Читать книгу Narrseval in Bresel - Gerhard Gemke - Страница 4

Erbarme dich unser

Оглавление

Lisa und Jo trafen Freddie und Jan an dem Erbarme-Dich-Unser -Stand .

„Das hat mir mein Vater eingebrockt“, beschwerte sich Jo schon zum achten Mal. „Er hat dringende Geschäfte zu erledigen, und ich darf …“

„Du wiederholst dich.“ Freddie war noch nie der Sensibelste gewesen. Lisa hielt Jo fest und verhinderte so Schlimmeres.

„Seht zu, dass ihr Land gewinnt!“, fauchte Jo hinter Jan und Freddie her, die sich schon wieder um neue Freundschaften bemühten. Jan baute sich vor einem überraschten Buckelsack auf, und bevor der etwas Böses ahnte, schrie Freddie, dass es Pastor Himmelmeyer unter dem Drei-Nasen-Fenster hören konnte: „Hier ist der wieder mit dem Stuhl im Sack!“

Gut, dass Buckelsäcke nicht so schnell waren. Jan und Freddie hatten sich längst hinter dem EDU -Stand verbarrikadiert und lachten sich krumm.

„Kinderpack, alle in den Sack, feste draufhaun, zackzackzack!“ Böse knurrend schlich der Kerl davon und bellte jeden an, der ihm zu nahe kam, bis er schließlich vor Elfriedes Regenschirm kuschte und sich im Gewühl verdrückte. Vorsichtig trauten sich Jan und Freddie wieder aus der Deckung.

„Erbarme dich unser!“, keuchte Freddie mit Blick auf Elfriedes erhobenen Schirm. Und Jan zitierte den Plakatspruch: „Helfen Sie uns, wir helfen den Armen.“

„Meinen auch!“ Freddie, wer sonst, reckte die Hände zum Himmel.

„Super.“ Genau diese Sorte Coolness, die Lisa tierisch auf den Geist ging. „Du hast doch nicht die Spur einer Ahnung, was die hier tun.“

„Trau keinem Punkt, er könnte ein Wurm sein.“ Toll, dass Freddie sogar Breselner Sprichwörter kannte.

„Womit er vollkommen recht hat.“ Jetzt auch noch die Sievers! Es reichte. Lisa sah Jo an. Abhauen? Jo nickte.

Elfriede drückte ihren zerzausten Dutt wieder in Form und richtete ihre Knopfaugen auf den EDU -Stand. Und auf den schwarzbemalten Dicken dahinter. „Die Kinder möchten gern wissen, wofür hier gesammelt wird?“

„Kinder!“, schnaubte Freddie. Aber genau das wollte er wissen. Er würde Lisa schon zeigen, wer hier keine Ahnung hatte.

„Also?“

Dem Dicken rannen trotz der winterlichen Temperaturen die Schweißtropfen über die Wangen und hinterließen helle Streifen in der schwarzen Schminke. Elfriede klopfte ungeduldig mit dem Griff ihres Regenschirms auf den Tresen. „Ich höre?“

„Auf dem P...Plakat“, stotterte der Dicke und deutete hinter sich. „Knochenmarkspende.“

„Mein Knochenmark soll ich spenden?“

Freddie verkniff sich ein Grinsen. Elfriede war einfach nicht nett zu dem kleinen Schwarzen.

„Neinnein.“ Der Dicke wackelte mit dem Kopf und mit dem Zeigefinger. „Geld. Also Sie geben uns Geld und wir retten dann …“

„Wen bitte?“

„Wie heißt der noch gleich?“ Der Dicke sah sich hilfesuchend nach dem Langen um, der sich mit finsterer Miene genähert hatte.

„Der arme Pjotr kommt aus Afghanistan und ist sehr krank“, sagte der. „Leukämie. Was wir uns alle nicht wünschen, nicht wahr?“ Er betrachtet Elfriedes Dutt. „Nur eine Operation kann ihn retten. Eine sehr teure. Deshalb eine mildtätige Spende.“

„Aha“, sagte Elfriede.

„Verstanden?“, fragte der Lange und wandte sich einem anderen Interessenten zu. Es war nicht klar, ob er Elfriede oder seinen dicken Kollegen meinte. Beide nickten.

