Читать книгу Der grüne Pfad hat nie ein Ende - Gerhard Böttger - Страница 10

Ein besonderer Elbmarschbock

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Der große Strom fasziniert immer; bringt die Elbe nicht ein Stück historische und gleichzeitig höchst lebendige Geschichte mit sich, leiten ihre flutenden Wellen unsere Gedanken und Sehnsüchte nicht in die Ferne, spüren wir nicht gleichzeitig die Erdverbundenheit an ihren Ufern? Zudem ist das Eintauchen in die Naturlebensräume an ihren Gestaden immer ein besonderes Geschenk für den Naturfreund.

Ein solcher war und ist Simon, gleichzeitig Hobby-Ornithologe, vom Jugendjagdschein an passionierter und trotzdem eher zurückhaltender Jäger, der weniger die Treibjagd als die einsame Pirsch liebt und deswegen unter den ihn sonst durchaus schätzenden Weidgenossen ein wenig als elegischer Sonderling gilt. Simon stört das nicht, so viele unendlich kostbare Stunden hat ihm die Elbregion und das Revier seines Onkels schon geschenkt. Dieser hatte wenig Zeit, hielt die Pacht auch mehr aus Geltungssucht denn aus Passion und sah es nicht ungern, wenn sein Neffe einen Großteil des Rehwild-Abschusses „erledigte“, allein aus diesem ihm geläufigen und immer wieder gebrauchten Ausdruck war sein Verhältnis zum Wild schon abzulesen.

Wieder einmal wanderte Simon auf dem Elbdeich zwischen Tespe und Marschacht stromabwärts. Ein dunkler Punkt in der Luft, ein größerer Vogel strich heran. Im hochgenommenen Fernglas wurde er schnell größer und größer. Welch eine Flügelspannweite! Der gelbe, mächtige Schnabel fiel schon von weitem auf, dann der keilförmige helle Stoß. Ein ausgewachsener Seeadler, wann sieht man ihn schon mal so nah und kann ihn in allen Einzelheiten beobachten! Fasziniert folgte er dem majestätischen Aar mit den Blicken und freute sich über die positive Entwicklung seines Vorkommens.

Simon hielt die Augen weiter auf, in der Elbmarsch ist nicht jede Ente eine Stockente, nicht jeder Greif ein Mäusebussard, nicht jeder Piepmatz eine Amsel oder eine Kohlmeise, wobei er gegen diese häufigen Arten absolut nichts hatte und sich an ihrem Dasein erfreute.

Er wanderte ein Stückchen in die Feldmark hinein, wo es immer etwas zu beobachten gab. Besonders gute Einblicke bekam er in das Leben und Treiben des Neuntöters, der in dem Stückchen Weißdornhecke, das einen großen Rapsschlag begrenzte, den Mittelpunkt seines Territoriums hatte. Sowohl das schön gezeichnete Männchen mit dem kastanienbraunen Rücken, blaugrauen Scheitel und Bürzel und dem schwarzen Gesichtsstreifen als auch das oberseits matt rotbraune, unten gelbbräunlich gefärbte Weibchen mit der gebänderten Brust bekam er dort regelmäßig in Anblick. Allzu lange konnten sie aus ihrem afrikanischen oder südasiatischen Winterquartier noch nicht zurück sein, vielleicht erst vier Wochen. Jetzt war es Ende Mai, und die beiden waren erkennbar beim Nestbau, immer wieder sah er sie mit einem Halm, einem kleinen Zweig, einer Wurzel oder einem Stückchen Moos im größten Dornenbusch verschwinden.

Dabei fielen ihm die Weißstörche ein, die er im April bei den Ausbesserungsarbeiten an ihrem großvolumigen Horst beobachtet hatte. Jetzt fütterten sie schon ihre ewig hungrigen Jungen!

Im Landkreis Harburg wurden im Jahr 2017 die meisten Weißstörche seit Jahrzehnten gezählt: Aus 37 Nestern, fünf davon waren Neuansiedlungen, klapperten die Brutpaare in die weite Landschaft und zogen insgesamt 77 Junge auf.

