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1. HARTMUT
VOR DEM MORGENGEBET
ОглавлениеUnruhig waren die Träume gewesen, manche auch beunruhigend, die über den Morgenruf des Muezzins hinweg zu Ende gebracht wurden. Aus Nacht und Träumen ist er erwacht. Die Rufe überlagerten einander, vielstimmig zu einem Geflecht gleichmäßiger Anrufungen verbunden. Es gibt nur eine Quelle des Lichts, des Lebens, auf dass sie zu allen mit derselben Stimme sprechen. Nach dem Morgenruf ließ sich draußen, am östlichen Horizont bereits die Dämmerung erahnen, die für jene, deren unverrückbarer Glaube das Tageslicht auch dann entstehen lässt, wenn die Natur noch nicht bereit ist, sich den strengen Vorschriften der Religion zu beugen, schon länger sichtbar war.
Das Zimmer lag noch im tiefen Dunkel, Nacht des Ungläubigen, dem die Rufe des Muezzins als unvermeidliche, gerade noch hinnehmbare Eigenheiten eines fremden Lebensraumes bereits vertraut waren. Dieses Mal jedoch wurde auch seine Nacht beendet. Unruhig wechselte er immer rascher seine Liegeposition im aufgewühlten Bett, das die Spuren einer überhitzten Nacht tragen würde. Im Halbschlaf streckte er seine Hand zur anderen Betthälfte hinüber, um festzustellen, dass er wieder allein und sich selbst ausgesetzt war. Er rang mit dem Schlaf, doch dieser hatte ihn endgültig verlassen. Keine schwarzen spinnenhaften Wesen, sondern gallertartige, wässrige Ringe senkten sich von der Decke herab und ließen die Konturen des Zimmers entstehen, das er vorübergehend bezogen hatte, ein Bereich jenes ihm zugeteilten Hauses, das er für eine Weile zu bewohnen hatte auf geborgter Erde.
Nun herrschte wieder Stille, nur das Rauschen in seinen Adern fiel ihm auf, störend, denn er fühlte eine Gefahr darin, sich selbst ausgesetzt zu sein wie ein Schiffbrüchiger. Leise Schritte, die im Kies des Gartens knirschten, retteten ihn vor der Selbstversenkung. Er musste den Wächter nicht fragen, ob die Nacht bald um sei. Den Morgenrundgang, den letzten seines Dienstes, trat der Wächter regelmäßig noch in der Dunkelheit an, nachdem er vom Morgenruf des Muezzins aus einem unerlaubten Schlaf gerissen worden war. Auch diesmal war sein Schritt wieder gleichmäßig, ein niemals zögerndes Vorwärtsschreiten, von keinen besonderen Vorkommnissen beeinträchtigt. Die Nacht hat ihre Schuldigkeit getan und könnte abtreten, sobald der Dienst des Wächters endete. Aber gerade diese Zwischenzeit, die Pause zwischen Dunkel und Hell, Ruhe und Bewegung, Innen- und Außenwelt, Traum und Wirklichkeit, jene Handvoll Minuten, die ratlos und verloren zwischen den Zeiten schwebt, in denen das ferne Hundegebell verstummt, jener Entre’acte im Welttheater zwischen Jenseits und Diesseits war stets unbewacht geblieben, wenn ihn der Schlaf zu früh verstoßen hatte.
Zuletzt erwachte sein Geruchssinn. Endlich war die Schwüle des Vortages, die auch weit in die Nacht hineingereicht hatte, erfrischenderen Luftströmen gewichen, die sich durch die Luftschlitze im Zimmer ausbreiteten und das Atmen leichter werden ließen. Gierig saugte er die Vorboten des neuen Tages ein, bis sein Atem ruhiger wurde und ihm fast einen erneuten Schlaf beschert hätten, wäre er nicht durch ein zögerliches Klopfen an den geschlossenen Fensterläden gänzlich aufgeweckt worden. Wollte ihn der Wächter über einen wichtigen Vorfall in Kenntnis setzen? Der aber würde sehr schwerwiegend sein müssen, denn wegen nichtiger Anlässe wagte es der Wächter im Allgemeinen nicht, seinen Schlaf zu stören. Erst einmal in den letzten Monaten hatte ihn der Wächter aufgeweckt, in jener Nacht, in der das Dunkelblau des Nachthimmels in eine blutrote Farbe übergegangen war, die bei der einheimischen Bevölkerung Angst und Panik ausgelöst hatte. Doch dafür hatte es am nächsten Tag genügend physikalische Erklärungsversuche seitens der hiesigen Obrigkeit gegeben. Nordlichter, Luftspiegelungen, nein, keine Nuklearexplosion von Testversuchen des großen Nachbarstaates, nein, kein Feuerregen, nein, keine Heuschreckenschwärme, die in rötliche Sandstürme eingehüllt das Land heimsuchen würden, auch sonst keine Ankündigung großen Unheils. Es verlaufe alles in geregelten Bahnen und das Staatsoberhaupt und seine Regierung würden für das Wohl des braven Volkes sorgen. Er selbst hatte wie in einem Traum das Naturschauspiel der durch das Rot aufgehellten Nacht vor der Tür betrachtet und eine Feuersbrunst in der Nähe vermutet, doch war die Farbe ebenso rasch wieder verschwunden, wie sie plötzlich aufgetaucht war.
