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Tausend Jahre Adelskronen und Hirschkronen – der Sechzehnender vom Karrenberg
ОглавлениеIm Jahre 1995 wurde mancherorten im schönen Bundesland Mecklenburg das tausendjährige Bestehen gefeiert. Ein Jahrtausend – welch ein Zeitraum!
Die Mecklenburger blicken auf eine wechselvolle Geschichte zurück. Die Mecklenburger – wer ist das überhaupt? Die Homogenität eines Volkes gab es zunächst nur vor der Völkerwanderung, als die weitläufige Moränenlandschaft und die Gestade der Ostsee von Germanen bewohnt waren.
Deren Vordringen nach dem Westen und Süden Europas nutzten wendische Stämme (Obotriten und Wilzen), um sich an ihre Stelle zu setzen.
Um das Jahr 600 können wir diese Bewegungen datieren, also gegen das Ende der Völkerwanderung hin. In den weiten Wäldern, in den Brüchen und Mooren, an den zahlreichen Seen und fischreichen Flüssen zogen Wisent und Elch, Hirsch und Sau relativ ungestört ihre Fährten, verfolgt fast nur vom großen Raubwild, denn Bär, Wolf und Luchs fanden hier ebenfalls eine ideale Heimstatt. Der gute Wildbestand war sicher mit ein Grund dafür, dass nicht alle Germanen sich an der großen Abwanderung beteiligten. Hier und da blieben die verstreut und versteckt liegenden Straßendörfer erhalten, von denen die blond- und braunmähnigen Jäger auszogen, um Felle, Decken, Schwarten und Bälge zu erbeuten und das köstliche Wildbret ans heimische Feuer zu schaffen. Wilzen und die von den Awaren aus dem Karpatenkessel vertriebenen Obotriten wiederum, obwohl gleichen Blutes, bekriegten sich gegenseitig aufs heftigste und stritten um die Vormachtstellung im Lande. Die Wilzen siedelten weiter östlich und blickten eifersüchtig auf die neuen, alten Nachbarn mit ihrem grausamen viergesichtigen Gott Svantevit.
Dieser heidnische Götze war dem großen Karl, dem Frankenherrscher, zwar auch ein Dorn im Auge, aber zu seiner Zeit – um 800 – konzentrierte die christliche Kirche ihre Bekehrungsversuche auf die Sachsen; diese zu missionieren war harte Arbeit genug, die Slawen »kamen nebenbei dran«. Weil eben Karl genug Last mit Widukinds Sippe hatte, forderte er von den Obotriten, die sich ihm oder die er sich verbündet hatte, dass sie ihm die Wilzen und besonders die Dänen vom Halse hielten.
Das konnte bei deren Kriegslust allerdings nicht hundertprozentig gelingen. Im Jahre 809 fielen Göttriks Heerscharen in Massen in Mecklenburg ein und zogen eine furchtbare Schneise von Zerstörung und Brand hinter sich her. Dieses Elend zwang die starken Franken, eine Gegenoffensive zu starten, um den Eindringlingen im Lande der Verbündeten eine harsche Lektion zu erteilen. Kaiser Karls Einflussbereich war riesig, groß mussten aber auch seine Anstrengungen zur Sicherung des Reiches sein. Die führungsstarke Persönlichkeit des unermüdlichen Herrschers war dazu imstande, doch schon bald nach seinem Tod wurde das Reich geteilt.
Kampf und Krieg, Krieg und Kampf – Mecklenburg hat genug davon gesehen, war Kriegsschauplatz in fast jedem Jahrhundert! Im 12. Jahrhundert »kümmerte sich« ein Westgermane wieder um das urgermanische Heimatland. Der Sachsenherzog Heinrich der Löwe unterwarf die slawischen Stämme. Der Obotritenfürst Pribislaw trat zum christlichen Glauben über und wurde Heinrichs Vasall. Von seinem Stammsitz »Mikilinborg«, was »große Burg« bedeutet, soll der Name Mecklenburg herrühren. Im Jahr 995 wird die »Michelenburg« erstmals in einer Urkunde Ottos III. erwähnt. Man braucht schließlich etwas Schriftliches, um abgesichert und angemessen feiern zu können!
Im 30-jährigen Krieg erfolgte eine Teilung des Landes in Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Güstrow; die beiden Herzöge wurden jedoch vertrieben und der »Kriegsunternehmer« Wallenstein, böhmischer Adliger und Feldherr der katholischen Liga, durfte sich zwei Jahre mit der ihm vom Kaiser verliehenen mecklenburgischen Herzogskrone schmücken, bis Gustav II. Adolf von Schweden, im Juli 1630 auf Usedom gelandet, die rechtmäßigen Herrscher wieder in ihr Amt einsetzte.
Umsonst ist der Tod – und der kostet das Leben; umsonst tat Gustav Adolf dies natürlich nicht: er heimste Wismar ein. Ironie des Schicksals, dass er in der Schlacht bei Lützen gegen Wallenstein fiel?
Am Ende des grauenvollen Krieges, der nicht nur Mecklenburg furchtbar verheerte, kontrollierte Schweden durch seine strategischen Brückenköpfe die für den damaligen Handel so wichtigen Flussmündungen der Weser, der Elbe und der Oder. Wismar selbst wurde 1803 an Mecklenburg-Schwerin verpfändet, 100 Jahre später verzichtete Schweden auf das Einlösungsrecht.
Die ab 1815 mit der Großherzogswürde ausgezeichneten Herrscher der Linien Schwerin und Strelitz (die 1701 aus der erloschenen Linie Güstrow entstanden war) hoben 1820 die bäuerliche Leibeigenschaft auf. Fast 300 Jahre hat es also gedauert, bis diese Forderung der Bauern, die 1525 zur Zeit der Bauernkriege in den sogenannten Zwölf Artikeln aufgestellt wurde, im Nordosten des Reiches verwirklicht werden konnte. Die Verfassung blieb erhalten, wonach der Landtag aus sämtlichen Rittergutsbesitzern und den städtischen Bürgermeistern bestand.