„Wir wollen hoffen, dass Meister Adebar sich weiterhin wohl fühlt bei uns und dass nicht noch mehr Grünland dem Maisanbau zum Opfer fällt“, dachte Simon und beschloss, eine kleine Pause einzulegen. Gerade sinnierte er herum, sich jetzt „eine Weile von innen zu betrachten“, da hörte er den sausenden Schwingenschlag eines Trupps Höckerschwäne, die nahe über seinen Kopf hinwegstrichen. „Die Augenpflege muss ich verschieben“, seufzte er dann, das laute Spektakeln der Kanadagänse vom Kanal, hörte nicht auf und ließ sowieso keine Ruhe aufkommen.

Ein Abschiedsblick zum rüttelnden Rotrückigen Würger, und dann setzte er seinen Weg fort.

„Moin, moin“, erwiderte er den lachenden Gruß eines Fahrradfahrers, der sein um den Hals hängendes Fernglas anlupfte, um sich als Beobachter zu solidarisieren.

Vierzehn Tage später zeigte sich das Neuntöter-Weibchen nicht mehr. Wahrscheinlich war das mit Haaren ausgepolsterte Nest fertig und es bebrütete bereits die drei bis sieben rosafarbenen, braun gefleckten Eier. Das Männchen ließ dort seinen Reviergesang, ein anhaltendes Zwitschern mit eingestreuten Imitationen anderer Vogelstimmen erschallen.

Simon streifte dann noch durch den Niedermarschachter Werder, es schien ein Tag zu sein, an dem die Elbmarsch ihren Artenreichtum in der Vogelwelt auch präsentieren wollte. Er freute sich über den Anblick von Fischreihern, mehreren Silberreihern und Weißstörchen, über das im Tiefflug das Schilfgebiet absuchende silbergraue Kornweihenmännchen, über Tafel-, Krick- und Löffelenten, Grau- und Kanadagänse sowie den aus den Buschinseln zu hörenden Gesang von Nachtigall, Mönchsgrasmücke und Zaunkönig.

An den Bracks kamen Ringeltauben und ein Pärchen Türkentauben zur Tränke, Mehl-, Rauch- und auch Uferschwalben nahmen hier gern ein Bad, Bachstelzen widmeten sich am Ufer dem Insektenfang, Stockenten liebten die Sonneneinstrahlung am schräg aufsteigenden Ufer, und eine Reiherente behütete ihre wohl gerade erst geschlüpfte Jungenschar.

Eine Erlenanpflanzung zeigte sich noch niedrig, aber dicht und grün in satten Farben, als Simon sich vorsichtig näherte, um mit dem Fernglas nach gefiederten Besuchern zu spähen.

Ein gelber, unruhiger Fleck am kahlen Gewässerrand – eine Schafstelze diesmal und nicht die oft anzutreffende schwarzweiße Verwandte, der Wippsteert (der plattdeutsche Ausdruck für Bachstelze). Aber rechts hinten war noch mehr Bewegung. Ständige Bewegung! Vier nur starengroße, auf den ersten Blick als Wasser- und Strandläufer anzusprechende Federbälle trippelten dort emsig hin und her, wippten unentwegt mit Schwanz und Kopf, stießen gedankenschnell mit dem spitzen Schnabel nach einem Insekt, einer Schnecke oder einem Wurm am Ufer, einer Kaulquappe, Insektenlarve oder einem Rückenschwimmer im seichten Wasser und eilten schon wieder hurtig weiter, wobei die schneeweiße Unterseite aufblitzte. Die undeutliche Fleckung an den Brustseiten und die dunkelbraune Oberseite war klar im Glas zu beobachten. Diese unruhigen Geister hätten noch eher als die Bachstelze den Namen Wippsteert verdient! Simon wusste längst, wen er vor sich hatte – Flussuferläufer, die, wenn man sie überrascht, so schnell weg sind, dass der Unkundige sich fragt, was da wohl eben so blitzschnell abgestrichen ist.

