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ОглавлениеDer Arbeitsvertrag mit NANO war für Eve White und Toku Namashida zu Ende.
Nach einem arbeits- und ereignisreichen Jahr waren sie dabei, ihre Wohneinheit zu räumen und die persönlichen Gegenstände zusammen zu packen.
Die wissenschaftlichen Arbeiten waren längst in den Datenbanken von NANO gespeichert, Termine für Nachbesprechungen auf der Erde fixiert und neue Aufgaben anvisiert.
In zwei Tagen würden sie Ticity verlassen und an Bord eines Transporters der Company gehen, der sie zur Erde bringen würde.
„Eigentlich ist es komisch“, lachte Eve, „Im Moment freue ich mich am meisten auf Regen, Wolken und Wind.“ Sobald ich das Englische Wetter dann Live erlebe, wird mir sicher der Titan abgehen und ich werde an Methan und Ammoniak denken.
„So komisch ist das gar nicht“, antwortete Toku ebenfalls telepathisch, „Ich glaube der Mensch wünscht sich immer das am Meisten, was er gerade nicht hat.“
„Daher wünsche ich mir nun, dass wir schon bei Gerry wären und endlich im Detail erfahren würden, was sich bei den PM´s inzwischen getan hat.“
„Mona wird, nachdem sie alle Prüfungen bestanden hat, in 4 Monaten ebenfalls zur Erde kommen, um dort ein Studium zu beginnen. Zwischen ihrer Ankunft und dem Semesterbeginn besteht eine gute Chance, einige Zeit für ihre PSI-Ausbildung zu verwenden.“
„Ich habe hier schon mit ihr geübt. Den Block beherrscht sie schon ganz gut.“
„Sie ist überhaupt ein liebes Mädchen. Gespannt bin auch, ob Gerry mit dem PSI-Tester noch weitere Fähigkeiten feststellen kann.“
Heute trafen die Beiden noch alle ihre Bekannten, Arbeitskollegen und einige, wenige Freunde. Im Lauf des Jahres auf Titan hatten sie natürlich viele Leute kennen gelernt, aber eine natürliche Vorsicht hatte verhindert, dass sie mit irgendjemand allzu vertraulich wurden.
Toku Namashida kramte in seinem Schrank. „Hmm“, brummte er, „Sie stellen dir hier alles Mögliche zu Verfügung, aber was man für die Rückreise eher einpacken, oder eher anziehen soll, sagt einem niemand.“ Er machte ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter.
„Du kannst jedenfalls davon ausgehen, dass du niemals ins Freie kommst und es vermutlich permanent 22 Grad Celsius hat. Was also machst du dir Gedanken?“, lachte Eve.
„Ich mache mir alle möglichen Gedanken.“ Telepathisch setzte er hinzu: „Am meisten beunruhigt mich, dass wir ständig aufpassen müssen, wer uns über den Weg läuft.“
„Geht mir genauso. Aber inzwischen tröste ich mich mit der Vorstellung, dass uns beiden gemeinsam niemand so schnell ein X für ein U vormachen kann. Schließlich sind wir erstens gewarnt, und zweitens haben wir ein paar Sinne, die zusammen ganz schön was bewirken können.“
„Hast ja Recht. Komm, lass uns auf die Abschlussparty von deiner Abteilung gehen.“
Toku und Eve verließen ihre Wohnbox und machten sich wie immer auf den Weg zu Lift und Vakbahn.
Als sie in 73 Gelb eingetroffen waren und Eve alle diejenigen vorgestellt hatte, die Toku noch nicht kannte, nahmen sie in bequemen Stühlen Platz. Ein Sekretär brachte ein Tablett mit Brötchen und frisches Gemüse mit Snacksaucen. Eve zauberte 2 Flaschen Wein aus ihrer Tasche und schon bald erfüllte fröhliches Stimmengewirr den Raum.
Plötzlich stutzte Toku. Er hatte die Spur eines >gerichteten< Gedankens aufgefangen.
Jemand näherte sich der Außentür von Eves Abteilung und dachte intensiv über Mutationen nach. Brockenweise bekam Toku mit, dass der Besucher auf der Suche nach jemandem war, von dem er selbst nicht genau wusste, wie derjenige denken würde; wie er auf ihn reagieren würde.
Toku ergriff Eve vorsichtig beim Oberarm.
„Gefahr“, raunte er ihr ins Ohr. „Höchster Block!“
Er getraute sich nicht, seine telepathische >Stimme< zu benutzen. Zu groß war die Gefahr, dass sie abgehört wurden.
Ein Mann betrat den Vorzimmergang, welcher zu den Büroräumen führte. Er war in das alltägliche Ticityblaugrau gekleidet, hatte eine weiße Hautfarbe und kurze, rote Haare. Er war von hagerer Gestalt und sah sich aufmerksam um. Dabei machte er den Eindruck von jemand, der sich bemühte, so unauffällig wie ein Luftballon bei einer Kinderparty auszusehen.
Toku esperte vorsichtig und bemerkte, dass der Mann begonnen hatte, durch die Glasscheiben hindurch, die einzelnen Anwesenden aufs telepathische Korn zu nehmen. Offensichtlich wollte er herausfinden, was der Grund für die Party war, wer die Teilnehmer waren und ob er etwas Interessantes für seine Auftraggeber finden konnte. Für das Bruchstück einer Sekunde hatte er bei Auftraggeber an die USA gedacht.
Toku hatte inzwischen begonnen, ein lustiges Detail aus seinem Arbeitsbereich zum Besten zu geben, was die allgemeine Aufmerksamkeit auf seine Person lenkte. Eve war aufgestanden und tat, also wolle sie noch eine weitere Flasche aus ihrer Tasche holen.
Dabei esperte auch sie nach dem unbekannten Eindringling.
„Ich muss mal für kleine Mädchen“, warf sie den näher an der Tür sitzenden Kollegen zu und betrat den Gang vor den Büroräumen.