Die weitere Geschichte verläuft über den Norddeutschen Bund, den Deutschen Zollverein und die Vereinigung zum Land Mecklenburg unter einem Reichsstatthalter am 1.1.1934.
Nach dem Zweiten Weltkrieg die kommunistische Zwangsherrschaft, heute Bundesland Mecklenburg-Vorpommern.
Wer also sind die Mecklenburger?
Kann man von einem deutschen »Neustamm« seit dem 12./13. Jahrhundert reden?
Die dünne Schicht der slawischen Bevölkerung ging auf in den Strömen der Zuwanderer aus dem Westen, das waren hauptsächlich Flamen, Niedersachsen, Ost- und Westfalen.
Vielerorts sind die westslawischen, also wendischen und sorbischen, Flur- und Ortsbezeichnungen noch erhalten. Konzentrierter erhielten sich die Sorben als Volksgruppe in der Lausitz, wo sie – genau wie im Spreewald – Kulturautonomie genießen. Das ist eines demokratischen Staates würdig, leider werden diese Maßstäbe nicht bei den zerstreuten deutschen Volksgruppen im Osten angelegt.
Die Zahl der freien Bauern wurde seit dem 16. und 17. Jahrhundert durch das »Bauernlegen«, das neben Mecklenburg in England einen unrühmlichen Höhepunkt erfuhr, sowie durch Auswanderung nach Übersee drastisch reduziert.
Neben den Angehörigen der Herzogshäuser an der Spitze wurde das Gesicht des Landes vom städtischen Bürgertum und mehr noch vom mittleren und kleinen, dem Landadel geprägt.
Ihre Besitztümer waren gleichzeitig Eigenjagden, die meisten der Herren frönten eifrig ihrer Waidmannslust.
Um nachhaltig jagen zu können, wurde das Wild auf ihren Flächen gehegt und gepflegt, manchmal sicher auch zulasten des Bauernstandes Überhege betrieben.
Trotzdem: Herzogskronen und Kronenhirsche – da gab es schon einen Zusammenhang!
Das weit ziehende Rotwild fand letzte Refugien in den Forsten der Adligen.
Auf einen Kronenhirsch in Mecklenburg zu jagen – das war mein Wunsch. Ein Mecklenburger – das war und ist nämlich nicht nur der Landjunker, der Stadtbürger, der erdverbundene Dörfler oder der schlitzohrige Fischer, nein, »Das ist wohl ein Mecklenburger«, sagt und fragt man auch in grünen Kreisen, wenn man das Geweih eines klotzigen Rothirsches an der Wand eines Bekannten betrachtet.
Erfahrung hatte ich schon reichlich gesammelt im Land zwischen der Lübecker Bucht und dem Darß. Auf Rot-, Dam-, Schwarz- und Rehwild hatte ich erfolgreich die Büchse geführt, auf Enten und Gänse die Flinte, auf diese Weise Landschaft, Menschen und Wild in so manchem Revier kennengelernt und so war dieses wunderbare Bundesland meine jagdliche Heimat geworden. Ein alter Kronenzehner war schon auf meiner Strecke, auf ihn hatte ich in der sehr früh beginnenden Brunft 1998 in der Lewitz gepirscht, der stillverwunschenen Niederung im Süden der Landeshauptstadt Schwerin. Eine Örtlichkeit mit jagdlicher Geschichte, äußerlich repräsentiert durch das Jagdschloss Friedrichsmoor; das heute in der Nachbarschaft residierende Forstamt hat den gleichen Namen.
Zu meiner Pensionierung sollte es wieder ein Hirsch aus der Heimat werden; wieder wollte ich dort am liebsten jagen, wo es noch Atmosphäre und Abgeschiedenheit gibt. Nur »eben über die Elbe rüber« – ich freute mich sehr, dass ich im zweiten Jahr nach Beantragung im Forstamt Kaliß einen reifen Hirsch der Klasse 4 (früher 1a) zur Bejagung frei bekam. Bei Dömitz auf der neuen Brücke über den breiten Strom, und dann war man fast schon da, insgesamt doch nur ein Katzensprung entfernt von der Kreisstadt Winsen/Luge, wo selbst ich mein Heim und Haus bestellt habe.
Trotzdem wollte ich die anderthalbstündige Fahrt über die Landstraße nicht jeden Morgen und Abend auf mich nehmen, also suchte und fand ich ein Quartier ganz in der Nähe des Reviers Grittel. In Malliß hatte es früher eine Ziegelei gegeben, und zum Abtransport der Tonziegeln war ein Verbindungskanal zur Elde-Müritz-Wasserstraße geschaffen worden. An diesem fischreichen sogenannten Ziegeleikanal lag die Finnhütte, die ich mir für meine persönliche Hirschbrunftwoche gemietet hatte. Ein Biber rann ab und zu vorbei, der Eisvogel blitzte im Flug durch die noch grünen Blätter der das Ufer säumenden Erlen.
Jeden Tag aufs Neue wollten jede Menge Käfer, Frösche und Kröten mit mir zusammen durch den Kellereingang die Hütte betreten, aber sonst hatte ich keinerlei Besuch und somit die notwendige Ruhe, um zwischen den Jagdgängen den Ofen mit Holz zu beschicken und mir frugale Mahlzeiten zu bereiten.
In Eldena holte ich den Revierbetreuer Günther Johns ab, wir erledigten die Formalitäten, die der Staatsforst vorschreibt, und dann ging es über die Ortschaft Liepe hinein in den weiträumigen Kiefernwald. Kaum hatten wir meinen Geländewagen abgestellt und verlassen, zog ich schon den Hut: Zum ersten Mal in diesem Jahr vernahm ich das Schreien der Rothirsche in der Brunft – wir schrieben den 14. September.