Die Bekassine, nicht umsonst nennt man sie auch Himmelsziege, ließ ihr Meckern hören, Simon hatte nichts zu meckern, er hatte wunderbare Beobachtungen gemacht.

Der Frühsommer lag mit hohen Wärmegraden über der Elbregion, vereinzelt suchten mutige Badende schon Abkühlung in den Elbefluten, als Simon sich mal wieder mit dem Fahrrad zwischen Elbstorf und Drage der dortigen Kleientnahmestelle mit ihren Flachwasserbiotopen näherte.

Als er einmal zu den Hausdächern von Drennhausen hinüberschaute, fielen ihm zwei kreisende Greife auf, die unmittelbar darauf hinter einem Weidendickicht zu Boden gingen.

Der Vogelkenner hatte schon eine Vermutung, aber er wollte sich vergewissern und trat entschlossen in die Pedale. Ja, es waren zwei rostfarbene Rotmilane mit ihrem tief gegabelten Schwanz, die sich dort von einer Mahlzeit erhoben: Im Graben neben dem Weg lagen die Reste eines Marderhundes, wer weiß, wie er zu Tode gekommen war. Der Neubürger erobert sich kontinuierlich neue, zusagende Lebensräume.

Die beiden Milane legten eine Ehrenrunde ein, während Simon weiterfuhr und sich wieder anderen Beobachtungen widmete. Sein Rad stellte er bald darauf an der Straße ab und pirschte vorsichtig los. Eine bestimmte Hoffnung kreiste in seinen Gedanken, eine Hoffnung, die bisher noch niemals erfüllt worden war …

So hielt er seine Augen offen und achtete besonders auf die Kleinvogelwelt in den verstreuten Buschgruppen rings um die von vielen Vogelarten belebten Gewässer.

Eine weiße Feder schwebte mit dem Westwind heran und blieb an einem skurrilen Baumstumpf hängen, dessen Ähnlichkeit mit einem Altmännergesicht Simon staunend und lächelnd bewunderte. Die Natur ist ein Künstler! Als er seine Blicke wieder erhob, fiel ihm eine Bewegung in den dahinter wuchernden Weißdornbüschen auf. Schnell nahm er das Glas an die Augen, und die Optik fing einen kleinen Singvogel ein, der gerade zu Boden flatterte, um sich sofort wieder, wenn auch nur für Sekunden, auf einem freien Ast zu präsentieren. Simon verschlug es fast den Atem! Nach dieser Art hatte er seit zwei Jahren „gefahndet“ und gehofft, sie hier zu sehen! Welch ein bunter, prächtiger Anblick, dieses Blaukehlchen! Der leuchtende Kehlfleck war durch ein schwarzes und rotbraunes Band vom hellen Bauchgefieder abgesetzt. Auch den weißen Fleck in dem wunderbaren Blau der Kehle sah Simon genau. Es war ein Weißsterniges Blaukehlchen, und als ihm der Name durch den Kopf ging, dachte er glücklich: „Jetzt habe ich meinen Stern gefunden, den Stern der Elbmarsch!“

Fast eine Stunde blieb er am Boden auf dem trockenen Altgras hocken und konnte sich noch mehrere Male an dem schönen, seltenen Anblick erfreuen. Das Weibchen sah er nicht und vermutete, dass es dem Brutgeschäfte oblag. Unendliche Möglichkeiten des versteckten Nestbaus gab es hier in den sumpfigen Dickichten und Weidichten und in den Ufergebüschen der verstreut liegenden Teiche. Einmal hörte er auch den Warnruf des Männchens, das scharf hervorgestoßene „Tack, tack!“ Simon lächelte darüber und sprach den kleinen Revierwächter an: „Der plumpe Mäusebussard wird dir doch nichts tun!“