„Hallo“, sprach sie den dort so unauffällig wie möglich weitergehenden Mann an. „Haben Sie sich verlaufen? Zu wem möchten Sie denn?“
Sie spürte, wie der Mann gegen ihren Block prallte und dann verwundert aufkeuchte. „Sie denken nicht….. Ich kenne niemand, der nicht denkt“
In diesem Moment erhob Eve ihre Suggestorenstimme. „RUHIG STEHEN BLEIBEN, KEINEN LAUT.“
Der Mann versuchte sich zu bewegen und es gelang ihm, zwei kleine Schritte auf sie zu zumachen. Etwas hämmerte gegen ihren Block.
„RUHIG STEHEN BLEIBEN. DU KANNST DICH NICHT MEHR BEWEGEN.“ Gleichzeitig versuchte sie zu espern, wer er sein könnte und um was es ihm eigentlich ging.
In diesem Moment spürte sie, wie eine unsichtbare Kraft, sie am Weitergehen hinderte. Sie blieb bewegungslos stehen und versuchte ihren Block auf das höchste verfügbare Maß zu erhöhen.
Die Schnur des Vorhangs bewegte sich ruckartig auf sie zu und begann eine Schlinge zu bilden.
„DU KANNST DICH NICHT BEWEGEN UND DIE TELEKINETISCHE KRAFT NICHT MEHR EINSETZEN.“
Eve sah, wie die Schnur langsam zu Boden sank. Während sie noch überlegte, wie sie jetzt Toku um Hilfe rufen sollte, spürte sie, wie eine mächtige Kraft neuerlich gegen ihren Block pochte. Sie hatte das Gefühl, als ob jemand mit einem Vorschlaghammer auf ihr Schädeldach eindreschen würde. Sie versuchte ein weiteres Mal ihre Suggestion: „DU KANNST, KANNST, KANNST ….“, kreischte die unhörbare Stimme mit dem Klang eines heftigen Erdbebens.
Block, halte den Block.......
Die Vorhangschnur hob sich wieder vom Boden.
Block, Block .....
In diesem Augenblick berat Toku den Vorraum und Eve konnte seine Gedanken wie einen riesenhaften Strom gegen den Block des Mannes anbranden hören: „Wer bist du, was willst du, öffne deinen Block.“. Nur Sekunden später kam eine zweite, noch mächtigere Welle: „Öffne den Block, öffne den Block, öffne …“ Tokus Gedankenflut fühlte sich auch für Eve an, wie ein Tsunami, der gegen eine Fischerhütte prallt.
Die Vorhangschnur fiel zu Boden. Eve taumelte überrascht von dieser PSI-Gewalt zur Seite. Bevor Toku dazu kam, seinerseits mit telekinetischen Kräften nach dem Mann zu fassen und gleichzeitig seinen eigenen Block in höchster Abwehrbereitschaft aufrecht zu halten, drehte sich der Mann auf dem Fuß um und stürzte aus dem Raum.
Toku kümmerte sich um Eve und ließ den Mann fliehen.
„Was hast du, bist du in Ordnung?“
„Ja, es geht schon wieder“, keuchte Eve. Es war völlig überraschend.“
In diesem Augenblick betraten einige Kollegen den Vorraum.
„Hallo Eve, du machst ja ein Gesicht, als ob dir der Leibhaftige begegnet ist.“
„Eve, Toku, was macht ihr denn hier draußen?“
„Wollt ihr schon gehen?“
„Wird gut sein, wenn wir möglichst schnell verschwinden, Eve.“
„OK, es geht schon wieder. Ich werde mich bald verabschieden.“
„Es ist nur ein Zufall, dass Toku und ich zur gleichen Zeit keinen Platz mehr für den Wein hatten“, grinste Eve und die Kollegen stimmten ein fröhliches Lachen an.
„Wir helfen euch noch, den Feind Alkohol zu vernichten“, meinte Toku übers ganze Gesicht feixend, „aber dann haben wir noch eine weitere Verabredung, bevor wir morgen fertig einpacken und die Checks machen müssen.“
Sie gingen wieder in die Büroräume zurück und versuchten, sich nichts von dem Zwischenfall anmerken zu lassen.
Nachdem die Getränke und Snacks bald aufgebraucht waren, löste sich die Büroparty mit vielen Glückwünschen und Händeschütteln auf.
Kaum hatten sie Eve´s Büro verlassen und sich wieder auf den Weg zur Vakbahn gemacht, meinte Toku: „Jetzt haben wir den Salat. Jemand hat uns ausgeforscht und konnte entkommen. Er wird seinem Auftraggeber melden, wer wir sind und was wir können.“
„Da bin ich nicht so pessimistisch. Der ist in Panik geflüchtet.“
„Aber, er weiß ja, in welchen Büros er zu suchen, oder nachzuforschen hat.“
„Im Moment hatte ich den Eindruck, dass er keinen so guten Block hatte, als ob er von Gerry, oder Freunden ausgebildet worden wäre. Außerdem war er selber am meisten überrascht.“
„Das mag schon sein, aber sobald er seine 7 Sinne wieder beisammen hat, wird er dafür sorgen, dass wir erwischt werden.“
„Und was schlägst du vor?“
„Wir müssen dafür sorgen, dass er uns nicht verraten kann und unsererseits nach ihm suchen.“
„Und was machen wir, wenn wir ihn gefunden haben?“
„Nun, dieses Mal lassen wir ihn nicht entkommen und vielleicht kannst du ihm dann etwas suggerieren, was ihm einen Verrat unmöglich macht?“
„Ich bin aber Suggestor und kein Hypno. Du weißt ja, ein Hypno kann einen posthypnotischen Block setzen, die Beeinflussung eines Suggestors reicht nur für den Augenblick und während des Kontakts. Dafür wirkt sie schneller.“
„OK, aber hast du einen besseren Vorschlag?“
„Ich denke, wenn wir etwas über seine Auftraggeber herausfinden würden, wäre den PM´s am Meisten geholfen.“
„Versuchen wir doch beides!“
„Wir haben wohl nicht viele Alternativen.“
Als sie ihre Wohnbox erreicht hatten, fragte Toku: „Wo fangen wir an zu suchen?“
„Dasselbe habe ich auch gerade überlegt. Wenn er jemand wäre, der auf Dauer hier stationiert wäre, dann würde er systematisch vorgehen, da er ja mehr Zeit hätte, War´s ein Zufall?“
„Ich glaube nicht. Also doch systematisch?“
„Wenn ja, dann versucht er vielleicht der Einfachheit halber, jeweils die Abreisenden zu espern. Wer kann über diese Gruppe Bescheid wissen?“
„Viele Leute. Am ehesten die Personalstelle.“
„Kennst du da jemand?“
„Vermutlich nur die Gleichen wie du.“
„Also, die, welche für An- und Abmeldung sorgen, die Wohneinheiten einteilen, das Gehalt berechnen, den Kontakt mit den Transporteinheiten halten, und so weiter.“
„Oder direkt die Transportleute.“
„Oder diese. Fangen wir halt einmal bei der Personalstelle an. Da müssen wir ohnehin morgen hin. Wir könnten also schon jetzt hinfahren und im Zweifel sagen, wir hätten was verwechselt.“
„OK, dann beginnen wir gleich. Personal ist auf 16 Grün.“
Die Vakbahn brachte Sie von den Zentralliften der Ebene 20 in den Sektor Grün, von wo sie in die Ebene 16 wechselten.