Nach langem Anmarsch durch Sanddünen bedeckende Heidelbeerteppiche, immer nur unter den schon von Hermann Löns besungenen Föhren oder niederdeutsch Fuhren, bezogen wir eine niedrige, offene Kanzel an einem Forstweg. Schon bald hatten wir Anblick von Kahlwild, das heißt rote Flecken in kleinen Lücken – je weiter man in das Holz hineinblickt, desto dichter wird es und die Lücken immer kleiner. Nirgends eine Wiese oder Offenland, wo man leichter hätte ansprechen können. Ferne Schreie von Hirschen. Da, kein Tier, eine Geweihstange, und dann zog der ganze Hirsch langsam und die Breitseite zeigend an uns vorbei, Entfernung um die 100 Meter. Ich musste an den alten Jägerspruch denken: Ein junger Hirsch zieht wie ein Pferd, ein alter wie eine Kuh! Dieser zog mit hocherhobenem Haupt und eher schlankem Träger wie ein Pferd, starke und lange Stangen mit guten Kronenenden beiderseits kennzeichneten den hoch veranlagten Zukunftshirsch, der sein siebtes oder achtes Geweih tragen mochte. Bald tat er sich nieder, eine Keule und eine halbe Geweihstange gaben die Lücken zwischen den rauborkigen Kiefernstämmen frei. Immer wieder richteten wir natürlich unsere Gläser auf den ruhenden Geweihten, bis es anderen Anblick gab – ganz hinten auf dem Forstweg tauchte ein Fahrradfahrer auf, der immer wieder anhielt, am Wegesrand oder eine kurze Strecke im Bestand umhersuchte und dann wieder weiterfuhr. Gleichzeitig erschienen mehrere Stücke Kahlwild vor der Dickung, dabei ein starker Hirsch! Sie wechselten über die Schneise nach links. Plötzlich hinter ihnen ein mächtiger Schrei – noch ein Hirsch folgte den Tieren und Kälbern nach! Das war ein toller Anblick, aber dann kam, was kommen musste, das Wild hatte die menschliche Störung mitbekommen und flüchtete zurück. Kahlwild und mit zehn Meter Abstand hintereinander zwei gut aufhabende Hirsche. Jetzt folgte auch der niedergetane Geweihte, der wieder – mit Einblick von hinten – durch seine Stangenstärke beeindruckte.
Alle drei Hirsche zu jung, noch einige Jahre von der Vollreife entfernt, aber bereits Träger von zukunftversprechenden Kronengeweihen. Der Pilzsammler, mit Plastiktaschen links und rechts am Fahrradlenker, fuhr mit schlechtem Gewissen unter unserem Sitz vorbei, antwortete aber mürrisch und uneinsichtig auf die höfliche Ansprache des Revierbeamten, der ihn vor Tagen schon gebeten hatte, diesen Revierteil in der Brunft zu meiden.
Freies Waldbetretungsrecht – was will man da machen? Hier war jedenfalls kein Anblick mehr zu erwarten, wir baumten ab und pirschten vorsichtig durch die Sanddünen einer oben auf einer Kuppe errichteten Kanzel zu. Ein Mäusebussard gab uns kurz das Geleit und segelte dann weiter. Als wir uns auf dem einfachen Sitzbrett niedergelassen hatten, war ich noch ganz erfüllt von dem guten Anblick, doch das sollte noch nicht alles gewesen sein. So langsam wurde das Büchsenlicht schwächer, als wieder eine Bewegung im Altholz auffiel. Wie gesagt, es waren immer nur kleine Teile eines Wildkörpers in den Lücken zu erkennen. Ein Stück Rotwild, schon war es überriegelt verschwunden. Doch wenig später sahen wir Geweihstangen über einen Dünenrand und das Blaubeergrün emporragen, sich hin und her drehen – welche Spannung – und dann erschien langsam und majestätisch der ganze Hirsch, verhielt und brummte tief und eher verhalten in die Senke hinein. Der war älter als die vorhin Gesehenen! Eine ausgeprägte Brunftmähne und die dunkelrote, ins Schwarze gehende Decke sowie natürlich die starken Vierzehnenderstangen verhalfen ihm zu einem höchst imposanten Aussehen. Vielleicht vom neunten oder zehnten Kopf? Die volle Reife hatte auch dieser noch nicht, der jetzt noch einmal laut seine Anwesenheit verkündete und sich dann 200 Meter weiter niedertat. Als wir nicht mehr ansprechen konnten, setzten wir uns vorsichtig ab. Kurz vor unserem Fahrzeug polterte noch einmal ein von uns angerührter Hirsch über den Weg, das lässt sich leider nicht immer vermeiden. Aber welch ein Anblick am ersten Tag! »Das kann ich Ihnen allerdings nicht jeden Tag versprechen«, äußerte Herr Johns, um wohl zu vermeiden, dass bei mir die Bäume – oder die Hirschgeweihe – in den Himmel wuchsen. Nein, das nicht, aber ich freute mich schon auf den Morgen!
So fiel mir das frühe Aufstehen überhaupt nicht schwer, nach einer schnellen Tasse Kaffee schnappte ich mir Gewehr und Rucksack und schon holperte mein Wagen durch die Schlaglöcher und tiefen Pfützen der Privatstraße der Brücke über den Ziegeleikanal zu. An ihm entlang – diese Abkürzung hatte mir Förster Johns gezeigt – fuhr ich zur Einmündung in die Kreisstraße nach Liepe und stoppte dort am verabredeten Treffpunkt am Ortseingang.
Natürlich horchte ich nach dem Austeigen sofort in Richtung Forst – und tatsächlich, sie schrien, mindestens drei unterschiedliche Hirschbässe waren zu hören. Des Weiteren bewunderte ich den prachtvollen, selten so klar und lichtstark zu erlebenden Sternenhimmel.
Man sieht, akustisch und optisch hat Mecklenburg etwas zu bieten! Der Südostwind blies stetig wie gestern, wir konnten es anpacken. Mit meinem Pirschführer dann unterwegs, hielten wir noch einmal an, um zu verhören, stellten später den Wagen ab, um uns auf den langen Anmarsch zu begeben.