Langsam schob er sein Fahrrad zum Weg zurück und schwang sich wieder in den Sattel. Die Mittagshitze stand über dem Land, und er freute sich auf die schattige Sitzbank in seinem Garten zu Hause und auf ein kühles Getränk. Als er das Rapsfeld wieder passierte, fielen ihm plötzlich hell leuchtende Stellen an einigen Randbüschen auf. Wo hatte er nur seine Augen gehabt? Ja, er war von der anderen Seite gekommen, hatte sich auf den Neuntöter konzentriert und diese Markierungen, diese Fegestellen, glatt übersehen. Da, das war doch der Warnruf des kleinen Krummschnabels, dieses krächzende „Gäck!“, und da sah er ihn schon, wie er über dem Halmenmeer der Ölfrucht kurz rüttelte, hin- und herflog und dann wieder in seiner Weißdornburg verschwand. Da war doch eine Bewegung, hatte er sich über eine Störung in seinem Brutrevier aufgeregt?

Simon hob sein Glas an die Augen und nahm die zimmergroße Fläche in die Optik, wo die Fahrspur die halb am Boden liegenden dichten Halme durchschnitt – und wo jetzt plötzlich das Haupt eines Rehbockes auftauchte! Misstrauisch äugten dunkle Lichter in die Runde, ein Windfang prüfte den Lufthauch, und dann nahm der Bock das Haupt wieder herunter, um noch weiter in das bergende und schützende Feld hineinzuziehen. Nur noch einmal, ganz kurz, hatte Simon, der sein Fernglas keine Sekunde von den Augen genommen hatte, diesen Anblick. Nein, er hatte sich nicht getäuscht, dieser Bock, den keiner hier vermutet hätte, trug ein starkes, reich geperltes und dunkles Sechsergehörn mit hell gefegten Vordersprossen von beachtlicher Länge, er wirkte alt und reif. Den hatte noch keiner gesehen, und Simon spürte abrupt und leicht euphorisch, wie sein Puls das heiße Jägerblut schneller durch den Körper jagte! Er blieb noch ein Viertelstündchen an Ort und Stelle, ohne fest damit zu rechnen, dass dieser Starke sich noch einmal sehen lassen würde. So war es auch, und als er endgültig Richtung Heimat fuhr, grüßte er dankend zum vermuteten „Einstand“ des Neuntöters hinüber, der ihn auf diesen Bock aufmerksam gemacht hatte.

„Onkel, das ist einer für dich, der bleibt bestimmt bis zur Blattzeit im Raps“, beschwor er später den Beständer, denn dass er diesen Starken melden musste, war ihm eine Ehrenpflicht. „Wenn der Schlag erst gemäht ist, ist auch der Bock weg, und wer weiß, wohin er sich umstellt!“

Von seinem „Stern der Elbmarsch“ erzählte er nichts, obwohl doch dieser auch an dem glücklichen Ausdruck in seinem Gesicht beteiligt war. Die Kleinvogelwelt interessierte seinen Onkel weniger, er hielt es mit den Gefiederten, die er auch essen konnte. Von den vielen Enten, dem Dutzend Fasanen und den 15–20 Wildgänsen, die sie jährlich schossen, wurde selten ein Stück verkauft, die blieben in der heimischen Küche oder in verwandten Haushalten. Beim reichlichen Mahle vergaß der alte Jäger fast nie, den Rebhühnern nachzutrauern, die so selten geworden waren, dass die Jagdausübung auf sie eingestellt worden war.

Zwar warf der „olle Willi“ – diesen Spitznamen hatte der Onkel zusammen mit der Zimmerei von seinem Vater geerbt – tatsächlich ein wenig auf, als Simon den starken Bock über alle Maßen pries, aber dann antwortete er schon wieder skeptisch und unlustig: „Da am Raps steht doch gar kein Sitz, soll ich mich da ins Gras legen, oder was?“

Als Simon ihm anbot, dort eine transportable Leiter aufzustellen, sagte er immerhin zu, sich „bei Gelegenheit“ dort mal anzusetzen. Das führte er auch durch, sah zweimal nichts und hatte damit schon wieder die Lust verloren, diesem „Phantasiebock“ nachzustellen, Simon sollte es gefälligst selber versuchen, wahrscheinlich wäre es sowieso einer der „normalen Plöttrigen“.

