mit der Förderung nicht gewartet werden, bis die Störung so ausgeprägt ist, dass die Diagnose Rechtschreibstörung gestellt wird ( Kap. 9). Förderung ist bereits in der ersten Klasse sinnvoll ( Kap. 12), denn sie kann helfen, dass die Kinder beim Rechtschreiblernen nicht kontinuierlich frustriert werden. Der Verlust der Schreibmotivation ist ein wichtiger Grund, warum manche Kinder kaum Schreiberfahrungen haben, die wiederum für die Rechtschreibentwicklung fehlt.
5.4 Rechtschreibstörung bei Erwachsenen
Jugendliche mit einer Rechtschreibstörung leiden auch oft noch als Erwachsene unter den Rechtschreibproblemen und ihren Folgen. Hierzu gehört die Angst, etwas falsch zu schreiben oder sich nicht angemessen schriftlich auszudrücken. Belastende Situationen entstehen im Alltag, z. B. bei Behördengängen, bei denen unter Aufsicht ein Formular ausgefüllt werden muss. Ein anderes Beispiel ist die Berufsausbildung oder Studium. Sowohl in der Berufsschule als auch im Seminar im Studium löst bereits der Gedanke daran, man könnte aufgefordert werden, etwas an die Flipchart oder Tafel zu schreiben, große Angst aus. Im Beruf schildern Betroffene oft belastende Situationen verbunden mit Schreibaufforderungen, denen sie nicht ausweichen können, z. B. in der Firma beim Schreiben von Auftragslisten oder das Protokollieren von Gesprächsverläufen. Aufgrund der oft bestehenden Angst vor solchen Situationen entwickeln manche Betroffene vermeidendes Verhalten, sind an Tagen krank, an denen sie befürchten, dass sie in unangenehme Schreibsituationen kommen könnten.
Konflikte entstehen auch in der Partnerschaft, wenn nicht offen über die eigenen Rechtschreibprobleme gesprochen werden kann, sei es aus Scham oder der Befürchtung, als dumm abgelehnt zu werden. Denn vielfach wird in der Gesellschaft ein schlechtes Rechtschreibniveau noch mit mangelnder Begabung gleichgesetzt ( Kap. 14.6).