Eve und Toku gingen ein paar Schritte von den Rolltreppen zum Eingang der Personalstelle, und bereits unterwegs versuchten sie zu espern.
„Nichts!“, sendete Toku nach kurzer Zeit.
„Bei mir auch nicht. Alle denken an ihre Arbeit, niemand an feindliche Mutanten, oder so ähnlich.“
„Er muss aber keineswegs gerade Dienst haben. Schließlich war er noch vor zwei Stunden in einem Büro, wo er absolut nichts zu suchen hatte.“
„Versuchen wir´s bei Transport?“
„Nein. Zuerst besorgen wir uns hier eine Liste der Mitarbeiter und deren Wohnblocks.
„OK, ich gehe rein und stell mich dumm an. Du findest einstweilen heraus, wer so eine Liste hat und wie wir erfahren können, wer heute dienstfrei ist.“
„Einverstanden.“
Eve betrat den Büroblock und sprach das Net an: „Net, wo finde ich den Zuständigen für das Personal, das hier arbeitet?“
Das Net antwortete prompt: „Bitte begib dich auf Gang 3, Zimmer 328 und wende dich an Mrs. Murray.“ Eve wendete sich zur Gabelung der Gänge in der Nähe des Eingangs, Net ließ einen Hinweispfeil bei Gang 3 aufblitzen, der verlosch, als Eve in den richtigen Gang abbog. Nach wenigen Schritten hatte sie Zimmer 328 erreicht, klopfte und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten. Das war ja viel einfacher gewesen, als sie sich das vorgestellt hatten. Offenbar waren hier die Sicherheitsmechanismen nicht ganz so streng, wie sie es auf Terra gewesen wären.
Eve erblickte eine ältere Frau, im Einheitsgraublau des Titans, die Brillengläser trug. So etwas hatte sie im Zeitalter der sich automatisch anpassenden Biookulare schon lange nicht mehr gesehen. Ein Schild auf ihrem Schreibtisch wies sie als Mrs. Murray aus, so dass sich sogar weitere Fragen erübrigten.
„GIB MIR EINE LISTE MIT NAMEN UND ADRESSEN JENER PERSONEN, DIE HIER ARBEITEN, ABER HEUTE NICHT ANWESEND SIND!“, kreischte die Suggestorstimme mit einer gedanklichen Wucht, die Mrs. Murray keine Zehntelsekunde an Gegenwehr denken ließ.
„Net“, sagte Mrs. Murray in jenem Tonfall, der das Net zum Befehlsempfang und zur Kontrolle der Autorisation veranlasste. „Gib mir die Namen und Adressen unserer Mitarbeiter, die heute keinen Dienst haben, auf den Schirm.“
Ein Signalton ertönte vom Bildschirm, um anzuzeigen, dass Net die Daten auf den Schirm geladen hatte.
„AUSDRUCKEN UND DIESES GESPRÄCH UND MICH VOLLKOMMEN VERGESSEN!“, befahl Eve und die befehlende Stimme der Kreissäge fraß sich in die Gedanken der unschuldigen Mrs. Murray. Hoffentlich klappt das, dachte Eve, denn das kommt einem Posthypnoseblock schon sehr nahe. Ich weiß ja, dass das bei Hypnos funktioniert, bei Suggestoren aber nicht.
Sie griff nach dem Blatt im Drucker und wiederholte sicherheitshalber so stark sie konnte: „DU VERGISST JETZT MICH, DIESES GESPRÄCH UND LÖSCHT DIE ANZEIGE AUF DEM SCHIRM. SOBALD ICH DEN RAUM VERLASSEN HABE, KANNST DU DICH AN NICHTS MEHR ERINNERN, WAS MIT MIR IM ZUSAMMENHANG STEHT.“
Eve ging hinaus und Mrs. Murray drückte sofort die Löschtaste. Eve verfolgte telepathisch die Gedanken Mrs. Murrays.
„Kopfweh….muss Harry anrufen…morgen Zusammenkunft mit Transport um 11:00 Standard… Kopfweh ..jetzt weiter …“
Erleichterung bei Eve und Toku, der natürlich von außen die ganze Szene mitverfolgt hatte, während er das Umfeld schützend esperte.