„Dann warten Sie mal, junger Mann.“ Elfriede schenkte dem Kleinen ein Dritte-Zähne-Lächeln und kramte in ihrer Handtasche, bis sie ein abgeschabtes braunes Lederportemonnaie gefunden hatte. Sie öffnete es behutsam und kippte den Inhalt auf den Tresen. Jan prustete und selbst Freddie fiel dazu kein Spruch ein.

„Na los“, ordnete Elfriede an. „Nachzählen. Ja, genau Sie.“

„Ich?“

Elfriedes Gesicht bekam einen mildtätigen Ausdruck. „Bist du etwa der arme Pjotr?“

Die Augen des Kleinen weiteten sich erschrocken. „Neinnein!“

„Na also, dann wirst du Geld zählen können.“

„Äh …“

„Mach schon!“, raunzte der Lange aus der entgegengesetzten Standecke.

Dem Kleinen entwich ein Geräusch, das etwas unanständig klang, und endlich begann er zu zählen. „Eins, Zwei, Zwei-Fünfzig, Zwei-Sechzig, Drei-Zehn, Drei-Dreißig …“

Es dauerte. Schließlich war er bei Siebenundvierzig-Fünfundachtzig angekommen. „Siebenundvierzig-Fünfundachtzig“, sagte er und blickte Elfriede fragend an.

„Kann nicht sein.“ Elfriede tippte auf ein Zehn-Cent-Stück. „Das hat du übersehen.“

„Siebenundvierzig-Fünfundneunzig“, flüsterte der Dicke.

„Sieh mal an.“ Elfriede strich mit der Handfläche die Münzen zurück in ihr Portemonnaie. „Da hat mich Bäcker Blume also beschissen.“

Verständnislos sah der Dicke zu, wie der letzte Cent zurück zu den anderen klimperte.

„Eine Lebkuchennase, sagt er, kostet Eins-Neunzig. Und ich habe mit einem Fünfziger bezahlt. Also müsste ich jetzt wieviel im Portemonnaie haben?“ Noch bevor der Dicke zu Ende gerechnet hatte, fragte Elfriede: „Und was kostet bei euch so eine Spende?“

Jan liefen die Tränen über die Wangen. Freddie brüllte: „Naseeeee!“, und bekam eine aus Lebkuchen über die Schulter gereicht. Jan ebenfalls. Lisa hatte eingekauft, gewissermaßen als Friedensangebot. Vorher hatte sie Jo getröstet, die ihrer Verwandtschaft über den Weg gelaufen war und sich ihr wohl oder übel anschließen musste. „Ich krieg Eins-Fünfzig von euch. Pro Nase.“

„Können wir mit den Pommes von Donnerstag verrechnen.“

„Oki.“

Die drei schoben sich durch das Gewühl Richtung Kunibald-Brunnen, wo erfahrungsgemäß immer jemand zu finden war, und ließen Elfriede mit offenem Mund zurück. Soso, Eins-Fünfzig also! Bäcker Blume konnte sich auf was gefasst machen!

Der langhaarige Ulli saß missmutig auf dem Brunnenrand und wartete auf unterhaltsame Gesellschaft. Einer, der dafür nicht infrage kam, lehnte etwas abseits an einem Laternenpfahl: Der neue Bassist von Schnürs Enkel . Seit der Vater des alten Bassmanns seinen Traumjob in München mit Wohnung und Dienstwagen ergattert hatte, war Robin zu den Enkeln gestoßen . Der stille Robin mit der bleichen, fast durchscheinenden Haut und den schwarzgeränderten Augen. Ulli hatte ihn Mitte Januar angeschleppt. Und noch immer wusste niemand mehr über ihn, außer dass er ein verdammt guter Bass-Spieler war und etwas zu häufig über Kopfschmerzen klagte. Aber wenn einer nichts erzählen will, irgendwann fragt dann auch keiner mehr.

Sieht fast so aus, als hält er sich am Laternenpfahl fest , dachte Lisa . Neben ihm stand dieses Mädchen. Lisa hatte sie schon am EDU -Stand gesehen, vor dem Sarglüften, zusammen mit Robin und der vergesslichen Nonne.