Sein Neffe nahm das Angebot nun ohne Gewissensbisse an und – sah dreimal nichts, allerdings ließen bei ihm als ornithologisch interessiertem Menschen die vielen Beobachtungen der artenreichen Vogelwelt keine Langeweile aufkommen. Insbesondere das Leben und Treiben der Neuntötereltern, die ohne Rast und Ruh Atzung für die hungrige Brut herantragen mussten, machte ihm viel Freude. Einzelne, vorwüchsige Rapsstengel nutzten die Würger durchaus als Ansitzplätze, von wo aus sie blitzschnell auf Großinsektenjagd stießen. In der Fahrspur gelang es ihnen auch mehrfach, eine Maus zu erbeuten.

Als das grausilberne Kornweihenmännchen über dem Halmendickicht seinen gleitenden Suchflug unterbrach und kurz rüttelte, sah Simon bei seinem nächsten Ansitz schon im Geiste das trutzige Bockhaupt dort auftauchen, aber es blieb eine Wunschvorstellung, an Rehwild hatte er diesmal immerhin ein einsames Schmalreh in Anblick.

So hoffte er auf die bevorstehende Blattzeit und ließ den Revierteil in Ruhe, versäumte aber nicht, in dem wilden Buschgelände auf der Westseite des Rapsschlages seinen transportablen Schirm in einen Weidenbusch einzubauen und sich durch das Entfernen vieler störender Äste das Schussfeld in die kleinen Lücken und Blößen freizuschneiden. So war er auch bei den im Hochsommer durchaus nicht seltenen Ostwindlagen für einen Ansitz gerüstet, davon abgesehen war der junge Jäger erfindungsreich in der freien Pirsch, konnte sich hineindenken in das Wild, und ein heimliches und verstecktes Plätzchen für seinen Ansitzstock fand er immer. Früher als er es eigentlich vorgesehen hatte, musste es dann ernst werden!

„Hast du deinen Kapitalen denn noch mal gesehen?“, empfing ihn der Onkel bei ihrem nächsten Treffen, und sein Lachen entbehrte nicht einer gehörigen Prise Spott. „Nächste Woche am Freitag hat Rieckmann den Mähdrescher und wird seinen Raps mähen, dann ist der Bock weg!“

Oh je! Simons Gedanken überschlugen sich, und seine „grünen Gehirnwindungen“ arbeiteten auf Hochtouren. Doch eigentlich gab es da nichts zu überlegen, er musste raus und sich ansetzen!

Der Julimond ging in sein letztes Drittel, heiß und drückend war es, der sachte Wind aus westlicher Richtung konnte kaum seine schweißnasse Stirn kühlen, als er die paar Stufen der Ansitzleiter emporkletterte und aufatmend seine Büchse rechts neben sich hinstellte. Dunkel und schweigend lag der große Rapsschlag vor ihm. Schon seit Mittag verdeckten dunkle, geballte Wolkengebilde die Sonne und kündeten ein Unwetter an. Nur wenige Stellen gab es in der Frucht, wo überhaupt ein Rehkörper zu sehen wäre. Diese leuchtete Simon bevorzugt mit dem Glase ab. Als er sich gerade eingestehen wollte, dass sein Ansitz hier ziemlich sinnlos war, hatte er plötzlich in seiner Optik, wonach er die ganze Zeit gesucht hatte. Die feuerrote Decke des neulich gesehenen oder eines anderen zartgliedrigen Schmalrehes, schließlich stand im Revier nicht nur eins „von dieser Sorte“, und besondere Merkmale zur individuellen Unterscheidung gab es nicht. Das Stück verschwand wieder im Halmendickicht, und Simon überlegte krampfhaft, ob er blatten sollte oder nicht.

