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2. HAMID
NACH DEM MORGENGEBET

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Es mochten wohl die ersten Vogelstimmen sein, die aus dem noch unvollkommenen Morgen drangen, nicht mehr das Zirpen der lichtscheuen Fledermäuse. Es mochten wohl auch die realen Erinnerungen der letzten Tage sein und nicht die Nachwehen irgendwelcher Traumeswirren, die in ihm jetzt aufstiegen. Doch den Morgentau auf seinen Händen zu spüren war er noch nicht bereit. Vor Kälte zitternd band sich Hamid seine Arbeitsschürze um. Noch nie war er so früh im Garten erschienen – der Wächter hatte ihn kaum einlassen wollen –, zumindest hatte er immer gewartet, bis der Verkehrslärm ihn aus seinem Schlaf weckte. Doch diesmal war es tatsächlich der Ruf des Muezzins gewesen, so wie es auch sonst hätte sein sollen.

Der Auftrag des Propheten – oder war es ein göttlicher Auftrag, der ihn aufzustehen geheißen hatte, verkündet aus dem Mund des Ibn Bakr, jenes jungen Geistlichen, der die Gläubigen seit geraumer Zeit in seinen Bann zog, auch jene, die vom rechten Weg des Glaubens abgekommen waren. Glänzende Augen, die Blitze aussandten, zur Gänze in sich gekehrt, und den Außenstehenden nur ein leuchtendes, doch auch todverkündendes Weiß zeigend, wenn sie nach innen sahen und in die Trance des Glaubenseifers verfielen, beredte Gehilfen einer zunächst wohltönend und vertrauenserweckend erklingenden Stimme des großen Bruders, der all sein Wohlwollen und seine Sympathie mit den am Rande dieser großen Stadt in den Hütten des Elends Leidenden anbot. Mit den Verheißungen des künftigen Paradieses kamen auch die Forderungen der Religion einher, modulierend dann die Stimme, die sie verkündete. Die Tonlage änderte sich mit fortschreitender Predigt, bis sie einem Stakkato von Maschinengewehrgarben glich, die vielstimmig in hoher Tonlage seinen Mund verließen und den Kampf um die Reinheit des Glaubens verkündeten, Stärkung bis zum nächsten Freitag, denn die Reinheit ist nur durch Waschungen im Blut zu erlangen.

Wie im Traum verließ Hamid diese Predigten, die sich jedes Mal zu überbieten schienen und die Gläubigen zusehends in innere Ekstase versetzten, denn sie harrten noch lange nach dem Gebet reglos aus. Die Unrathaufen auf den Pfaden zwischen den Wellblechhütten, die den bereits Glücklicheren dieses Slums Haus und Hof waren, die streunenden Hunde und zerlumpten Kinder, sie waren Hamid vertrauter als das Treiben auf den Prachtstraßen des Zentrums der Stadt, wohin er nur selten fuhr, denn ihm wurde dort jedes Mal im Angesicht der Weite und der wie Schnee und Eis in der Sonne glitzernden Fassaden der Glaspaläste kalt. Auch die mit Brettern und Kartons geflickten Unterkünfte der noch Ärmeren, ja selbst die Schlafstätten der Allerärmsten, die ihre Nächte im Freien zubrachten, wenn in den großen Betonröhren der nahen Baustelle kein Platz mehr war, wurden ihm zur paradiesischen Medina. Trüb dahinfließende Kloaken mit stechendem Gestank zogen durch die organisierte Ansammlung des menschlichen Unvermögens, mit den Erfordernissen der Zeit Schritt zu halten. Doch wenn Hamid vom Prediger der Weg ins Paradies gezeigt worden war, konnten ihm selbst diese Rinnsale wie Bäche voll Milch und Honig erscheinen.

Er selbst wohnte nicht in diesem Viertel, doch die Predigten, die allwöchentlich aus der kleinen behelfsmäßigen Moschee klangen, zogen ihn dorthin, und in der Gemeinde der Gläubigen wurde er wie einer der Ihren aufgenommen. Hamids eigene Familie betrachtete sein Tun mit Argwohn. Hatte nicht sein Bruder ihm die Stelle als Gärtner bei dem reichen Ausländer verschafft, ihm, der begnadete Hände für alles besaß, was lebte und wuchs? Was sollten die Pilgerwanderungen in den Slum, der Abstieg hinab ins Fegefeuer der Unglücklichen?