Dieses Mal war der späte Nachthimmel sowohl für die Gläubigen wie die Ungläubigen genauso, wie er zu sein hatte. Auch war der Wächter bereits abgezogen. Ein leichter Wind setzte ein und ließ erneut den Fensterladen gegen das Fenster schlagen. Er hakte ihn fest, zögerte aber, sein Bett wieder aufzusuchen, zu verlockend war die frische, nicht zu kalte Luft, die seinen halb nackten Körper umstrich und ihn wie in ein übergroßes Leintuch der Natur einhüllte.
Zu Hause … ja, in seiner früheren Heimat – denn wo ist zu Hause, wenn nicht dort, wo man sich auf längere Zeit einzurichten versucht – mochte der Tag bereits begonnen haben. Orient – ein weiter Begriff. Er überholt zuweilen das, was man früher den Okzident genannt hat. Der abendländische Tag, auf den das nach Westen erweiterte Morgenland hier noch wartete, würde bereits seine ersten Frühverkehrsspitzen erreicht haben. Das Zentrum des Geschehens … Und war es auch nicht zentral für das Weltgeschehen, so vermittelte dort die Dynamik, die zuweilen zur Hektik wurde, die Bestätigung, dass sich alles vorwärtsbewegt, in neuen Produktionslinien, in Innovationen und in einer ständigen Weiterentwicklung der Technik, und die gemeinsam geteilte Annahme, dass nur fortdauernde Veränderung das Leben ausmachen kann.
Hartmut Klemner war in seiner Heimat nicht in einem Beruf beschäftigt gewesen, den man der produktiven Wirtschaft zuordnen würde, doch in jenem Bereich, der von der vormaligen Zentraladministration nach Jahren wirtschaftsliberaler Vorherrschaft nunmehr zur unterstützenden leichten Verwaltung mutiert war. Der Staat hatte sich immer mehr aus dem täglichen Leben seiner Bürger verabschiedet und die meisten obrigkeitsbezogenen Tätigkeiten etlichen nicht minder strengen, dafür roboterartigen und gut bezahlten Privatfirmen überlassen. Lediglich seine persönlichen Kontakte zu maßgeblichen Politikern der die Regierungsgeschäfte nun seit Jahren wahrnehmenden Partei hatten Hartmut Klemner davor bewahrt, mit noch nicht ganz fünfzig Jahren in die Abfindungspension geschickt zu werden und so die Heerscharen braun gebrannter und sportlich hochaktiver Frühpensionisten zu verstärken. Er hingegen wurde ausgesandt, an einen Außenposten, einen Ort, von dem man vor einigen Jahrhunderten noch gesagt hätte, er liege am Rande der Welt, denn weiter draußen im Meer, jenseits des Horizonts, breche die Welt endgültig ab. Ein Außenposten, der nichtsdestoweniger bedeutend sei, wurde ihm vermittelt, denn nur wenn man die Peripherie kenne, wisse man, was auf den Nabel der Welt, unsere Heimat, wohl zukommen mochte. Sein Auftrag war unklar geblieben, keine besondere Botschaft war ihm mit auf den Weg gegeben worden, sieht man vom formalisierten Empfehlungsschreiben ab, das er in einem im Allgemeinen unnahbaren und ihm nur für sehr kurze Zeit geöffneten Palast übergeben hatte. Unklar war damals auch sein Abschied geblieben, Abschied wovon – von der Welt von heute und morgen, um in eine Welt von gestern einzutauchen, ein Gestern, das nicht sein eigenes Gestern war, ja nicht einmal das Gestern der ihm vertrauten Umwelt? Abschied von einer Familie, die ihm nichts mehr bedeuten durfte, da er ihr nichts mehr bedeutete, denn zu gering ausgeprägt waren jene Eigenschaften, die seine Partnerin gerne an ihm gesehen hätte, sodass sie ihn schließlich mit einem sportlichen, aufstrebenden Jungunternehmer ausgetauscht hatte, der seine Erfolge nicht nur am Tennis- und Golfplatz, sondern auch in Bilanzzahlen unter Beweis stellen konnte. Woran hätte sie Hartmut Klemner, den sie seit geraumer Zeit nur noch Klemi oder, wenn sie schlecht gelaunt war, Klempner nannte, messen können? Zu Beginn des gemeinsamen Lebensabschnittes – aus dem davorliegenden hatte sie einen Sohn in die Partnerschaft eingebracht, quasi als persönliche Einlage, wie sie scherzhaft betont hatte – hatte sie noch auf steigende Aktienkurse des Staates und seiner Verwaltung gesetzt, doch erwies sich das bald als Fehlkalkulation, spätestens zu dem Zeitpunkt, als sich die Republik in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung verwandelte.