Das Wolkengeschiebe hatte sich verstärkt, und durch die nahende und zusätzlich das Licht mitnehmende Dämmerung zuckte fern der erste Blitz, als er mit schnellem Entschluss den Fieplaut aus seinem Instrument hervorlockte. Mehrfach wiederholte er ihn, blickte gespannt in die Runde, doch es zeigte sich nichts.

Nach zehnminütiger Pause schickte Simon das Begehren der Ricke erneut in die schon unter starken Windstößen sich biegende Halmenburg – und da – da tauchte doch etwas auf aus der gleichförmigen Oberfläche, aus dem Etwas wurde im Glas ein Gehörn, ein starkes Sechsergehörn, und der Oberteil eines Bockhauptes mit dunklen Lichtern und Windfang drehte sich misstrauisch in alle Richtungen. Er war noch da! Doch stand er mittendrin im Schlag – und schon war der Gesuchte wieder verschwunden.

Ein heftiger Donnerschlag verhalf Simon zu der Erkenntnis, dass der Bock bei Büchsenlicht bestimmt nicht mehr austreten würde und er selbst so schnell wie möglich seinen fahrbaren Untersatz aufsuchen sollte! Gedacht, getan, kaum saß er in seinem sicheren „Faraday’schen Käfig“, der ihn vor Blitz und Regenguss schützte, da erlebte er mit leichtem Grausen das schwerste Gewitter, das die Elbmarsch in diesem Jahr heimsuchte.

In der Nacht schlief der junge Weidmann schlecht, verfolgte auch immer wieder das noch vor Mitternacht abziehende Unwetter. Als er ganz früh am nächsten Tag vor die Haustür schaute, zeigte sich gerade erst ein schmaler und heller, sich langsam rötender Schein am östlichen Himmel. Der Wind hatte gedreht und kam aus ostwärtiger Richtung. Damit war sein Plan klar: Ab in den Schirm im Ödland, das Rehwild würde doch wohl hoffentlich den quatschnassen Rapsdschungel heute meiden.

Wenige Minuten vor dem Heraufziehen des vollen Büchsenlichtes richtete er sich in seinem versteckten Plätzchen in dem Weidenbusch ein, war froh, das so vorbereitet zu haben und fühlte jetzt die Spannung und die Vorfreude auf einen ungestörten Blattzeitmorgen. Immer wieder sah er im Geiste das trutzige Bockhaupt vor sich und hoffte, nun auch mal den ganzen dazugehörigen Bock in Anblick zu bekommen.

Das Vogelleben erwachte, ein Mäusebussard zog über ihm seine Kreise, Ringeltauben und Amseln flogen auf erster Nahrungssuche hin und her, eine Goldammer versicherte ihm, wie lieb sie ihn habe, und das kecke Mönchsgrasmückenpärchen, schwarz und braun behütet, schlüpfte durch den Unterwuchs. Simon dachte an seinen „Stern der Elbmarsch“, das von ihm endlich entdeckte Blaukehlchen, und nahm sich vor, in den nächsten Tagen unbedingt einmal nach ihm zu schauen. Ein vorbeibockelnder Mümmelmann lenkte seine Sinne dann wieder auf das hier heimische Wild, und er kramte in seiner Jackentasche nach dem Rehwildblatter.

Zart und trotzdem durchdringend schwangen sich die Locklaute in das reingewaschene und von Millionen Regentropfen geschmückte, fast nur die Farbe Grün zeigende sogenannte „Unland“, das doch in Wirklichkeit so viele Klein- und Kleinstlebensräume barg.