Merklich wurde es heller. Ein Kolkrabe strich über uns hinweg, modulierte an seinem ersten Morgengeschwätz und brachte das Büchsenlicht mit, als wir die niedrige Kanzel, die mein Jagdführer für den Ansitz ausgewählt hatte, langsam bestiegen.
Kaum hatten wir uns eingerichtet, hatten wir schon den ersten Rotwild-Anblick. Ein Spießer trollte links durch die Stangen. »Nicht bewegen«, flüsterte plötzlich mein Nebenmann. Zwei Tiere überfielen die Schneise. Da, ein starker Hirsch folgte ganz langsam! Eingedenk unserer Absprache ging ich in Anschlag und betätigte den Stecher, das Zielfernrohr-Absehen stand auf der falben Decke des Hirsches. Er wendete sich in unsere Richtung, hob das Haupt und röhrte lang und anhaltend. Ein herrlicher Anblick bei mittlerweile gutem Licht! Doch auch ich sah jetzt, dass dieser Geweihte zu der Generation um den siebten Kopf herum gehörte, und nahm die Waffe von der Brüstung herunter, entspannte und entstach den Kugellauf.
Diesen Geweihten, mittlerweile den Fünften in diesem Brunftgebiet »am Karrenberg«, sollten wir noch wiedersehen. Aufgrund seiner Deckenfarbe nannte ich ihn den »Hellen«. Der Spießer, den wir auch noch einige Male sahen und wiedererkannten, weil sein linker mittelhoher Spieß einen Knick nach hinten aufwies, und einige Tiere wechselten hin und her. Der Helle meldete bei hoch steigender Sonne in der Dickung, langsam kehrte Ruhe ein. Ein Ringeltäuberich ließ seine Strophe hören, nicht mehr ganz so impulsiv und werbend wie im Frühjahr. Wir baumten ab und – froh über unsere Gummistiefel – stapften durch die morgennassen Heidelbeeren zurück. Dabei bewies Günther Johns, erfahrener Schweißhundführer und Richter im Verein Hirschmann, sein gutes Auge. Wir querten eine frische Fährte, zu erkennen fast nur durch die Ausrisse auf den herbstlich gesprenkelten Blättern des Blaubeerteppichs. Starke Trittsiegel bestätigten wir dann an einer bemerkenswerten Suhle, so gut angenommen und von harten Schalen zerfurcht, wie ich es kaum je gesehen hatte. Das kam nicht von ungefähr, in diesen Sanddünen gab es weder Lehm noch Ton, wobei letzterer noch attraktiver für das Rotwild ist. Nein, diese Suhle war künstlich angelegt worden mit dem grauen Ton aus dem Ziegeleigelände, von dem ich gesprochen hatte. Ein absoluter Anziehungspunkt im Rotwildrevier! Sauen haben wir nicht gesehen, die Mehrzahl steckte noch im Feld und delektierte sich wohl am Mais. Für sie gibt es unter den Kiefern nicht viel zu holen, aber an der Suhle erscheinen sie auch des Öfteren.
Bei meinem selbst bereiteten deftigen Frühstück später sah ich immer noch die spannende Situation mit »dem Hellen« auf der Schneise vor meinen Augen. Gute Auslage, hohe Stangen, aus dem wird noch was. Ein inspirierendes Brunftbild!
»Viertel vor fünf, damit wir um fünf draußen sind«, hatte der Revierbetreuer angesagt. So geschah es. Regenschauer empfingen uns im Revier, dazwischen lugte die Sonne wieder aus den Wolken hervor, der Wind hatte aufgefrischt, aber seine Richtung beibehalten.
Ein schwaches Rehböckchen äugte uns hinterher, als wir eine dicht bestandene Kiefern-Naturverjüngung passierten. Viel Rehwild gab es nicht in dem über 2000 Hektar großen Dienstbezirk, eine alte Geschichte im Hochwildrevier. Ich schaute noch einmal zurück, kerzengerade wachten die Überhälter über ihre Saat. Zweimal hielten wir an, um zu verhören, blieben auch bei der anschließenden Pirsch immer wieder stehen, um den langsam deutlicher werdenden Hirschstimmen zu lauschen. Da, das war schon ziemlich nahe! Gebückt hasteten wir einen Hügel hoch, spähten vorsichtig über die Kuppe und bezogen dann schnell die dortige Kanzel. Wieder ein mächtiger Schrei! Es hörte sich so an, als ob jeden Moment ein Hirsch aus dem Bestand über die vor uns liegende freie Senke wechseln wollte. Ich machte mich fertig, stach den Kugellauf ein. Im Geiste sah ich ihn schon, alles hätte wunderbar gepasst. Doch die Stimme entfernte sich wieder, links hinten im uneinsehbaren Bestand wachte der Hirsch wahrscheinlich bei seinem Kahlwild, schrie immer wieder seine Drohungen gegen die Konkurrenten heraus. Einen davon sahen wir bald. Ein junger Geweihter vom 5. oder 6. Kopf zog mit Tier und Kalb nur eine Schrotschusslänge an uns vorbei. Hatte er dem Platzhirsch tatsächlich ein Tier abspenstig machen können? Es sah aber eher so aus, als hätte das weibliche Stück sich einen selbstständigen Bummel in den schmalen Kopf gesetzt, der dünnstangige Zwölfer folgte eher »errötend ihren Spuren«.
