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3 Woran erkenne ich eine Lesestörung?

Eine Lesestörung sollte erst ab Mitte der zweiten Klasse diagnostiziert werden, aber bereits in der ersten Klasse lassen sich Hinweise für eine Lesestörung finden. Diese Anzeichen erlauben, bereits frühzeitig den Bedarf an spezifischen Hilfen und Unterstützung zu erkennen.

Zu den wichtigsten Zeichen einer Lesestörung gehört eine deutlich verlangsamte Lesegeschwindigkeit und viele Lesefehler. Die Lesegeschwindigkeit ist so verlangsamt, dass einzelne Wörter, vor allem längere Wörter und Wörter, die selten vorkommen, nicht erlesen oder nur in Teilen gelesen werden. Dabei kann man beobachten, wie das Kind einen Teil des Wortes vorliest, meist den Anlaut (Beginn des Wortes) und dann mühsam versucht, den Rest des Wortes zu ergänzen. Manchmal versuchen die Kinder das Wort zu erraten, wenn sie es gar nicht entschlüsseln können. Insgesamt ist der Leseprozess extrem anstrengend für das Kind. Die Folge dieses verlangsamten und meist fehlerhaften Prozesses ist, dass das Kind den Satz und Text meist nicht oder nur unvollständig versteht und die Motivation am Lesen verliert.

Erste Anzeichen können aber auch Kopf- und Bauchschmerzen des Kindes am Morgen eines Schultages sein, die besonders dann auftreten, wenn das Fach Deutsch auf dem Stundenplan steht. Diese Symptome sind meist nicht Folge einer Magen-Darmerkrankung oder einer kindlichen Migräne, sondern unspezifische Zeichen einer Überforderung, der das Kind (unbewusst) ausweichen will.

3.1 Hintergrund

Zeichen einer Lesestörung zu erkennen setzt voraus, dass die unbeeinträchtigte Leseentwicklung bekannt ist. Diese verläuft in Entwicklungsstufen und ist abhängig von der Unterrichtung, den individuellen Ressourcen und Fähigkeiten des Kindes und der Unterstützung beim Lernen. Das Lesenlernen beginnt bereits mit der Entwicklung der Vorläuferfertigkeiten ( Tab. 3.1). Hierzu gehören die sprachlichen Fertigkeiten, wie z. B. Laute unterscheiden, Laute verbinden, Laute aus dem Gedächtnis abrufen ( Tab. 3.1). Sind diese Fertigkeiten zur Einschulung nicht vorhanden, ist der Prozess des Lesenlernens meist erschwert. Denn dieser setzt die richtige Zuordnung des Buchstabens zum Laut voraus. Dazu erlernen die Kinder die einzelnen Buchstaben und müssen diese unterscheiden können. Entscheidend für den erfolgreichen Leseprozess ist aber die Zuordnung des Buchstabens zu seiner lautlichen Entsprechung. Und dies ist nicht immer einfach. Schwierig wird es, wenn mehrere Buchstaben zusammen eine lautliche Entsprechung haben, z. B. die Buchstabenfolge sch wird nur mit einem Laut /sch/ ausgesprochen. Da also mehr als ein Buchstabe einem Laut zugeordnet werden kann, spricht man von der Graphem-Phonem-Zuordnung. Der Begriff Graphem steht für einen oder mehrere Buchstaben. Auch bei den Lauten, die auch Phone genannt werden, ist es wichtig zu unterscheiden, ob die unterschiedlich klingenden Laute (z. B. verschiedene Laute des [a]) zu einem Bedeutungsunterschied führen. Dies sei an den folgenden Beispielen verdeutlicht: der Laut /r/ wird als Zungenspitzen-r und als Zäpfchen-r artikuliert, führt aber nicht zu einem Bedeutungsunterschied. Man spricht von zwei verschiedenen Lauten (Phone). Bei dem Beispiel »lahm« – »Lamm« handelt es sich auch um zwei verschiedene Laute des /a/ (kurz und lang gesprochen), diese haben aber einen Bedeutungsunterschied zur Folge, daher werden sie Phoneme genannt.

Erste Anzeichen für eine Lesestörung können daher schon ausgeprägte Probleme bei der Zuordnung von Graphem zu Phonem in der ersten Klasse sein. Ein weiteres Anzeichen ist die Schwierigkeit, Laute zu einem Wort zu verbinden. Ist dieser Prozess beeinträchtigt, gelingt es zwar einzelne Laute (wie z. B. [a]) oder Lautverbindungen (wie z. B. den Anlaut [ba]) auszusprechen, aber die Verbindung mit den nächsten Lauten, wie z. B. bei dem Wort

Tab. 3.1: Sprachliche Vorläuferfertigkeiten und Beispielaufgaben zur Überprüfung


VorläuferfertigkeitenBeispielaufgaben

Bagger, gelingt nicht. Das Auslassen einzelner Laute kann ebenfalls ein Zeichen für eine Lesestörung sein, wie z. B. bei Rutsche (fälschlicherweise als Rute gelesen).