Zwar umzogen noch einige leichte Nebelschleier die Buschinseln und lagen auch über dem Raps, doch die Sicht war jetzt so gut, dass der Jäger auch die kleinste Bewegung in seinem Umfeld mitbekommen musste. Simon spürte, wie die von ihm selbst nachgeahmten Fieplaute der Ricke sein sowieso schon vorhandenes Jagdfieber noch steigerten. Doch es rührte sich nichts, auch bei der nächsten Wiederholung zog nur der Mäusebussard seine Kreise enger über seinem Blattstand, was so mancher Jäger schon erlebt haben wird. Simon bedauerte schon, an dieser Stelle keine Leiter aufgestellt zu haben, die ihm einen Blick in die Lagerstellen des Rapsschlages ermöglicht hätte. Gerade stellte er sich vor, wie dort der Bock sein Schmalreh in Hexenringen und Achten trieb, und schaute sehnsüchtig gegen das von seiner Position nicht einsehbare Feld.

Als er den Kopf wieder nach vorne wandte, traute er plötzlich seinen Augen nicht! Brennend dunkelrot und glatt stand dort auf weite Schrotschussentfernung plötzlich ein starker Rehrumpf in einem Schopf von hochgewachsenen Goldruten, das Haupt hinter einem dicht belaubten Gebüsch nicht zu sehen. Völlig regungslos verharrte das Stück. Der Figur nach musste das unbedingt ein Bock sein. Aber war es auch der Starke?

„Welcher sonst“, flüsterte ihm der grüne Versucher ins Ohr, „kein anderer wird es wagen, hier den Hausherren zu provozieren, schieß!“

Simon ließ sich aber nur so weit verleiten, die Büchse „schon mal“ ins Gesicht zu nehmen. Das war richtig, denn jetzt kam Bewegung in die Statue da vorne, ein paar Schritte zog das Stück nach vorne, und bei einem trotzigen und misstrauischen Aufwerfen erkannte der junge Jäger die massigen Sechserstangen zwischen den Lauschern, die ihm schon so oft im Traum erschienen waren. Er suchte nicht mehr lange nach einer Auflage, der schwarze Zielstachel fand die bewusste Stelle direkt hinter dem Blatt, und das todbringende Blei warf den Bock in die Stauden, noch bevor der Schussknall in der Weite der Wiesen und Felder verhallte – er war einfach weg, keine einzige Abflucht war mehr zu beobachten.

Simon blieb noch in Bereitschaft, aber nach diesen höchst aufregenden Minuten fühlte er doch schon langsam das Glücksgefühl des Erfolges in seiner Brust aufsteigen. Er war sich sicher, schritt nach nur wenigen Minuten Wartezeit zum genau zu lokalisierenden Anschuss, wo ihm auf den grünen Blättern unter goldgelben Blüten hellroter Lungenschweiß entgegenleuchtete. Drei Schritte weiter lag der Beherrscher dieses Revieres, der hier unerkannt mindestens fünf oder sechs Sommer gesehen und ein reiches Bockleben hinter sich gebracht hatte.

Auf dem kräftigen, kurz erscheinenden Träger trug er ein gleichmäßig grauschwarz sich zeigendes Haupt – und welch starke Zier, eine echte Krone, schön dunkelbraun gefärbt, massig und hoch die Stangen auf dicken Rosen, mit wenigen, aber starken Perlen geschmückt, die Enden lang und beinern gefegt. „Mein Lebensbock?“, fuhr es dem lange, lange die Totenwacht haltenden Jäger durch den Sinn. Dann brach er den Bock auf und streckte ihn neben dem Schirm auf dem Rasenbett, sah sich nach gerechten Brüchen um, schmückte seinen Hut und versah seine Beute mit dem letzten Bissen und Inbesitznahmebruch.

Die dunklen Blätter der Erle ließen die hirschrote Decke seiner Beute besonders kontrastreich zur Geltung kommen. Simon konnte es danach nicht lassen, ließ sich noch einmal auf dem einfachen Brett des Sitzes nieder und hielt eine zweite Wacht an dem Bock, den der Neuntöter in der vermeintlich sicheren Deckung des Rapsschlages ihm verraten und dem er seitdem sein ganzes Denken und Fühlen gewidmet hatte.


Der Elbmarscher prahlt zwischen zwei geringeren, aber sehr alten Böcken.

Der grüne Pfad hat nie ein Ende

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