Eve kam heraus und meinte auf die Liste deutend: „Wir haben Glück. Das sind nämlich nur 12 Leute insgesamt. Da habe ich viel mehr befürchtet.“
„Ja schon, aber hast du auch die Adressen gesehen?“
„Shit“, kam die telepathische Antwort. „Viel weiter hätten die gar nicht auseinander wohnen können. Von 7 Rot bis 186 Gelb ist da alles vertreten.“
„Wie auch immer. Lass uns die Leute abklappern.“
Eve und Toku fuhren mit einem Zentrallift nach 186 Gelb, um sich von unten nach oben voranzuarbeiten. Als sie die angegebene Wohneinheit erreichten, gingen sie vorsichtig daran vorbei und esperten. Sie empfingen die Gedanken eines Mannes, der offenbar krank im Bett lag und mit dem Gesuchten nichts zu tun hatte.
Möglichst unauffällig kehrten sie um und hakten die erste Adresse gedanklich ab.
Bei der nächsten und übernächsten Adresse erging es ihnen ähnlich. Die Bewohner waren zwar zu Hause, kamen aber nicht als Attentäter in Frage.
Beim vierten Versuch in 139 Rot, ganz außen am Ende des Sektors, war in der fraglichen Wohneinheit gar niemand anwesend. Sie untersuchten daher die Gedanken der Personen in den umliegenden Wohnboxen.
„Kannst du etwas feststellen, Eve?“, fragte Toku.
„Vermutlich das Gleiche, wie du.“, antwortete Eve. „Keiner der Nachbarn denkt bewusst an den Bewohner der leeren Wohnbox. Wir müssten schon einen Nachbarn danach fragen, damit er uns entweder antwortet, oder wir die Antwort aus seinen Gedanken lesen könnten.“
In diesem Moment kam ein etwa 10 Jahre altes Mädchen um die Ecke, erblickte das fremde Paar und fragte höflich: „Kann ich ihnen helfen? Wen suchen sie denn?“
„Wir wollten dem Bewohner der Box 139 Rot 216 eine persönliche Einladung zu einer Geburtstagsfeier bringen, aber leider ist niemand zu Hause.“, antwortete Toku geistesgegenwärtig.
„Ooch, da wohnt eine alte Frau.“, meinte das Mädchen. „Wahrscheinlich macht sie gerade Besorgungen.“
„Danke für deine Hilfe“, versetzte Eve. „Das war sehr nett. Wir werden es einfach in einer Stunde oder so noch mal versuchen.“
Eve und Toku drehten sich um und schlenderten beiläufig, als hätten sie alle Zeit der Welt, Richtung Vakbahnstation auf Ebene 220 zurück.
„Was die wohl mit >alte Frau< gemeint hat?“, sinnierte Eve. „Wirklich alte Frauen gibt es auf dem Titan gar nicht.“
„Für eine Zehnjährige ist vermutlich alles alt, was älter als Zwanzig ist“, schmunzelte Toku. „Versuchen wir es an der nächsten Adresse.“
An der elften Adresse hatten sie schließlich Glück. Sie esperten einen Mann, dessen Gedankengut unter einem ziemlich dünnen Block verborgen war. Aufgrund ihrer bewussten Konzentration und Suche, wäre es kein großes Problem gewesen, den Block zu überwinden. Allerdings hätte der Mann das sofort bemerkt.
Sie zogen sich einige Schritte zurück, sahen sich um, ob sie in dieser fremden Gegend auffallen würden und berieten dann so gedanklich >leise<, wie möglich:
„Ich denke, wir gehen hinein und überwältigen ihn ganz einfach.“, meinte Toku.
„Und dann?“
„Dann wissen wir, wer seine Auftraggeber sind und was er eigentlich hier wollte.“
„Und dann?“
„Hmh…., na ja, nun ist klar, dass er in der Personalstelle arbeitet. Er wird also wissen, dass wir den Titan übermorgen verlassen. Vermutlich wird er seine Auftraggeber über uns informieren, wenn er das nicht ohnehin schon gemacht hat. Nachdem wir ihn jetzt verhört haben, sehe ich keine Möglichkeit, ihn weiter festzuhalten, oder ihn daran zu hindern, mit Terra Kontakt aufzunehmen.“
„Und wenn wir versuchen, ihn umzudrehen?“
„Wie willst du das denn hinkriegen?“
„Keine Ahnung. Aber das ist jedenfalls ein besseres Konzept, als einfach wieder nach Hause gehen.“
Sehr skeptisch meinte Toku: „Nun gut. Versuchen können wir es ja. Typische Frauenidee.“
„Hallo Toku!“ kam prompt die Antwort und erst im letzten Moment hatte Eve sich daran erinnert, wie das telepathische Äquivalent von >leise< aussah. „Wir versuchen es und du hattest überhaupt keinen zielführenden Vorschlag. OK?“
Sie gingen wieder zurück zur Adresse 104 Grün 44, stellten sich vor die Eingangstür und konzentrierten sich gemeinsam auf den Fremden.
„KOMM ZUR TÜR UND ÖFFNE!“ Die Suggestorstimme hatte einen gedanklichen Klang, wie wenn eine laufende Kreissäge unter eine Straßenbaumaschine gerät. Gleichzeitig warf Toku seine telepathischen Energien gegen den Block des Mannes.
Diesem gemeinsamen und unerwarteten Angriff hatte der Block nichts entgegenzusetzen. Er brach zusammen und die Gedanken des Mannes lagen frei vor ihnen. Er setzte sich zur Tür in Bewegung und nach einigen Schritten schwankten seine Gedanken in Verteidigungshaltung um. Bevor der Gedanke auch nur zu Ende gedacht war, wurde er von der Suggestorstimme abermals unter ihren Zwang gebracht, während gleichzeitig ungeheure Mentalfluten gegen seine Extrasinne anbrandeten und eine telekinetische Kraft, die wesentlich stärker war als seine eigene, seinen Körper umschlang und ebenfalls zwang, sich Richtung Tür zu bewegen.
Diesmal hatte der Mann endgültig keine Chance mehr und war völlig im Bann der beiden Mutanten.