Die tiefe und volle Stimme, die geradeaus hinter einer höheren Düne sich meldete, die konnte bestimmt keinem Schneider gehören. Da schien einer zu sein, der dem Platzhirsch ernstlich gefährlich werden konnte. Zweimal nahm ich den Drilling hoch, weil es sich wirklich so anhörte, als ob er jeden Moment aus der Vegetation auftauchen könnte. Beim dritten Mal riss ich die Waffe besonders schnell hoch – da war er! »Das ist weit, sehr weit«, murmelte Förster Johns. Ein Starker – und er zog mit tief gesenktem Träger wie eine Kuh. Den hätten wir sehr gerne näher angesprochen, aber dazu langten die fünf Sekunden nicht, in denen er über eine Lücke zog. Das ist Waldjagd, hier kann man die Hirsche nicht zehn Minuten und länger auf einer Wiese studieren. Neben dem Stimmenduell dieses Starken mit dem beim Rudel stehenden Hirsch gab es eine dritte Stimme hinter der Tonsuhle, im dichten Anflug dort war ein Angehen jedoch zwecklos. Wir verdrückten uns und fuhren nach Hause bzw. in die gemietete Unterkunft. Wieder hatte ich, diesmal bei der Abendmahlzeit, ein spannendes Brunftbild vor Augen, wie der starke, alte Hirsch majestätisch durch die Lücke auf dem Dünenkamm zog.
Leider musste ich mich am ganz frühen Morgen beim Revierbetreuer abmelden; schon altbekannte massive Herzbeschwerden waren aufgetreten und machten eine Pirsch unmöglich. Als ich mich gegen Mittag wieder erholt hatte, erledigte ich in Ruhe die Hausarbeiten. Anmachholz musste dringend zerkleinert werden, das hatte ich im Keller nicht vorgefunden. Hier hängt ja auch nicht das Leben davon ab, nur die Behaglichkeit. In Kanada, wie man gelesen hat, wäre es eine Todsünde, sich selbst oder dem nächsten Besucher der Hütte nicht das unter Umständen vor dem Erfrierungstod schützende Feuer vorzubereiten. Noch ein kleiner Spaziergang, und dann konnte ich mich Gott sei Dank einsatzbereit melden.
Vor dem Kellereingang herrschte wieder ein schwarzes Gewimmel. Bevor ich losfuhr, setzte ich die vielen Totenkäfer, die sich gern in Kellern, unter dem Fußboden u. Ä. verstecken, in den Wald zurück.
Es regnete leicht, die Temperatur lag bei 17 Grad. In Liepe sah ich ein braunes Etwas aus dem Wald kommen. Im Glas erkannte ich einen Hund, der zielstrebig dem Dorfe zu trabte, direkt neben mir die Straße überquerte und auf der anderen Seite einen Feldweg annahm. Kam er vom Wildern oder wandelte er auf Freiersfüßen?
Mit Günther Johns ging es dann wieder querbeet durch die unendlichen Heidelbeeren, gegen den Wind pirschten wir die heute sparsam schreienden Hirsche an. Der erste Rotwildanblick freute uns nicht unbedingt – dort saß ein Hirsch genau oben auf einer Düne wie auf einem Feldherrnhügel und äugte in die Runde, genau dort mussten wir aber vorbei. Ein Feldherr war er aber nicht, sondern nur Zuschauer und Zuhörer beim herbstlichen Treiben, ein junger, im Wildbret starker Achter. Das sahen wir aber erst nach einer längeren Wartezeit, als er hoch wurde und zur Seite weg zog. Damit war der Weg für uns frei, um die Kanzel auf der Düne am Wasserloch zu beziehen. Drei gute Hirschstimmen unterhielten uns bis kurz vor dem Ende des Büchsenlichtes, dann sahen wir ein einziges Mal ganz kurz den halben Wildkörper eines Hirsches, schon war er wieder weg. Da bekommt man Sehnsucht nach einer Wiese mit einem Brunftrudel! Immerhin hatte unsere Serie »Hirschanblick bei jedem Ansitz« gehalten und nicht unzufrieden baumten wir ab und setzten uns gemächlich, ohne noch Wild zu stören, Richtung Fahrzeug ab.
Vorsichtshalber holte ich mir von Frau Meyenburg, der sympathischen Vermieterin meiner Finnhütte, die Erlaubnis, dort noch länger wohnen zu können. Ihr Mann war auch Jäger, und sie hatte Verständnis und ich Glück, dass nicht schon der nächste Feriengast wartete, dass die abgeschiedene Griese Gegend nicht unbedingt ein Touristikzentrum ist.
An diesem Morgen fuhren wir mit beiden Wagen ins Revier, Förster Johns brauchte sein Gefährt für anschließende Dienstgeschäfte. Wenn unsereins tagsüber mehr oder weniger entspannen kann, hat der Revierbeamte den Belangen seines Berufs ganz normal weiter nachzukommen – daran muss man auch mal denken. Trotzdem war ich sehr angetan von der Kompetenz und Passion dieses Mannes aus der grünen Garde, der noch Wald und Wild gleichberechtigt nebeneinander sieht.
Die Hirsche schrien mächtig. Nach mehrmaligen längeren Verhören pirschten wir wieder durch die Bestände eine rau und tief meldende Stimme an. Dieses Angehen in der Dunkelheit sehe ich als eine Meisterleistung meines Pirschführers an. Er hatte eine bestimmte Kanzel im Kopf, die den Blick in ein Kiefernaltholz erlaubte, in das hinein eine Schneise mündete. Unter dem Verblassen der Sterne und dem im Osten heller werdenden Himmel stellt diese gleichzeitig eine Lichtbrücke dar. Außerdem äugt das Wild immer dort hin. Ich wage zu behaupten, dass wir bei der Annäherung auf diesem Weg den Hirsch vergrämt hätten. Er stand nämlich draußen, mitten im Holz! Nur schemenhaft als dunkler Klumpen zu erkennen. Einen kleinen Schreck gab es noch, als eine Ringeltaube, die hier ein scheuer Waldvogel geblieben ist, über unseren Köpfen wegklatschte. Ein grimmiges Röhren vor uns beruhigte uns wieder, über eine letzte Düne stiegen wir hinab und schlichen förmlich zeitlupenhaft langsam an den Fuß der Leiter und noch langsamer und lautlos nach oben. Der Hirsch knörte abgrundtief. Spannung pur! Die Kanzel war von einem Wall aus Reisig umgeben, das im Laufe der Zeit zusammengesunken war, sodass die Sichtdeckung nicht mehr ganz ausreichte, aber wir waren jetzt oben, bohrten unsere Augen in die Ferngläser und versuchten mit Macht beim immer besser werdenden Licht den Recken dort zwischen den Kiefernstämmen anzusprechen.