„Ich heiße Felin“, sagte sie, noch bevor Lisas eine Frage gestellt hatte.

Lisa lächelte. „Ich bin Lisa und das sind Jan und der unausstehliche Freddie.“

„Angenehm.“ Felins Lächeln war schnell wieder verschwunden.

„Frauen“, knurrte Freddie und schwang sich neben Jan und Ulli auf den Brunnenrand. Die geballte Männlichkeit. Lisa kommentierte sie mit einem ausgiebigem Gähnen. Als sie sich wieder zum Laternenpfahl umdrehte, waren Felin und Robin verschwunden – möglicherweise geflohen vor dieser klapprigen Ordensschwester, die nun den Pfahl umkreiste, als hätte sie nicht nur die Witze vom letzten Jahr, sondern auch ihr Alter und die Würde einer Nonnentracht vergessen. Mit einer Hand hielt sie ihre schief sitzende Haube, mit der anderen versuchte sie, den Zipfel einer flüchtenden Priester-Soutane zu erwischen. Der Narrseval machts möglich , dachte Lisa und sah den beiden zu.

„Herr Pfarrer, ich muss Sie dringend sprechen.“

Dem Pfarrer war offenbar nicht nach einem Gespräch. Nervös schob er seine viel zu große schwarze Brille die Nase hinauf und versuchte, der beharrlichen Schwester zu entkommen. Bis er schließlich aufgab.

„Also gut Schwester“, brummte es unter seinem angeklebten Schnauzbart. „Wo drückt der Schuh.“

„Iffigenie“, hörte Lisa und grinste. „Sie können mich Iffigenie nennen.“

„Nun denn, Iffigenie. Was kann ich für Sie …“

„O, Herr Pfarrer. Ich muss Ihnen etwas beichten.“

„Mmh.“ Der Pfarrer schien nicht sehr viel Übung im Beichten zu haben. Er drohte ihr mit dem Zeigefinger. „Hoffentlich nichts Schlimmes.“

Iffigenie legte den Kopf schräg, als dächte sie nach, ob es schlimm war oder nicht. Dann lächelte sie und sagte: „Einen Mord.“

Der verkleidete Priester nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. Er fasste die Schwester am Arm. „Kommen Sie bitte.“ Lisa starrte ihnen mit offenem Mund nach, bis sie von einem Lachweiber-Haufen verschluckt wurden. Einen Moment lang glaubte Lisa zu wissen, wer in dem Priesterkostüm steckte. Nur ganz kurz überlegte sie, ob sie mit der geballten Männlichkeit auf dem Kunibald-Brunnen herumturnen, oder dem seltsamen Pärchen folgen sollte.

Der Narrseval-Montag erreichte nun unweigerlich seinen Höhepunkt. Ullis Vater befeuerte die Menge in immer kürzeren Abständen mit Witzen und Naseeeee-Brelau! -Rufen, Buckelsäcke erschreckten wenigstens noch die Kinder, und Bäcker Blume pries (inzwischen heiser) seine Lebkuchennasen an, Stück zu Eins-Fünfzig.

Lisa lehnte wieder am EDU -Stand. Sie war dem Priester und Schwester Iffigenie, die ihm einen Mord beichten wollte, bis hierher gefolgt, hatte sie aber aus den Augen verloren, als zwei angeheiterte Hobelitze meinten, mit Lisa tanzen zu müssen. Da entdeckte sie die Gänsemarsch-Gruppe, die sich vom Domportal näherte.

Vorneweg ein Pitbullgesicht, bei dessen Anblick Lisa fast geschrien hätte. Niemals würde sie diese Visage vergessen [siehe „Theater in Bresel“]. Dicht hinter dem Kerl folgte eine beleibte zeternde Dame mit zwei identischen Krausköpfen im Schlepp, und als Schlusslicht Jo. Ihr Gesicht hätte auch auf einem Plakat des Spendensammelstandes seine Wirkung nicht verfehlt.

„Sieh an, der Chef“, knurrte der schwarz geschminkte Lange hinter dem Tresen leise, aber deutlich genug, dass Lisa es verstehen konnte.