„ÖFFNEN“, ertönte ein neuer Suggestionsbefehl:
Der Mann öffnete willenlos die Tür und Eve und Toku schlüpften hinein.
„ZURÜCK INS ZIMMER.“
Als alle drei im Wohnzimmer des Mannes waren fragte Toku laut:
„Wie heißt du?“
„Jean O`Connelly“
„Wir sind Toku Namashida und Eve White. Was wolltest du auf der Party? Sprich mit uns. Du weißt, dass wir es auf jeden Fall herausfinden würden.“
„Ich sage gar nichts!“ - „Ich soll bloß eure Namen melden.“
„Hör mal Jean“, begann Eve. „Dein ohnehin schwacher Block ist zusammengebrochen und während zu sprichst, denkst du etwas anderes. Lass das sein. Es ist lächerlich! Du sollst also unsere Namen melden? An wen?“
„Es gibt da eine Frau. Der soll ich es sagen.“ – „Vera Kaminsky in Tampa/Florida wartet auf meine Nachricht.“
Toku schaltete sich auch ein: „Du scheinst schwer von Begriff zu sein. Vera Kaminsky also. In Tampa/Florida.“
Nun war der Widerstand Jean O`Connelly´s endgültig gebrochen. Sprache und Gedanken waren ab diesem Zeitpunkt kongruent.
„Vera Kaminsky leitet eine Zelle der CIA, die sich damit beschäftigt, Mutanten in den USA zu finden und je nach Situation auszuschalten, beziehungsweise der Desequentzierung zuzuführen. Natürlich stößt sie dabei manchmal auch auf Leute außerhalb der USA. Aber sie arbeitet gut mit diesen zusammen.“
„Und wie ist sie dabei auf dich gekommen?“
„Reiner Zufall. Ich war in Orlando auf Urlaub und als ich bei einer Bank Geld abholen wollte, wurde ich telepathischer Zeuge der Vorbereitung eines Banküberfalls. Ich alarmierte ohne viel nachzudenken die Polizei und irgendwie übersah ich, dass ich die Polizei schon verständigt hatte, bevor der Überfall überhaupt richtig losgegangen war. Man hat dann die beiden Verdächtigen festgenommen, konnte aufgrund der Pistolen und Masken, sowie des Fluchtplanes im Auto der Gangster unschwer beweisen, dass der Überfall geplant, wenn schon nicht durchgeführt war. Nachdem es völlig unglaublich war, dass ich das alles wusste, ohne ein weiterer Täter zu sein, nahm man mich natürlich auch fest.
Irgendwann gestand ich dann, wie ich zu meinem Wissen gekommen war und plötzlich stand Vera Kaminsky im Vernehmungszimmer und versprach mir, mich loszueisen, wenn ich ihr helfen würde, andere Mutanten zu finden.“
„Und wann war das?“
„Vor zwei Jahren.“
„Und wie viele hast du schon gefunden?“
„Insgesamt Drei. Ihr wart heute der Vierte und Fünfte. Aber ihr wart auch die Ersten, die meine Fähigkeiten erkannt haben und auf mich losgegangen sind. Ich bin daher nach Hause geflüchtet, um einmal in Ruhe zu überlegen, was ich jetzt tun soll.“
„Was ist mit den Erwischten passiert?“
„Das weiß ich nicht. Damit hatte ich nichts zu tun.“
„Wieso bist du jetzt auf dem Titan?“
„Vera Kaminsky war der Meinung, dass man die Erde soweit wie möglich untersucht habe. Nur die Kolonien wären noch niemals untersucht worden.“
„Du hast also unsere Namen noch nicht gemeldet?“
„Ich hatte heute einen freien Tag und diesen genützt, die Abreisenden zu untersuchen. Dabei bin ich auch auf die Idee gekommen, Abschiedspartys in den Büros zu besuchen. Diese sind alle feuchtfröhlich und niemand hat meine Anwesenheit bemerkt.“
„Hast du schon einmal überlegt, was passieren wird, wenn du nun zu Vera Kaminsky zurück kommst?“, fragte Eve. „Einerseits bist du dann für sie ziemlich nutzlos, andererseits bist du ein Mutant; also jemand, den sie fürchten.“
Es entstand eine Pause in der Unterhaltung. Die Gedanken Jean O`Connelly`s waren nun nicht mehr zielgerichtet, sondern schweiften blitzschnell von einem Thema zum nächsten. „Zurück … Erde … Vera Kaminsky … arbeiten … was? … CIA … Spion … Mutanten … gibt es noch weitere? … Was wollen sie, was wollen die jetzt von mir?“
In diesem Augenblick mischte sich Eve wieder ein: „Meiner Meinung nach bist du ab deiner Rückkunft nutzlos, denn du hast selbst gesagt, dass man die Erde so weit wie möglich abgeklopft hat. Da der Titan die entfernteste Kolonie ist, wird man vermutlich die Näheren schon untersucht haben. Jetzt steht ein als gefährlich eingestufter Mutant vor einer CIA-Agentin. Was wird sie tun?“
Wiederum entstand eine Pause.