Ein »großrahmiger« Hirsch mit tief getragenem Haupt, die Masse vorn, kaum ein Unterschied zwischen Wildkörper und Träger. Das Geweih? Regelmäßig die Aug-, Eis- und die sehr langen Mittelsprossen. Vierzehnender oder ungerader Sechzehnender? Zum wiederholten Male: Draußen auf einer Freifläche hätten wir das bestimmt schnell herausfinden können, aber hier in den Lücken sahen wir selten – und wenn, dann nur sehr kurz – »alles«.
Zwischenzeitlich tat sich der, um den wir uns so viel Gedanken machten, kurz vor dem dichteren Stangenholz nieder, natürlich zu vier Fünfteln verdeckt. Immer wieder repetierte ich im Geiste die bekannten Ansprechmerkmale für einen reifen Hirsch – es war nicht der erste, den ich sah – und schielte nach links: Freigabe? Als der Geweihte wieder hoch wurde, machte mich mein Jagdführer auf ein großes, rundes Gebilde aufmerksam, das uns der Hirsch jetzt an seiner linken hinteren Bauchseite zeigte: ein Bruch?
Ein Tier war von links zugewechselt, verschwand im dichten Zeug, kam wieder in Anblick und zog den Brunfthirsch zu sich heran. Drei weitere Stücke Kahlwild trollten über eine schmale Schneise nach rechts, aus welcher Richtung die ganze Zeit ein anderer Geweihter anhaltend geröhrt hatte. Da war er, wo kam der so abrupt her? Ein starker, hoch aufhabender Hirsch wollte »unseren« nicht zum Kahlwild lassen – auf zehn Meter standen sich die beiden plötzlich gegenüber. Würde es zum Kampf kommen?! Die ganze Situation war darauf ausgerichtet. Wir erkannten jetzt den Hirsch, es war »der Helle«, der mittelalte Raufbold vom geschätzten siebten Kopf, der hier der Platzhirsch war. Der Ältere war ein Nebenhirsch! Doch sie kämpften nicht, vielleicht hatten sie auch schon früher ihre Kräfte gemessen und respektierten einander. Der Helle hatte gezeigt, dass er die Schneise eindeutig als Grenze verteidigen würde und trollte zurück, wo er weiter machtvoll schrie. Sein Nebenbuhler verzog sich ins Dichte und mit dem Hellerwerden verschwiegen beide, die Bühne war wieder leer. »Konnte ich den nicht schießen?« Nein, diese Frage hatte ich nicht gestellt, ich verkniff es mir, obwohl sie im Raum stand. Aber es ging um diesen Hirsch, denn Günther Johns äußerte beim Abbaumen: »Heute Abend gehen wir wieder hierher!«
Aber noch war der Jagdmorgen nicht zu Ende. Wir passierten eine auch in diesem Revierteil mit bestem Erfolg betriebene Kiefernnaturverjüngung, die sich schon fast mannshoch entwickelt hatte. Dahinter plötzlich sich bewegende Geweihspitzen. Noch eine, eine Krone! Geduckt hasteten wir voran, um »um die Ecke zu lugen«, denn nur so konnten wir das Wild in Anblick bekommen. Den Drilling hatte ich schon in der Faust, als wir folgenden Anblick hatten: Drei junge Hirsche strebten hintereinander dem dichteren Bestand zu, der Führende war unser bekannter »Knickspießer«, das schien mir sowieso ein frühreifer Lümmel zu sein, dann folgte ein großrahmiger Achter, grau wie ein Esel, und den Schluss bildete ein vielleicht vierjähriger Kronenzehner, rot und grau gefleckt – die Hirsche kamen zweifellos aus der Tonsuhle, die sie bei bestem Licht vormittags um zehn Uhr genossen hatten. Das spricht für die Ungestörtheit dieses Rotwild-Refugiums. Wenig später kamen wir dort vorbei und sahen die frischen Körperabdrücke und Fährten. Dabei liegt die Suhle nicht irgendwo im dichten Zeug, sondern direkt am Weg inmitten einer Freifläche.
Ich hatte wieder genug zum Denken bei meinen späteren Haushaltspflichten!
Nachdem ich anschließend den Käfer- und Fröschebesuch wieder hinauskomplimentiert hatte, warf ich einen Blick auf die im Keller hängende vergilbte Fotokopie mit Bildern und Texten über das nahe Städtchen Ludwigslust und das Schloss. Ich kannte es schon und war mehrfach in dem mit vielen Trophäen geschmückten Cafe an der Rückseite zum Park eingekehrt. »Lulu« – wie die Einheimischen liebevoll ihren Ort nennen, hat mich immer begeistert und es hat jagdliche Historie!
Haben Adelskronen nicht auch Hirschkronen erhalten, indem sie dem unter Umständen weit wandernden Rotwild auf ihrem Großgrundbesitz den notwendigen Lebensraum boten, wie ich oben schon angesprochen habe?
Die Entstehung des Ortes Ludwigslust geht auf eine fürstliche Laune und Passion zurück. Mit dem Herzen durch und durch Jäger, wandelte Herzog Friedrich den Flecken Klenow (Kleinow), wo ein Jagdhaus errichtet worden war, in seine Residenz um und in den Jahren 1772–76 wurde das Schloss im barocken Stil unter der Aufsicht von Hofbaumeister Busch errichtet. Bis 1837 war es die Hauptresidenz der Großherzöge von Mecklenburg-Schwerin und sie hatten es bequem, um von hier aus in die wald- und wildreiche direkte Umgebung zur Jagd auszurücken. Der riesige Schlosspark ist mit etwa 130 Hektar Fläche der größte – viele sagen auch der schönste – in ganz Mecklenburg. Die erst sehr viel später (1852–1860) von kundiger Hand durchgeführte Umgestaltung mit exotischen Gehölzen und teilweise eigenwilligen Bauwerken nach dem Gartendirektor Peter Joseph Lenné gibt ihm einen Reiz, den wir in anderen Parkanlagen kaum finden, es wurde sogar vom mecklenburgischen Versailles gesprochen. Nach den oft mehrtägigen Jagden ergingen sich die Adeligen und ihr Anhang im Park auf den gepflegten Wegen und erholten sich von ihrer anstrengenden Passion.