Ein kurzer Blick auf Jos Gesicht reichte. Lisa entschloss sich zu einer Rettungsaktion.

„Nie wieder, das schwöre ich“, flüsterte Jo, als die Freundin neben ihr stand. „Und wenn mein Vater mir eine Jahresration Taschengeld dafür verspricht. Die können sich den ganzen bescheuerten Narrseval sonst wohin schmieren.“

Jo schickte mordlüsterne Blicke zu den zwei Krausköpfen, ihren pappnasigen Lieblings-Cousins.

„Und was macht der hier?“ Lisa deutete mit den Augen auf den Pitbull.

„Ist jetzt der Chef von diesem Verein“, flüsterte Jo. „EDU.“

„Wie man sich wandeln kann.“

Inzwischen hüpften die lustigen Cousins schon um die beiden schwarz geschminkten Gestalten herum und krakeelten „Neger, Neger, Schornsteinfeger“. Wie süß, man musste sie einfach gern haben! Ihre Mutter – also Jos Tante Adelgunde – ließ sich unterdessen vom Pitbullgesicht ausführlich eine der bunten EDU -Broschüren erklären.

In diesem Moment tauchte hinter dem Pitbull eine weitere schwarze Gestalt auf. Augenblicklich ließen die Krausköpfe von den Schornsteinfegern ab und näherten sich mit ungemein listigen Blicken ihrem neuen Opfer.

Lisa tippte Jo auf die Schulter. „Der Priester da, kommt der dir nicht irgendwie bekannt vor?“

„Nein.“ Jo war einfach nur sauer und an keinem Priester interessiert. Auch an keinem, der gerade ihre Cousins wie zwei lästige Stechmücken abschüttelte und direkt auf den EDU -Stand zusteuerte.

„Hochwürden!“ Der dicke Schornsteinfeger wischte sich den Schweiß von der Stirn und hinterließ ein neues Muster in seiner Schminke. „Darf ich Ihnen unsere aktuelle Hilfsaktion vorstell...“

„Der Junge da“, unterbrach ihn der seltsame Priester knapp. „Das ist der Knochenmark-Patient?“

„Ähm, Sie meinen Pjotr?“, fragte der Dicke und deutete mit dem Daumen über die Schulter auf das Plakat mit den Werbesprüchen und dem Bild eines graugesichtigen Jungen, dessen Augen in tiefen schattigen Höhlen lagen, und in dessen linkem Nasenloch ein Schlauch steckte. Das Unangenehmste an dem Bild aber war die Hand, die über die Schulter des Jungen nach vorne kroch. Fünf spinnenbeindünne Finger und zwischen Daumen und Zeigefinger ein silberglänzendes Messer. Ein Skalpell.

„Ich sehe sonst keinen anderen.“ Die Laune des Priesters konnte mit Jos mithalten. „In welchem Krankenhaus liegt der?“

Der Dicke schluckte. „Das … äh … darf ich nicht … Sie müssen verstehen, Diskretion. Also wenn jeder wüsste, wo … äh …“

„Und? Geht's ihm schon besser?“

„Jaja!“ Der kleine dicke Kopf wackelte in verschiedene Richtungen. „Schon besser.“

„Aha.“ Der Priester sah ihn scharf an, was die Schweißtropfen auf der schwarzen Stirn erheblich vergrößerte. „Das heißt, er lebt noch?“

Der Dicke blickte hilfesuchend zum Pitbull, der Adelgunde mit der Broschüre allein gelassen und sich neben dem Priester aufgestellt hatte.

„Kniest“, sagte er. „Eggbert Kniest.“

„Aha“, sagte der Priester wieder und ließ dabei den Dicken nicht aus den Augen.

„Geschäftsführer von Erbarme Dich Unser.“

„Das ist noch keine Antwort auf meine Frage.“

„Dem Patienten geht es den Umständen entsprechend. Er muss bald operiert werden. In meinem Sanatorium. Tja, und das kostet. Diese Afghanen sind ja nicht mal versichert.“

„Ich möchte wissen, ob er noch lebt.“ Mit einem schnellen exakten Schwenk hatte sich der Kopf des Priesters dem Pitbull zugewandt.