„Sie wird mich vielleicht auch zur Desequentzierung schicken?“
Toku sagte in einem möglichst nüchternen Tonfall: „Genau das wird sie tun!“
Jean O`Connelly sah sei beide einen Augenblick an: „Scheint, als hättet ihr einen Vorschlag. Ich weiß allerdings gar nichts über euch. Wieso seid ihr so stark? Wieso seid ihr noch nie erwischt worden?“
Eve setzte vorsichtig zu einer Erklärung an: „Es gibt eine Gruppe von positiven Mutanten auf der Erde, die noch nie versucht haben, aus ihrer Gabe Vorteile zu ziehen, die die Gesetze der Staaten in denen sie leben verletzen würden. Wenn du so willst, positive Mutanten im allerpositivsten Sinn. Diesen gehören wir an. Warum unsere Fähigkeiten besser ausgebildet sind als deine, liegt vermutlich daran, dass wir sie trainiert haben und uns gegenseitig Informationen dazu gegeben haben.“ Du warst hingegen allein auf dich gestellt.“
„Ich hätte gar nicht vermutet, dass es außer den von mir zufällig gefundenen Mutanten – die übrigens alle viel schwächer waren als ich, beziehungsweise gar nichts Genaues über sich selber wussten – noch andere, ausgebildete geben könnte.“
„Es gibt sie aber und zwei davon stehen vor dir.“
„Was wollt ihr tun? Ich habe nicht den Eindruck, als wolltet ihr nun einen Mord begehen.“
„Faktum ist, dass wir mit unserer Gruppe seit einem Jahr keinen Kontakt mehr haben und daher den letzten Stand der Entwicklung auch nicht genau beurteilen können. Da wir aber übermorgen zur Erde zurückkehren, werden wir in einigen Tagen wissen, wie es um das Überleben jener steht, die eine neue Entwicklung der menschlichen Gesellschaft darstellen.“
„Bisher habe ich immer nur gehört, dass das alles Verbrecher sind.“
„Das mag bei einigen, oder sogar vielen zutreffen. Aber es gibt eben auch andere.“
Wiederum entstand eine Pause im Gedankenstrom.
„Ich kehre in einem Monat zurück und dann ….“
Toku sagte energisch: „Sobald du zur Erde zurück gekehrt bist, nimmst du mit uns Kontakt auf. Aber auf eine Weise, die für dich und uns ungefährlich ist. Dann werden wir weitersehen.“ Dann setzte er hinzu: „Sobald du eine Gelegenheit hast, mailst du an dieses Net-Postfach.“ Dabei griff er nach einem Zettel und schrieb die Netadresse des Postfachs auf. „Keine Angst. Das ist eine nicht rückverfolgbare Einmaladresse, die einerseits weiterleitet, sich danach aber selbsttätig löscht.“
„Und was passiert dann?“
„Dann setzen wir uns mit dir in Verbindung. Jetzt und heute sagen wir dir keine Details. Da musst du uns schon vertrauen.“
„OK, ich denke, das werde ich machen.“
Eve sah ihn mit einem strengen Blick an: „Du wirst das machen! Und du wirst niemandem von diesem Gespräch erzählen!“
Jean senkte den Blick und sagte nach einer merklichen Pause: „Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu dem Schluss, dass ihr recht habt. Bisher war ich ja in dem Glauben, ich würde der Polizei helfen und genau genommen sogar etwas Gutes tun, aber wenn es wirklich positive Mutanten gibt, die sich nach den allgemeinen Gesetzen halten, dann ist das etwas anderes. Was habe ich denn bei euch für Chancen?“
„Recht gute. Bessere, als du glaubst. Warte einmal ab.“
Nachdem sie nun das Gespräch als beendet ansahen, gingen Eve und Toku wieder zur Tür. „Auf Wiedersehen“, sagten sie beide laut. „Bis bald auf der Erde.“
„Auf Wiedersehen“, antwortete Jean und eine gewisse Erleichterung war auf sein Gesicht geschrieben.
Eve und Toku kehrten in ihre Ebene zurück, betraten ihre Wohneinheit und waren ziemlich erleichtert, dass dieses Abenteuer scheinbar glimpflich ausgegangen war. Man würde ja sehen, ob Jean O`Connelly die in ihren Augen richtige Entscheidung treffen würde.
Am nächsten Tag wurden sie schon früh vom Net geweckt: „Ihr sollt euer Gepäck in der Wohnbox zurücklassen und direkt nach 1 Grün 13 kommen. Die Checks beginnen um 10:00 Uhr Standard. Das Gepäck wird direkt zum Schiff gebracht. Ihr fliegt mit der SATURN.“
Eve und Toku erhoben sich und spulten ihre üblichen Morgenabläufe ab. Nach einem guten Kaffee und einem ausgiebigen Frühstück begaben sie sich nach 1 Grün 13 um die Gesundheitschecks und die anderen Tests hinter sich zu bringen. Sie waren schon etwas aufgeregt. Schließlich flog man ja nicht alle Tage mit einem Raumschiff und die SATURN war die neueste Errungenschaft von NANO. Schon seit einigen Monaten hatten die Holos in Ticity immer wieder begeistert über dieses Schiff berichtet.
Eve und Toku freuten sich schon auf die Erde und darauf, Gerry wieder zu sehen.
„Hoffentlich ist mit Mona alles in Ordnung“, sendete Eve an Toku während einer kleinen Pause. „Wir sollten uns jetzt verabschieden.“
„Wir warten noch bis kurz vor dem Start“, entschied Toku. „Ich habe Angst, dass sie vielleicht doch noch beschließt hier vorbeizukommen, oder sonst etwas Dummes anstellt.“
„Du hast Recht. Nur nichts riskieren.“
„Ihr Gepäck wird soeben an Bord der Fähre gebracht“, meldete das Net in diesem Moment. „Bitte begeben sie sich um 13:00 Standard an Bord durch die Schleuse 1 Grün 6.“
Bevor sie die SATURN erreichen würden, mussten sie noch eine unbequeme Atmosphärenfähre benutzen.
Pünktlich trafen Eve und Toku zusammen mit den anderen Mitreisenden an der Schleuse ein. An einem Tor des Außenhangars war ein elastischer Verbindungskanal aus Nanoplast angebracht, der die Station mit der Fähre verband.
Der Sicherheitsagent von Net prüfte durch Irisscan die Hindurchgehenden und gewährleistete damit, dass kein Unbefugter die Fähre betrat.
Im Kanal herrschte nur die Schwerkraft Titans und die Heimreisenden bewegten sich ungeschickt weiter. Nach etwa hundert Metern stieg der Kanal plötzlich an. Gleichzeitig vergrößerte sich die Anziehungskraft beträchtlich. Sie erreichten schließlich in etwas ungeschickter Haltung eine metallisch aussehende Tür an welcher ein Mann in Borduniform stand.