Seinem älteren Bruder, der als Koch bei einem Regierungsangestellten arbeitete, war Hamids Verfangensein mit dem Slumprediger ein Dorn im Auge. Sollten diese Gepflogenheiten bekannt werden, so sagte er, dann müsste er selbst um seine Stellung bangen, denn die Sicherheit der Reichen und Regierenden wurde streng überwacht, und von den Slums, die sich der Überwachung entzogen, drohte Gefahr.

Hamid fiel die Auseinandersetzung mit seinem Bruder am Vorabend wieder ein, als er sich seinen Tee aus einer mitgebrachten Thermoskanne eingoss. Aus den aufsteigenden Dämpfen blickte ihn im zornigen Gesicht des Älteren der Vorwurf an, sie alle um ihre Stellungen bringen zu wollen.

»Aber ich verlasse diese Predigten stets gereinigt und gestärkt, nichts kann mir etwas anhaben, und bestimmt auch nicht meinen Verwandten«, hatte Hamid entgegnet, doch es hatte nichts genutzt.

Als die Sonnenstrahlen das Geflecht der Äste durchbrachen und sich Hamids in der Kälte zitternder Körper beruhigte, hob er den Blick und musterte den Garten, den er als seinen eigenen betrachtete, denn mit den eigenen Händen hatte er ihn gestaltet und ihm eine Seele verliehen. Die Herren des Gartens wechselten einander in gleichmäßigen Abständen ab und blieben ihm unbekannte Gestalten, die ihm Anweisungen gaben, manche ausführlicher, andere jedoch gar nicht, was auch gut war, denn sie hätten mit ihren eitlen Wünschen nach besonderer Prachtentfaltung nur das Gleichgewicht des Gartens gestört.

Dieser Garten war in kleinen Vierecken angelegt, die durch schmale Wege voneinander getrennt waren. Über niedrigen Sträuchern, Malven, Jasminen und Oleandern, erhoben sich kleine Orangenbäume und Stechpalmen, darüber wiederum mächtige Dattelpalmen und Jakarandas, die bereits vor Generationen gepflanzt worden waren, offenbar noch vor Anlage des Gartens. Ein kleines Wasserbecken bildete den Mittelpunkt des von einer hohen Mauer umfassten Gartens. Gegenüber dem Haus war ein Brunnen in der Mauer eingebaut. Der Brunnen war längst versiegt, dennoch vermittelte er das Gefühl von Frische, vor allem zur heißesten Zeit. Jetzt schimmerte noch Tau auf den kleinen Rasenstücken um ihn herum.

In den Gevierten des Gartens selbst lag die Erde zwischen den einzelnen Sträuchern und Bäumen blank und gab Hamid stets zu erkennen, woher er kam und wohin sein Weg führen würde.

Er hatte im schattigen Becken des Wandbrunnens seinen kleinen Vorrat an mitgebrachten Speisen untergebracht und holte sich von dort die erste Mahlzeit des Tages. In der Erde vor dem Brunnen lag etwas eingegraben, dessen er sich nur undeutlich erinnern wollte. Das morgendliche Gebet war ihm diesmal schwerer von den fast stummen Lippen gekommen als sonst, zu sehr schwang noch die Auseinandersetzung mit seinem Bruder am Vortag nach. Keinen Denar werde er hergeben, um Hamid bei der Werbung um die schwarzäugige Aischa zu unterstützen, deren Vater es zur Bedingung gemacht hatte, dass jeder, der seine Tochter heiraten wollte, ein eigenes Haus oder aber wenigstens einen beträchtlichen Geldbetrag vorweisen müsse. Die Liste der Bewerber war lang, und Hamid konnte sich kaum Hoffnung machen, auch wenn er meinte, dass Aischa seine Zuneigung erwiderte. Sie war ihm nur einige Male auf dem Markt begegnet, hatte damals seine Blicke erwidert. Ihre Augen hatten ihm mehr ausgesagt, als es Worte vermocht hätten, selbst jene des Ibn Bakr, ja sogar seine Predigten hätten gegen ihre Blicke nur schal gewirkt.