„Wie kommen Sie auf so eine lächerliche Frage?“

„Beichtgeheimnis.“ Die Augen des Priesters verengten sich.

„Sie sind doch niemals ein echter Pfaffe.“

„Sind Sie sich da so sicher?“

Der Pitbull war eine Spur in sich zusammengesunken. Eine Winzigkeit, aber der Priester hatte es gesehen. Auch Lisa war das nicht entgangen. Sie fasste Jos Hand und zog sie einen Schritt näher zum Stand.

„Nun?“ Die Stimme des Priesters war um einige Grad kälter geworden.

„Wer hat Ihnen denn so einen Unsinn gebeichtet?“

„Das ist immer noch keine Antwort.“

„Selbstverständlich lebt der … äh …“

„Ich hätte gern Ihre Visitenkarte.“

Einen Moment zögerte der Pitbull, dann hatte er seine Gesichtszüge wieder im Griff und fischte aus der Innentasche seines Jackets ein schmales Kärtchen. „Sie können mich jederzeit anrufen, wenn Sie noch Fragen haben.“

„Genau das werde ich tun.“ Langsam drehte der Priester die Pappkarte zwischen den Fingern, als kontrolliere er das Vorhandensein einer Telefonnummer. „Sanatorium Sorgenfrey, soso.“ Dann steckte er sie in eine Tasche der Soutane, drehte sich weg und ging.

Pitbull sah ihm nach. Plötzlich wandte er sich ohne Vorwarnung an den Dicken. „Was redest du einen Stuss! Dem Patienten geht es nicht besser! Der braucht eine teure Therapie! Wofür sammeln wir denn eigentlich?“

Der kleine Dicke fror und schwitzte gleichzeitig. „J...ja, Chef.“

„Neger, Neger, Schornsteinfeger“, krähten wieder lustig die herzigen Zwillinge. Tante Adelgunde war ihnen mit watschelnden Schritten hinter den Tresen gefolgt und versuchte, sie zu ohrfeigen, verfehlte sie aber und traf stattdessen das Plakat mit dem hohläugigen Jungen, was einen spitzen Schrei des kleinen Dicken zur Folge hatte.

Während Adelgunde die Krausköpfe nun hinter dem Tresen hervor zerrte, sah Lisa, dass der seltsame Priester die Stufen von Sankt Urban hinaufstieg und sich neben einen ebenso schwarzgewandeten Mann stellte. Pastor Himmelmeyer. Die beiden schienen sich zu kennen. Und aus den Gesten des bärtigen Priesters, die eindeutig zum EDU -Stand wiesen, konnte Lisa leicht auf das Gesprächsthema schließen. Sie spürte zwei Hände, die sich in ihren Arm krallten.

„Kannst du mich jetzt verstehen?“, flüsterte Jo.

„Ich hab dich schon die ganze Zeit verstanden.“ Lisa hielt es nicht für nötig, leise zu sprechen. Auch nicht dem Pitbull aus dem Weg zu gehen, der sich nun schnaufend an ihr vorbei drängelte, Adelgunde und die Zwillinge hinterher. Erst als sie endlich außer Sicht waren, entspannte sich Jo.

„Und ich hatte gehofft, den nie wiederzusehen.“

Lisa nickte. Am EDU - Stand schimpfte gerade der lange Schwarze mit dem kleinen Schwarzen und bedachte ihn mit Ausdrücken, die selbst die Buckelsäcke hätten erröten lassen. Nur Lisa und Jo nicht. Sie waren bereits unterwegs zum Kunibald-Brunnen, schaun, ob die geballte Männlichkeit inzwischen vom Eisenritter erschlagen worden war. Kurz bevor sie den Brunnen erreichten , gellte ein Schrei über den Marktplatz, der sogar den Breselner Defiliermarsch übertönte, an dem sich die Schützenkapelle gerade versuchte.

„Tante Adelgunde!“, stöhnte Jo.