„Ab hier herrschen wieder 0,9 GE meinte der Mann. Bitte Vorsicht beim Übergang.“
Sobald sie den großen Kabinenraum der Fähre erreicht hatten, wurden sie aufgefordert, sich aus Sicherheitsgründen festzuschnallen. Der Count Down würde in 5 Minuten beginnen.
„Ich denke, jetzt verabschieden wir uns aber wirklich“, sendete Eve und rüttelte noch einmal prüfend am Gurt.
„OK, einverstanden, aber nicht auf der individuellen, sondern auf der allgemeinen Frequenz.“
„Hallo Mona! Wir sind inzwischen an Bord der Fähre und hoffen, dich bald auf der Erde zu treffen“, sendete TOKU mit einiger Stärke. „Ich schließe mich an und wünsche auch dir eine Fahrt mit der SATURN“, setzte Eve hinzu.
Etwas schwächer tönte es zurück: „Hallo ihr Beiden. Gute Reise und Grüße an die Erde. Bin schon sehr gespannt auf die PM`s.“
Ein bisschen stärker kam dann ein weiterer Ruf: „Donnerwetter, das habt ihr aber gut verborgen, ihr beiden. Plötzlich bekomme ich die telepathische Stimme eines weiteren Mutanten zu hören.“
„Hallo Jean. Denke bitte an deine Versprechen. Du lässt Mona bitte in Ruhe. Wir klären dann alles, sobald ihr auf der Erde seid. Einverstanden?“
„Alles klar. Inzwischen hatte ich ja auch noch Zeit zum Nachdenken. Seid unbesorgt“, gab Jean O`Connelly zurück.
„Das trifft auch auf dich zu, Mona“, konnte sich Eve nicht verkneifen, noch eine Mahnung nachzulegen. „Halte dich von Jean fern. Wir versprechen euch nochmals, alle offenen Fragen auf der Erde zu klären.“
„Jetzt übertreibt ihr aber“, tönte es leise von Mona zurück. „Ich denke, die beiden wissen, was sie tun“, kam der Kommentar von Jean.
„Achtung – Count Down beginnt“, ertönte in diesem Augenblick die COM-Stimme der Fähre. „Wenn sie Interesse haben, können sie über die Kabinenmonitore den Start mitverfolgen.“ Die meisten Passagiere verfolgten daraufhin gespannt die Handgriffe der Besatzung und lauschten den mit leiser Stimme gegebenen Anweisungen.
Dann wirbelte ein Sturm in den Monitoren auf und wenn nicht dieser optische Eindruck und das Dröhnen der Triebwerke gewesen wären, hätten sie kein Gefühl für die entstehende Bewegung gehabt. Die Triebwerks- und Schweresynchronisation liefen perfekt und wenig später wich das gelbe Braun der Titanatmosphäre bereits dem Schwarz des Weltraums.
Das Rendevouzmanöver verlief glatt und ereignislos. Die SATURN war aufgrund der eingeschalteten Selbstbeleuchtung ein strahlender Würfel vor dem Hintergrund der fernen Sterne.
Jeder, der die SATURN zum ersten Mal sah hatte allerdings den gleichen Eindruck:
Dieses Schiff war hässlich.
Vermutlich lag diese Erstmeinung der Menschen an den Science-Fiction-Holos und den dort immer wieder gezeigten Raumschiffen diverser Aliens und auch der Menschheit. Schon im zwanzigsten Jahrhundert hatten stromlinienförmige und schnittige Wunderraumschiffe wie die Enterprise oder die Andromeda aus den gleichnamigen TV-Serien die Fantasie der Menschen inspiriert und die Vorstellung von etwas unglaublich Schönem und Schnellaussehendem bewirkt.
Die SATURN war jedoch das genaue Gegenteil:
Ein stahlblauer Würfel von 50 Meter Kantenlänge, um dessen Mitte sich ein ringförmiger Wulst zog, der nach oben und unten abgeschrägt in die Außenwand des Würfels integriert war.
Bei näherer Betrachtung des Ungetüms war dann folgendes zu bemerken:
Da niemals daran gedacht war, dass so ein Raumschiff jemals in die Atmosphäre eines Planeten einfliegen sollte, waren Fragen nach der Aerodynamik hinfällig, Aber kaum eine andere Form war so praktisch, als die reine Würfelform. Bei keiner anderen Form konnte man den Innenraum so perfekt nutzen. Der Ringwulst wiederum, konnte an jeder denkbaren Stelle mit Antrieben, Instrumenten, Antennen oder anderen gewünschten technischen Einrichtungen versehen werden. Gefahren, die im Ringwulst auftraten, wirkten sich nicht sofort auf den Innenraum des Raumschiffes aus. Die Antriebsdüsen waren ringförmig verteilt und gaben dem Schiff eine große Wendigkeit nach allen Seiten. Ein „Vorne“ oder „Hinten“, welches in der Schwerelosigkeit des Weltraumes ohnehin nur von sehr untergeordneter Bedeutung war, gab es nicht.
Durch diese Bauweise erreichte man einen perfekt nutzbaren Stauraum von 125.000 Kubikmetern, wobei die im Wulst liegenden Maschinen- und Technikräume nicht mitgerechnet waren.
Die SATURN war in 18 Ebenen eingeteilt. Die außen liegenden Einrichtungen und Kabinen verfügten über Fenster. Im Inneren waren die Versorgungsräume, Messen und Magazine untergebracht. Ähnlich wie in Ticity gab es Zentrallifte in der Mitte, so dass man sehr leicht die Ebenen wechseln konnte. Aus Redundanzgründen gab es zusätzliche Treppenhäuser rund um die Lifte. Aus den Ebenen 8 bis 10 konnte man durch Sicherheitsschleusen in den Ringwulst wechseln.
Die Fähre glitt möglichst nahe an die SATURN heran.