Die Namensgebung geht auf Herzog Christian Ludwig zurück, der sich 1754 mit der fürstlichen Familie und dem gesamten Hofstaat nach Kleinow begab und durch Schrift und mündliche Verkündigung befahl: »… dass ersagter Ort von nun an und für die Zukunft Ludwigs-Lust genannt werden solle!«
Ja, nicht nur Ludwigs Lust war das Jagen, auch die meine war und ist es, und so zogen Förster Johns und ich am Nachmittag wieder aus, nachdem wir am Morgen schon so eindrucksvolle Brunftbilder erlebt hatten. Zeitlich hatten wir den Treffpunkt vorverlegt, um »ja zur Stelle zu sein«.
Da waren wir, bezogen, ohne eine Störung zu verursachen, die vom Buschwerk umrandete Kanzel »am Karrenberg« und harrten der Dinge, möglichst der Hirsche, die da kommen würden. Auf unserem Herweg hatten wir den einen oder anderen fernen Schrei gehört, aber dann und nun war Ruhe eingekehrt, was war heute nur los? Mein Jagdführer guckte fast schon deprimiert, als er mir zuraunte: »Das ist heute der ruhigste Abend seit 14 Tagen.«
Verdammt, da war das lichte Altholz vor uns, da hinten war das Kahlwild gezogen – ich hatte die Bilder vom Morgenansitz noch plastisch vor meinen Augen, doch jetzt – Stille, keine Bewegung. Wir warteten.
Fast war ich schon dankbar für den Anblick eines Kleibers, der die Kiefernborke nach Insekten untersuchte und wahrscheinlich – im Gegensatz zu uns – schon reichlich Beute gemacht hatte.
Man kann nicht jede Stunde im Revier sein und alles mitbekommen, was sich dort abspielt. Hatte es eine Störung gegeben, war das Wild vergrämt worden? Weiterhin Totenstille.
Umso überraschter waren wir, als »ohne Anmeldung« ein Hirsch über die schmale Schneise trollte, die von unserer Kanzel waldeinwärts einzusehen war. Wir erkannten ihn trotz des sekundenlangen Anblicks sofort: Es war wieder mal der Helle, den wir weit rechts im Bestand bei seinem Kahlwild vermuteten. Wo wollte der hin, was hatte er vor? Eigentlich konnte er zu dieser Zeit nur zwei Dinge im Kopf haben: Kahlwild und … das Vertreiben der Nebenbuhler.
Kaum gedacht, ertönte sein mächtiger Schrei, der erste seit über einer Stunde, und zehn Sekunden später standen – wie schon mal gesehen – plötzlich zwei Hirsche vor den Stangen im Altholz: Der Helle hatte einen anderen hinausgetrieben, es war der Hirsch von heute Morgen! Wieder wirkte er deutlich älter als der Platzhirsch und Raufbold. Die Worte der Freigabe habe ich nicht mehr in Erinnerung, das Hirschfieber schlug hoch wie eine Sturmwelle in der Brandung. Hatte Förster Johns, das Glas an den Augen, noch gesagt: »Aufpassen, den Richtigen …?« Lücke, Baum, Lücke, Baum – da zog er langsam und breit von dem anderen weg. Der Knall meines 9,3-Kugellaufes kam mir überhaupt nicht laut vor, der Hirsch zeichnete, flüchtete, wurde niedriger und brach nach 20 Metern zusammen, kein Schlegeln, nichts mehr. Wir sahen ihn, das heißt einen Teil des Wildkörpers, in seiner roten Decke hinter einem der gerade gewachsenen Föhrenstämme liegen!
Natürlich blieb ich mit nachgeladener Waffe noch eine Weile in Bereitschaft.
Als ich den Spannschieber dann zurückgleiten ließ und tief durchatmete, meinte der Hirschvater, diesen Ehrentitel gab ich ihm in diesem Moment: »Dann wollen wir mal gucken, was wir angerichtet haben!«
Auf diese Minuten hatten wir hin »gearbeitet«, nein gewaidwerkt in der Brunft des Rotwildes im herbstlichen heimatlichen Wald.
Welch ein mächtiger Geweihter! Ich stand vor meinem besten Hirsch in 40 Jägerjahren und man wird meine Ergriffenheit verstehen, als der Revierbeamte mir den Erlegerbruch – natürlich kam nur Kiefer in Frage – überreichte und auch das edle Wild mit den Brüchen nach deutscher Jagdtradition versah.
Der Hauch von Pessimismus, der uns vor einer halben Stunde auf der Kanzel noch heimgesucht hatte, war natürlich wie weggeblasen. Dass das noch – und so unverhofft – geklappt hatte! Der Hirsch hatte heute nicht einmal gemeldet, wir ahnten nicht, dass er trotzdem die ganze Zeit vor uns in dem Stangenholz steckte, aus dem ihn der Helle hinausgetrieben hatte. Natur lässt sich nicht in ein Schema pressen, aber es war schon ungewöhnlich, wie gesagt, dass dieser ältere Geweihte hier den Beihirsch spielte. Zwei kurze »versteckte« Enden in den Kronen machten ihn zum geraden Sechzehnender, mit meiner Schätzung des Geweihgewichts von etwa siebeneinhalb Kilogramm lag ich ziemlich richtig. Kleine, ebenmäßige, wunderschön braun gemaserte Grandeln hatte er. Auch die Stangen waren gut gefärbt und geperlt, wenn auch nicht so dunkel wie mein Hirsch aus dem Laubholzrevier der Lewitz. Hochzufrieden stand ich bei diesem, nun meinem, starken Hirsch.