Die Frau hatte dem Untüchtigen klargemacht, dass wieder ein Lebensabschnitt vorbei war. Der Trennungsschmerz hätte sich für ihn in Grenzen gehalten, wäre da nicht das Kind gewesen, das zwar nicht sein eigenes war, das er aber in den letzten Jahren sehr lieb gewonnen hatte. Der Knabe, gerade sechs Jahre alt geworden und bereits in die Schule eingetreten, schenkte Hartmut zum Abschied eine Zeichnung, aus der dieser zunächst ein festgehaltenes Familienidyll aus früheren Zeiten zu erkennen vermeinte. Doch oberhalb der drei einander die Hände haltenden Personen war ein seltsam anmutendes Gebilde, wenngleich von geringer Größe, so doch bedrohlich erscheinend, zu erkennen. Dies sei nicht der Maikäfer auf seinem Flug ins Pommerland, sondern ein Bombenflugzeug, das gerade auf seinem Weg zum Zielort unser Land überquerte, damit es dort unten den Frieden herbeibomben könne, erklärte unbefangen das Kind. Hartmut empfand dieses Gebilde eher als eine unmittelbare persönliche Bedrohung, eine Fledermaus, die, zu früh unterwegs, die nahende Nacht ankündigt. Oder waren es nicht doch eher die Schwingen eines Greifvogels, der Menschen entführt und an fremde Orte bringt?
Erst vor ein paar Tagen war ihm das Bild wieder in die Hände gefallen, als er einen weiteren einsamen Abend mit viel Alkohol zu überwinden suchte. Die dabei aufkommende Leichtigkeit hatte es ihm ermöglicht, sich wieder einmal dem Schrifttum seiner Vergangenheit zu stellen und alte an ihn gerichtete Briefe durchzusehen. Neben Verheißungen aus der Vorvergangenheit lag oben im Schuhkarton die Zeichnung, die ihn nun erneut mit Unruhe erfüllte. Der bedrohliche Gegenstand darauf schien ihm noch größer geworden und ins Zentrum des Bildes gerückt zu sein, ja, fast hatte er die drei dargestellten Personen verdrängt.
Durch die zögernd einsetzende Morgendämmerung machte er den Gleitflug eines Storches aus, der aus seiner Nachtruhe aufgestört worden sein musste und ebenso wie er selbst verfrüht dem neuen Tag ausgesetzt war. Um wie viel leichter sich hier die Tage anließen. Die morgendlichen Verkehrsstaus, von denen auch diese Stadt nicht mehr verschont wurde, geduldig ertragene Unvermeidbarkeiten des Alltags, die nur vom Ritual der Hupkonzerte und südländischen Temperament begleitet waren, nicht aber die innere Unruhe erzeugen vermochte, die er von zu Hause gewöhnt war. »Wir fließen hier in der Zeit eingebettet, nicht gegen ihren Strom, und so haben wir sie in unserem Besitz«, hatte ein Angehöriger dieses Landes erst kürzlich dem Vertreter jenes Landes erklärt, das den globalen Uhrenmarkt in der Hand hält, worauf dieser resignierend zur Einsicht gelangte, die Schweiz habe wohl die Uhren, dieses Land hier aber die Zeit.