Sie verließen die Gemeinschaftskabine und machten sich gemeinsam mit den anderen Passagieren auf den Weg zur Schleuse. Rund um das Schleusentor war ein Nanoplastschlauch befestigt, der am anderen Ende mit der Schleuse des Shuttles verbunden war. An der Decke waren Haltegriffe befestigt, an denen man sich entlang hanteln konnte. Für atembare Luft war bestens gesorgt. Schwerkraft aber gab es zwischen den Schiffen genau Null.
„Bitte nehmen sie sich eine Tüte für alle Fälle“, grinste ein Matrose im Bordanzug, der am Beginn des Schlauches stand und Notfalltüten in der Hand hatte.
„So ähnlich stelle ich es mir vor, als es im zwanzigsten Jahrhundert die ersten Flugzeuge ohne Druckkabine gab“, sagte Eve zu Toku. „Im Holo habe ich einmal gesehen, dass sie da ebenfalls solche Tüten verteilt haben, weil den Menschen schlecht wurde.“
„Ich nehme mir jedenfalls eine“, meinte Toku. Hilft´s nicht, so schadet´s nicht.“
„Ich auch.“
Beide ergriffen eine Tüte und betraten dann vorsichtig den Schlauch. Schon nach zwei Schritten fühlten sie, wie die Bordschwerkraft deutlich nachließ. Sie ergriffen die Deckenschlaufen und begannen sich vorwärts zu ziehen.
Bis auf einen kleinen, etwas dicklichen Mann, der offensichtlich sehr untrainiert war, schafften es alle ganz leicht, die andere Seite des Schlauches zu erreichen. Auch hier wurden sie wiederum von einem Besatzungsmitglied empfangen, das den ungeschickten Mitreisenden schließlich mit kräftigen Handgriffen heranzog.
„Bitte begeben sie sich gleich zu ihren Kabinen. Das Gepäck wird ihnen zugestellt“, sagte die COM-Stimme der SATURN und begann dann die Kabineneinteilung vorzulesen.
Eve und Toku genossen den Flug. War es doch eine Gelegenheit, Dinge zu sehen, die andere Menschen nur aus dem Holo kannten. Aber nach drei Tagen Flug stellte sich dann Routine ein:
„Allmählich wird der Blick aus dem Fenster langweilig“, meinte Eve zu Toku. „Schwarz, Sterne und eine immer heller werdende Sonne. Das ist eigentlich alles. Ich würde so gerne schon die Erde sehen.
„Ich auch. Aber die Daten auf dem Monitor sagen, dass wir bereits seit drei Stunden wieder abbremsen. Wir werden also die Erde in einer Stunde eingeblendet bekommen und ab dann wird sie immer größer und sieht immer blauer aus. Heute Nacht steigen wir dann das letzte Mal um.“
„Schon ein tolles Schiff“, meinte Toku anerkennend zu Eve. „Die Synchronisation der äußeren und inneren Schwerkraft ermöglicht es, dass auch Leute wie wir durch den Weltraum fliegen können, ohne die gewohnten Schwerkraftverhältnisse jemals vermissen zu müssen. Man verspürt gar nichts von den Beschleunigungen. Wer hätte das noch vor 50 Jahren gedacht?“
„Naomi M´Butu ist eben eine tolle Frau. Sie erfindet Dinge mit praktischer Bedeutung“, antwortete Eve. „Nur für den kurzzeitigen Verlust der Schwerkraft beim Umstieg von einem Raumschiff zum anderen, oder zu einer Raumstation, haben sie bisher noch nichts gefunden.“ „Na ja, beim Flug zum Titan haben wir es ja auch überlebt“, meinte Toku. „Die paar Minuten waren zwar unangenehm. Doch es gibt Schlimmeres. Dafür aber wird dann der Abstieg in die Atmosphäre interessant. Diesen kennen wir bisher ja auch nur aus Holos und Erzählungen.“
Wenige Stunden später erreichte die SATURN den Weltraumbahnhof SOLSIDE, welcher als zentraler Anlaufpunkt für Weltraumschiffe und Fähren konzipiert war. SOLSIDE gehörte NANO, EE und HONDA gemeinsam. Alle Schiffe hatten Anlaufgebühren zu bezahlen, so dass das Unternehmen irgendwann Ertrag abwerfen würde.
Hier gab es ein vorletztes Mal den – allerdings sehr kurzen – Umstieg von der SATURN in die Raumstation.
Die Reisenden wurden zu den außen liegenden Restaurants von SOLSIDE gebracht, wo sie Gelegenheit hatten, den Anblick der Erde in all ihrer blauweißen Pracht zu genießen.
„Das ist ja herrlich“, rief Toku. „Unsere Heimatwelt mit all dem Wasser und den Wolken ist wirklich eine Wucht! Hier halten wir es leicht aus, die paar Stunden bis zum Abstieg.“
„Wir bestellen uns ein paar Kleinigkeiten zu essen und trinken und genießen den Anblick“, bestätigte Eve mit einem verzückten Gesichtsausdruck. „Wie müssen sich wohl die ersten Menschen in ihren Kapseln gefühlt haben?“
Einige Stunden später wurden sie von Net zum Umstieg auf die Erdfähre aufgerufen und über die nun schon bekannte Nanoplastschlauchverbindung betraten sie das Atmosphärenschiff.
Ähnlich, wie beim Shuttle auf Titan gab es auch hier eine – allerdings wesentlich größere – Gemeinschaftskabine mit Konturliegen und Monitoren aller Art. Die Fähre war neueren Datums mit einer völlig neu entwickelten Antigraveinheit und einer stromlinienförmigen Keilform, die Menschen schon eher mit einem Raumschiff in Verbindung brachten.
Der Antigrav verhinderte auch hier, dass Beschleunigungen oder atmosphärische Störungen spürbar wurden, und nach zwei immer tiefer führenden Erdumrundungen, bei denen sich der Ausblick immer mehr verengte, erreichten sie den vorgesehenen Landeplatz in der Wüste von Nevada/USA.