Neben dem Prozess des Zuordnens von Graphem zu Phonem und der Verbindung der Phoneme zu einem Wort können Kinder durch ihre Erfahrungen mit dem Sehen und Lesen von Texten einen Wortspeicher aufbauen, in dem häufig vorkommende Buchstabenkombinationen und Wörter bzw. Wortteile abgespeichert werden. Wie umfangreich das gespeicherte Wortmaterial ist und wie schnell der Abruf des gespeicherten Wissens aus dem Gedächtnis erfolgt, hängt unter anderem von dem Umfang und der Dauer des Lesens von Wortmaterial ab. Bei Kindern mit einer Lesestörung ist dieser Wortspeicher jedoch nicht so gut ausgebildet, bedingt durch die geringe Leseerfahrung und möglicherweise auch durch anlagebedingte Faktoren. Beim Lesen fällt daher auf, dass die Kinder selbst häufig präsentierte Wörter (wie z. B. »und, oder, der, die, das«) nicht richtig lesen bzw. ein- und dasselbe Wort in einem Text unterschiedlich falsch lesen.

Weitere Anzeichen einer Lesestörung sind abnehmendes Interesse und Spaß am Lesen. Auch im Alltag vermeiden die Kinder, Dinge zu lesen und fragen eher nach, was auf dem Schild, der Verpackung oder in der WhatsApp-Nachricht steht.

Da die fehlende Lesepraxis verbunden mit geringer werdender Motivation zum Lesen und geringem schulischen Fortschritt im Lesen zusammen sich nachteilig auf die gesamte Leseentwicklung auswirken, entwickeln manche Kinder, wenn diese Problematik nicht erkannt und nicht gegengesteuert wird, psychische Symptome. Die häufigsten sind Ängste, spezifisch vor dem Fach Deutsch und den Leistungsanforderungen in diesem Fach. Diese Ängste drücken sich in morgendlichen Beschwerden, wie starke Kopfschmerzen oder akute Bauchschmerzen aus, wie das nachfolgende Fallbeispiel beschreibt.

3.2 Fallbeispiel

Martin ist in der zweiten Klasse. Er ist der älteste von drei Kindern, sein Vater hatte als Kind eine ausgeprägte Lesestörung, Martin selbst war bisher in der Schule wegen Leistungsproblemen nicht aufgefallen. Die Eltern berichten, dass Martin eines morgens über so starke Bauchschmerzen klagte, dass er erst gar nicht aufstehen konnte. Aufgrund der starken Beschwerden fahren die Eltern mit Martin zum Kinderarzt, der Martin gründlich untersucht. Der Verdacht, dass es eine Blinddarmentzündung sein könnte, bestätigte sich nicht. Mit einer Schmerztablette und dem Rat, falls es wieder auftreten sollte, Martin nochmals vorzustellen, kehren die Eltern mit Martin heim. An den darauffolgenden Tagen ging Martin wieder zur Schule, Bauchschmerzen traten nicht wieder auf. Eine Woche später, am selben Wochentag, traten wieder die Bauchschmerzen auf und Martin wurde erneut gründlich vom Kinderarzt untersucht. Dies wiederholte sich fünfmal, bis die Eltern einen Anruf von der Klassenleitung bekam, die auch Deutschlehrerin ist, die berichtete, dass Martin immer an dem Tag, an dem er eine Doppelstunde Deutsch habe, nicht in die Schule kommt. Er hätte auch kürzlich einen Test deswegen verpasst. In dem darauffolgenden Gespräch mit der Klassenlehrerin berichten die Eltern, dass Martin in den letzten Wochen zusätzlich zu den Bauchschmerzen auch kaum Lust gehabt habe, die Hausaufgaben zu machen. Diese würde zum Teil mehrere Stunden dauern. Die Deutschlehrerin berichtet, dass ihr aufgefallen sei, dass Martin sich mit dem Lesen schwertue. Wenn sie ihn auffordere, einen Satz aus der Fibel laut vorzulesen, würde er sehr erschreckt reagieren, manchmal einen roten Kopf bekommen und nur sehr holprig vorlesen. Sie hätte bisher gedacht, dass sich dies schon legen und Martin sich mit der Zeit auch verbessern würde, denn in den anderen schulischen Bereichen sei er sehr gut. Sie empfiehlt Martin und seinen Eltern, eine Untersuchung durchzuführen, ob vielleicht eine Lesestörung vorliege oder um zu klären, ob es andere Ursachen für die Leseprobleme gäbe.

3.3 Praxistipps

Liegen Anzeichen für eine Lesestörung vor, sollte mit einer Diagnostik ( Kap. 7) nicht gewartet werden. Das Ziel der Diagnostik ist, herauszuarbeiten, ob es sich nur um vorübergehende Schwierigkeiten beim Lesen handelt oder eine Lesestörung vorliegt. Außerdem können die Ergebnisse der Diagnostik die Basis für wichtige Empfehlungen zur Förderung beim Lesen darstellen.

Stehen körperliche Symptome im Vordergrund, wie Bauch- und Kopfschmerzen, ist nach einer gründlichen Untersuchung beim Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, bei der möglicherweise keine organischen Ursachen festgestellt werden, die kinder- und jugendpsychiatrische Untersuchung notwendig.

Bestätigen die Anzeichen das Vorliegen einer Lesestörung, sollte zeitnah das Kind entsprechend seiner Probleme im Lesen gefördert werden ( Kap. 12).

Lese-/Rechtschreibstörung

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