Hartmut fühlte sich verloren. Der Weg aus der Vergangenheit war unterbrochen, die Gegenwart war ihm entglitten. Er wollte nicht wieder in die Nacht und ihre Träume zurück, die Träume, die ihn aus der Vergangenheit eingeholt und ihm das Erwachen so schwer gemacht hatten, denn es war ein Erwachen aus seinen vergangenen Möglichkeitsformen. Die Leiber ferner Geliebter suchten seine Träume heim und führten ihm schmerzhaft vor Augen, was alles hätte möglich sein können, hätte er es nur gewagt, ja, nur gewollt. Zwanzig Jahre schienen stillgestanden zu sein, ein Phänomen, das ihm erst in diesem Land, dem Outpost fernab des innovativ geschäftigen Treibens seiner Heimat, begegnete. Die wispernd geflüsterten Verheißungen all jener Mädchen, die ihm einst Gleichgültigkeit gezeigt oder nur vorgespielt hatten, die in seinen Träumen nicht gealtert erschienen, begannen auch seine Tage zu umfloren. Ja, ein Flor war es, wenn die Verheißungen der Nachtträume den Selbstvorwürfen der Tagesrealität wichen – warum hatte er nicht damals so gehandelt, wie es in den Träumen der Gegenwart angebracht schien? Alles wäre so einfach gewesen, wäre da nicht sein Selbstzerstörungstrieb gewesen, der bereits greifbare Erfolge zum Scheitern gebracht hatte. Es war gewesen, als hätte er sich damals beweisen wollen, das Schicksal aus eigener Willenskraft selbst gestalten zu können, was nur möglich war, wenn alle positiven Voraussetzungen vorhanden waren, seine Wünsche zu erfüllen, und es nur noch an ihm lag, den Gewinn zu realisieren. Seine letzte Partnerin hatte ihm diese Haltung vorgeworfen. Vielleicht war es für sie auch ein Grund gewesen, mit ihm Schluss zu machen, als sie erkannte, dass in seinem Leben nur das Unverwirklichte und nicht mehr das Verwirklichbare zählten.
Das Kind kam ihm wieder in den Sinn.
Teils traurig, teils sehnsuchtsvoll blickte es ihm aus einer imaginären Welt entgegen, die aus dem Strudel der Zeit herausgeworfen worden war. Der gleiche Ausdruck war auf seinem Gesicht erschienen, als ihm Hartmut einmal eine Geschichte zum Einschlafen erzählt hatte, eine Gutenachtgeschichte, deren Schluss zum Guten für das Kind nur ein vermeintlich guter war. Warum könne denn das Sterntalerkind, das so reich belohnt wurde, nicht wieder zu den Menschen in die Stadt zurück? Warum müsse es in den Sternen aufgehen, die so weit entfernt blinken? Zumindest ließ der Schluss diese Vermutung zu. Verbannt in die für manche verheißungsvoll blinkende Ferne. Hartmut versuchte wohl, einen weiteren Schluss hinzuzuerfinden, der die Verbindung mit den Menschen wiederherstellt. Doch der Knabe schien entrückt, schon in die Luft anderer Planeten eingetaucht, ehe sich seine Augen schlossen und er endgültig in der Traumwelt aufgenommen wurde.
Die Traurigkeit, die uns umgibt, bevor wir wieder von unseren Träumen empfangen werden, ein zartes Gespinst einander durchdringender Stimmen, die uns verlockend zuzurufen scheinen. Doch tatsächlich bleibt alles stumm und kein Laut tönt durch den Schleier unserer Träume. So blieb Hartmut auch die Stimme des Kindes versagt, noch hörte er Stimmen anderer in sich ertönen.
Die letzten Sterne am Horizont des nördlichen Himmels erloschen endgültig, und Blau in allen Schattierungen breitete sich aus, so rasch, als würden Wellenkämme über den Himmel ziehen, die zu einer endgültigen Entladung des Lichtes führen sollten. Nur kurz war der rötliche Schimmer des Morgens am Horizont, ehe er vom Weiß des Tageslichts aufgesaugt wurde und somit keinen Anlass für Aufsehen und Schrecken mehr geben konnte. Geräusche drangen von der nahen Straße in den erwachenden Garten und vermischten sich mit den eindringlichen Vogelrufen, die kadenzierend den Tag begrüßten. Bald lag ein Geräuschteppich um das Haus und beschwichtigte auch Hartmuts spätnächtliche Unruhe. Der nächste Ruf des Muezzins würde nun gegen die Geräusche der Welt anzukämpfen haben. Erste Sonnenstrahlen fielen in den Garten, der kunstvolle Gärtnerarbeit erkennen ließ.
Hartmut entkleidete sich gänzlich, um sich den ersten Sonnenstrahlen, den noch erträglichen, auszusetzen und gleichzeitig die noch frische Luft mit allen Poren seines nicht mehr jungen Körpers einatmen zu können.