Tante Adelgunde von Breselberg-Rummelpott war schon etwas … speziell. Als Tochter von Kuno dem Kühnen vom Breselberg (1919 bis 1991) verbrachte sie ihre Jugend zusammen mit ihrer Schwester Tusnelda auf Burg Knittelstein, jener mittelalterlichen Festung auf der Spitze des Breselbergs, die der schon erwähnte Ritter Kunibald um das Jahr 1000 erbaut hatte. Beziehungsweise hatte erbauen lassen. Solche Leute bauten schon damals nicht selbst.

Vor dreizehn Jahren heiratete Adelgunde dann einen gewissen Humbert Rummelpott und zog mit ihm nach Augsburg. Ihre Zwillinge, die auf die lieblichen Namen Kurt und Knut hörten (oder nicht hörten), haben sich ja bereits unbeliebt gemacht. Tusnelda war grün vor Neid auf die jüngere Schwester gewesen und hatte alles daran gesetzt, sich den verwitweten Kaufmann Eduard zu angeln. Mitsamt seiner Tochter Josephine. Wie und warum ihr das tatsächlich gelang, darüber mag der Mantel des gnädigen Schweigens gebreitet bleiben.

Tusnelda starb vor anderthalb Jahren auf mysteriöse Weise, und es erschienen nicht viele Trauergäste an ihrem Grab. Eduard (jetzt Baron Eduard) wohnte seit dem mit seiner dritten Frau Elvira und seiner Tochter Josephine (also Jo) auf Burg Knittelstein und wurde in regelmäßigen Abständen von der Augsburger Fast-Verwandtschaft heimgesucht. Womit wir wieder bei Tante Adelgunde wären.

Man stelle sich eine wohlgenährte Dame vor, um die Fünfzig, die Locken seit neuestem zartlila gefärbt, mit zwei linken Händen und einem Handy am rechten Ohr.

„Nun geh schon dran!“ Das galt ihrem Gatten Humbert, der sich in diesem Augenblick mit dem Familienauto um Bresels Innenstadtring quälte und drei Buckelsäcke anhupte, die es sich auf seiner Motorhaube bequem gemacht hatten. Ausgerechnet jetzt klingelte sein Handy. Humbert tippte auf das Hörersymbol und verzog schmerzhaft das Gesicht, als Adelgundes Schrei seine Gehörgänge durchstach.

Was war geschehn?

Kurt und Knut – auch Kurz und Schlecht , oder einfach die Kukies , krause Locken und ebensolche Ideen darunter – hatten sich an zwei Feuerschlucker herangepirscht. Zwei sogenannte Brandkasper .

„Boah, eh!“

„Voll geil!“

Konnte man so sagen.

Die beiden lebenden Flammenwerfer jedenfalls verstanden ihr Handwerk. Sie schleuderten Lebkuchennasen zu Eins-Fünfzig von Bäcker Blume in die Luft und grillten sie im Flug. Die verkohlten Reste warfen sie den Umstehenden zu.

„Krass, Mann!“

Wieder hatte eine Nase die Feuertaufe bekommen. Und Hepp! flog sie … Das Erstaunliche war jetzt nicht, dass der Brandkasper Adelgunde ausgewählt hatte, sondern dass Adelgunde das verkohlte Teigstück tatsächlich fing! Und das bei ihren zwei nicht so geschickten Händen. Genauer: Sie fing es mit der linken Hand, denn die rechte pappte gerade das Handy ans Ohr. Und jetzt der schon beschriebene Schrei, der die Schützenkapelle übertönte und Humberts Trommelfell durchstieß.

Ein kurzer verwirrter Moment.

Dann warf Adelgunde das Teil so weit sie konnte von sich. Es landete nach circa drei Metern auf dem eisernen Hinterteil von Ritter Kunibalds Rappen, rutschte von dort durch das Schutzgitter des Marktbrunnens und verabschiedete sich in die Tiefe.

Mit der linken Hand presste Adelgunde nun die verkohlte Lebkuchennase an ihr Ohr und quiekte: „Humbert, bist du noch dran?“

Unten im Brunnenschacht betrachtete ein Frosch erstaunt das flache Ding, aus dem eine Männerstimme über irgendwelche blöden Breselner Säcke schimpfte.

Oben betrachtete Adelgunde nicht weniger erstaunt ihre leere rechte Hand.

Lechts und Rinks. Nicht immer leicht.