Aus den noch immer aufsteigenden Dämpfen des Tees war auch ihr Gesicht zu erkennen, das jenes seines Bruders zusehends verdrängte. Nicht verdrängen konnte er jedoch die Worte des Ibn Bakr, die dieser vor noch nicht allzu langer Zeit heimlich und in fast verschwörerisch anmutender Weise im persönlichen Gespräch ihm gegenüber fallen gelassen hatte: Prophezeiungen des Paradieses, wo ihm die anmutigsten Wesen zu Diensten und zur Liebe sein würden. Auf die weltliche Liebe brauche er gar nicht zu verzichten, denn man könne nicht auf etwas verzichten, das ohnedies nicht zu erlangen sei, womit er auf die aussichtslose, da nicht bezahlbare Verwirklichung seiner Verbindung mit Aischa anspielte. Doch die Verheißungen des Korans könne er bald selbst erleben, quasi leibhaftig, wenngleich der Leib von anderer Gestalt sein werde, als man es sich vorstellen könne. Das Wort »Martyrium« war ebenfalls gefallen. Der Geistliche räusperte sich dabei und senkte seine sonst laute Stimme. Ob er bereit wäre, sich als Kämpfer des Glaubens auszuzeichnen und der Reinheit der Lehre zu dienen? Hamid war wie immer von seinen Worten entzündet, sodass ihm die Stimme versagte und er nur begeistert nicken konnte. Was er dafür zu tun hätte, darauf wollte Ibn Bakr aber noch nicht eingehen. Er machte lediglich einige Andeutungen über die Feinde des Glaubens, die wie ein großer Polyp ihre Fangarme überallhin ausbreiteten, unter den Decknamen »Modernität« und »westliche Werte«. Mit ihrem sündhaften Satellitenfernsehen, wo sich die nackten Frauenkörper in eindeutigen Posen den Blicken von Millionen – auch gläubiger Muslime – darböten, mit ihren Restaurants und Hotels, wo der Alkohol fließe, und mit der von ihnen verfochtenen Trennung des Glaubens vom Alltag. Sie seien ärgere Feinde als es vor Jahrhunderten die christlichen Kreuzfahrer waren, denen man auf dem Schlachtfeld offen gegenübertreten konnte und wo die Fronten klar verliefen. Insofern habe er mit einer gewissen Wehmut und Anteilnahme die großen Kundgebungen und von Millionen besuchten Trauerfeierlichkeiten des letzten Papstbegräbnisses verfolgt. Heute hingegen zögen sich die Ideen des Feindes bereits durch die Köpfe so mancher Muslime, wodurch der Gottlosigkeit bei der Obrigkeit kaum noch Einhalt zu bieten sei. Doch die wahren Gotteskämpfer hätten sich nun erhoben – und auch für ihn, Hamid, schlage bald die Stunde. Mit tapferen Gleichgesinnten, bereit, ihr Leben gegen ein besseres zu tauschen, würde er ihn demnächst bekannt machen.

Ein leichter Zweifel durchfuhr Hamid. Ob denn nun die Aufopferung für den Glauben und dessen höhere Vollendung das Ziel sei oder die persönliche Befindlichkeit, die man durch die Reise ins Paradies verbessere. Doch diese Gedanken lösten sich rasch wieder auf und fielen der Faszination der Ausstrahlung des Geistlichen anheim. Dessen Worte, auch wenn er zur Solidarität der Gläubigen untereinander aufrief, von denen ein großer Teil darbte und auf ein besseres Leben hoffte, verklangen in der Folge nur sehr langsam in seinem Inneren, selbst wenn er sich unter dem prächtigen Bougainvilleastrauch im Garten des Fremden anderen Gedanken hingab. Wie konnte ihm selbst dieser Garten ein Paradies sein, so wie es ihm seine Familie einreden wollte, wenn jenseits seiner Mauern Not und Elend herrschten? Aber auch wenn er nur von ähnlichen Gärten des vermeintlichen Glücks umgeben gewesen wäre, nie hätte er sich geistig oder körperlich dieses Glück zu eigen machen können. Doch die Vorstellung, mit Aischa ganz verbunden zu sein und sie umgekehrt auch mit ihm, war berauschend, wobei er sich gleichzeitig der Aussichtslosigkeit seiner Wünsche bewusst war. Mit ihr im Slum zu leben, ausgeschlossen von den vermeintlichen Gärten des Glücks, selbst das erschien ihm als ein unerreichbares Ziel.

Der Tagtraum wich bald einer unangenehmen Erinnerung, die sich aus einem dunklen Hintergrund heraufdrängte. Nach der letzten Freitagspredigt waren sie zu ihm gekommen, Männer in schwarzen Anzügen, wie man sie noch nie in dieser Gegend gesehen hatte, und hatten ihn aufgefordert, mit ihnen mitzukommen. Unwillig und verängstigt war er in den kleinen Fiat eingestiegen, wo er eingezwängt zwischen zwei Bärtigen auf der hinteren Bank sitzend eine längere Fahrt auf sich nehmen musste. Am Rand der Stadt, dort, wo die abgewohnten Betonblocksiedlungen in Brachland und wilde Müllablagerungen übergingen, stiegen sie vor einem kleinen Café aus und gingen mit ihm in das dunkle Hinterzimmer, in dem er vor lauter Zigarettenrauch zunächst überhaupt nichts erkannte. Doch dann sprach aus den Rauchwolken heraus eine Stimme zu ihm.