Wir hielten die Totenwacht.
Als ich mich dann der roten Arbeit widmen wollte, schließlich würde das Büchsenlicht nur noch eine Viertelstunde vorhalten, erklärte allerdings Förster Johns, dass wir diesen Brunftplatz nicht verstänkern und das Aufbrechen in der Wildkammer besorgen wollten.
Er telefonierte mit einem Waldarbeiter, der sich bereit erklärte, den Transport mit seinem Anhänger zu übernehmen. Ich wunderte mich etwas, dass ein »Rotwild-Forstamt« keinen Bergetrupp organisiert hatte, der diese Arbeiten übernahm und der Revierbeamte privat herumtelefonieren musste. An allen Ecken und Enden wird eben gespart.
Als dann Forstwirt Fred Hempel aus Polz, selbst auch passionierter Jäger und im benachbarten Genossenschaftsrevier jagend, in der Dunkelheit bei uns eintraf, waren wir über den dritten Mann sehr froh, denn zu zweit hätten wir das schwere Wild kaum bergen können.
»Den kenne ich und hätte ihn auch erlegt, wenn er mir gekommen wäre«, überraschte mich der hilfsbereite Waidgenosse, als er sich aufmerksam den Hirsch angesehen hatte. Er kannte ihn schon als Zwölfer, die handballgroße Wucherung an der linken Bauchseite trug dieser Hirsch schon seit Jahren. Wie er zu diesem lästigen Anhängsel gekommen war, konnten wir nicht mehr nachvollziehen. Also war es ein bodenständiger Hirsch.
Tage später tranken wir ihn gemeinsam tot und hatten dafür das Hafenrestaurant in Dömitz ausgesucht. Förster Johns brachte eine Sensation mit! Schweißhundführer dürfen ja nie Plaudertaschen sein, gehorchen eher der selbst auferlegten Pflicht zur Diskretion und Schweigsamkeit – im Interesse des kranken Wildes! So musste ich die Information dem Hüter dieser Wildbanne und Hirschvater, mit dem man sich ansonsten allerbestens unterhalten konnte, entlocken:
Das Forstamt Kaliß hatte in diesem Jahr zwei Gäste, die auf einen reifen Hirsch waidwerken konnten. Der erste war ich, und kurz nach mir reiste der zweite Jäger aus dem westfälischen Rothaargebirge an, der schon einige Male in den hiesigen Revieren gejagt, auch schon mal einen Begehungsschein im Forstamt besessen hatte. Sein Jagdführer: natürlich Herr Johns. Bei einem der Ansitze wurden sie, wie auch wir ein einziges Mal, von einem Pilzsucher gestört und pirschten zu einer anderen Kanzel. Sie erlebten einen Platzhirsch, der einen Beihirsch abschlug und auf Trab brachte. Der Gast konnte den Starken erlegen und jetzt kommt’s: Ein ungerader Sechsundzwanzigender von 11,5 Kilo Geweihgewicht! Noch niemals wurde so ein Recke im Forstamt erlegt, ein Jahrhunderthirsch!
Das Ganze spielte sich nur 500 Meter von dem Kiefernaltholz entfernt ab, wo ich meinen Geweihten erlegt hatte! Niemand wusste von dem Kapitalen, aber Günther Johns hatte im Vorjahr, nach der Brunft, einen sich von allen anderen abhebenden Hirsch mit unwahrscheinlich dicken Stangen und voluminösen Kronen zwei oder drei Tage bei sich im Revier bestätigt und auch fotografiert – nur dieser, mit dem sich keiner messen kann, konnte es gewesen sein. Ich denke, von diesem ungewöhnlich starken Hirsch wird man noch in der Jagdpresse lesen, auch wenn der Erleger, wie ich hörte, nicht genannt werden will.
(In einer bekannten Jagdzeitschrift erschien die Meldung: »Zwei starke Hirsche gefallen«. Ein Kapitalhirsch aus dem Rotwildring Hasselbusch in Schleswig-Holstein und ebender 26-Ender aus dem Revier Grittel, Forstamt Kaliß, im mecklenburgischen Landkreis Ludwigslust, dessen erste Auswertung 247 CIC-Punkte ergab. Eine Freude und Begeisterung für den passionierten Rotwildjäger, die Fotos dieser Hirsche zu betrachten!)
Nicht ein Fünkchen Neid gab es von mir, nein, das nicht, aber der Gedanke, dass dieser Hirsch auch vor meinem Drilling hätte auftauchen können, hat schon etwas Faszinierendes. Allein ihn zu sehen wäre schon eine »Hirsch-Sternstunde« gewesen. Und – ist es nicht wunderbar, dass sich immer wieder mal ein Rothirsch in freier Wildbahn zu dieser Stärke entwickeln kann? Und ein Zufall wird es auch nicht gewesen sein, dass er sich in dem Beritt des Revieres Grittel, wo ein Forstbeamter neben der täglichen Fürsorge für seinen Wald auch noch ein Auge für die Bedürfnisse des Rotwildes hat, besonders wohlfühlte und hier brunftete. Ich habe die Adels- und die Hirschkronen in einem Atemzug genannt, demnach wäre dieser Ausnahmehirsch nicht »nur« ein Graf oder Herzog, sondern ein König!
Waidmannsheil dem Schützen, über den die holde Diana in einem einzigen Moment ihr ganzes Füllhorn ausgeschüttet hat. Ich selbst schied auch glücklich und zufrieden mit meinem Sechzehnender, der bei der späteren Bewertung eine Silbermedaille – hierüber gab es eine schöne Urkunde – erreichte, aus der südlichen Griesen Gegend, und werde die Tage und Stunden der Jagd auf den Brunfthirsch als wertvolle Erinnerung in meinem grünen Gedächtnis aufbewahren.