»Bruder, wir haben dich schon erwartet, denn ohne deine Mithilfe ist unser Plan nicht auszuführen. Gott ist groß und hat dich zu uns gesandt, damit wir die neue Stadt errichten können.«

Hamid schwieg, auch wenn sein unsichtbarer Gesprächspartner offenbar auf eine Antwort von ihm wartete. Still war es in dem Raum, nur aus der Ferne war das Krähen eines Hahns zu hören und das Bellen der Hunde, die in den Müllbergen nach Nahrung suchten. Die Hitze im Raum war fast unerträglich und wurde in der Stille noch drückender. Da fasste ihn die Hand des bis dahin Unsichtbaren.

»Die neue Stadt im neuen Reich, in der wir alle in Glück und Frieden wohnen, auch diejenigen, die bereits ins Paradies vorausgegangen sind. Der neue Staat in einer neuen Welt, denn wir werden uns diese untertan gemacht haben. Glaubenskrieger werden die Siege errungen haben. Wenn wir früher in offener Feldschlacht die Kreuzritter vertreiben und uns wieder den Orient zu eigen machen konnten, so werden wir auch jetzt die letzte Schlacht gegen die Ungläubigen gewinnen. Diese Schlacht hat schon begonnen und bereits das Leben vieler Feinde gefordert. Aber nicht immer können wir Flugzeuge einsetzen oder Atomreaktoren sprengen. In diesem Land muss gezielt die Regierung vernichtet werden, und wenn es nicht die gesamte auf einmal sein kann, dann ein Verräter unseres Glaubens nach dem anderen.«

Der Mann schob eine Videokassette in das Gerät unter dem Fernseher, der neben ihm stand, und lud Hamid ein, sich zu setzen. Eingehüllt von religiösen Gesängen verfiel Hamid bald in einen Trancezustand, der auch anhielt, als aus dem Fernseher die Anleitungen zum Anlegen und zum Auslösen von Sprenggürteln ertönten. So musste es wohl auch sein, wenn Passagieren eines Flugzeugs das Anliegen der Sicherheitsgurte erklärt wird, wovon ihm sein Bruder erzählt hatte, nachdem er von seinem Flug zu den heiligen Stätten zurückgekommen war. Die Sicherheitsgurte für unseren Glauben, fielen ihm auch die Worte des Ibn Bakr ein, die dieser einmal verwendet hatte, als er darauf zu sprechen gekommen war, dass der Schutz des Glaubens wichtiger als der Schutz des Lebens sei, ja im Gegenteil, die Aufgabe des Letzteren oft für den Ersteren unabdingbar sei.

Als das Band zu Ende war, schoben ihn die Unbekannten wieder ins Freie hinaus. Hamid war mit einem kleinen, aber schweren Paket, mit Packpapier umwickelt und fest verschnürt, und einer ersten mündlichen Anleitung, wie dessen Inhalt zu einem bestimmten Datum an einem bestimmten Ort zu verwenden sei, hinaus in die Welt geschickt worden. Weiteres würde folgen. Die Rückfahrt verlief wie die Hinfahrt, keiner sprach ein Wort, als sich der Wagen mit hoher Geschwindigkeit durch den bereits dichteren Verkehr zu drängen suchte.

Die Sonne war höher gestiegen und bestrich den Garten fast zur Gänze mit ihrem heißen Licht. Hamid öffnete einen Wasserhahn und ließ Wasser durch die Gräben seitlich der Beete fließen, wo sich das schwache Rinnsal, mit Erde vermengt, bald zu Klumpen formte. Er stellte fest, dass die Wasserzufuhr wieder einmal abgesperrt worden war, was dieser Tage immer öfter vorkam, und nun ein wichtiger Teil seines Tagwerkes nicht ausgeführt werden konnte.

Die morgendlichen melodiösen Stimmen waren nervösem Gezwitscher gewichen, als sich die zahlreichen Katzen, die diesen Garten als ihr Revier betrachteten, auf die Jagd machten und die auf taunassen Rasenstücken nach Würmern pickenden Vögel zu fangen suchten. Hamid verfolgte ihre Bemühungen mit Anspannung. Die starren Augen, auf die Beute gerichtet, erinnerten ihn plötzlich an Ibn Bakr. Schuldbewusst, sich solchen Gedanken hingegeben zu haben, riss sich Hamid zusammen, griff nach dem Spaten und begann seine Arbeit.

Ein Garten zweier Welten

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