„Eggbert!“ Adelgunde winkte aufgeregt. „Ich brauche dringend mal dein Hääändy!“ Mit energischen Schritten näherte sie sich dem Herrn, dessen Gesicht arg an eine bullige Hunderasse erinnerte. Der Chef von Erbarme dich unser hatte sich Adelgunde und ihrem Anhang für diesen Narrseval-Spaziergang angeschlossen. Aus alter Verbundenheit, wie man so schön sagt. Ob er es längst bereute, ließ er sich zumindest nicht anmerken.

„Ich brauche dein Handy. Sofort.“ Adelgunde hatte noch nie viel Zeit mit Erklärungen vertrödelt.

„Moment.“ Eggbert durchsuchte seine Manteltaschen. „Siehst du die beiden Pfaffen da?“ Sein Kopf nickte zum Sankt-Urban-Portal. „Der eine ist der Kerl von eben mit seinen blöden Fragen.“

„Dein Handy“, wiederholte Adelgunde.

„Ob der Patient schon tot sei.“

„Und? Ist er tot?“ Einer der Krausköpfe, die hinter Adelgunde auftauchten, hatte das gefragt. Eggbert hatte Kurt und Knut noch nie auseinanderhalten können.

„Dein Handy!“

„Wisst ihr eigentlich, wie sich Mönche vermehren?“

Kurt und Knut wackelten mit den Nasen.

„Eggbert, dein Handy!“

Eggbert hielt ihr sein Mobiltelefon hin. „Ich brauche das aber sofort zurück!“

Adelgunde tippte schon Humberts Nummer. „Der weiß doch gar nicht, wo er uns finden kann.“

„Wie vermehren sich denn …“

Adelgunde packte Knuts Arm. „Jetzt kommt, schnell, Papa ist bestimmt schon … Ja, Humbert, ich bin's wieder!“, schrie Adelgunde das Handy an, während sie an ihren Jungs zerrte. „Jetzt lass mich doch mal ausreden. Also du fährst … dann lass sie auf der Motorhaube sitzen! … Ja, weiter über die Ampel … ach, da bist du schon … dann jetzt …“

Adelgunde zeterte den gesamten Weg bis zum Ulmer Tor. Kurt und Knut schnitten Grimassen und stolperten hinter ihrem breiten Rücken her.

„Da bist du ja!“, schrie Adelgunde plötzlich und steuerte auf ein zahnbelagfarbenes Auto zu, von dessen Motorhaube drei grinsende Buckelsäcke einen traurig blickenden Kollegen grüßten, und bei Adelgundes Gesichtsausdruck schleunigst das Weite suchten. Adelgunde klappte Eggberts Handy zu und hievte sich auf den Beifahrersitz. Kurt und Knut erklärten dem traurigen Buckelsack, dass man den Stuhl in seinem Sack auf den ersten Blick erkennen könne, und flohen auf die Rückbank.

Humbert ließ den Motor aufheulen. Breselner und andere Narren sprangen panisch zur Seite, und ein weinender Buckelsack zertrümmerte auf dem Bürgersteig einen hölzernen Stuhl.

„Naseeeee!“ Auf dem Marktplatz gab Ullis Vater immer noch keine Ruhe und die Breselner antworteten bereitwillig. „Brelau!“

Jo und Lisa lehnten am Kunibald-Brunnen.

„Dann muss ich wohl den Bus nehmen.“ Jos Laune war bei minus 180 angekommen. „Zum Narrseval begleiten darf ich meine geliebte Verwandtschaft, aber wenn Onkel Humbert sie mit dem Auto aufgabelt und zur Burg hinaufkutschiert, hat man mich leider völlig vergessen.“

Lisa sah ihrer Freundin hilflos nach, bis sie im Gewusel einer Horde Forzheimer verschwand. Nein, Jo war wirklich nicht zu beneiden.

Die Kapelle der Schützenbruderschaft Sankt Luitprand hatte wieder zu spielen begonnen und das Volk an den Getränkeständen wurde immer lustiger. Was man so lustig nennt. Ab und zu flogen verkohlte Lebkuchennasen durch die Luft, Bäcker Blume senkte seine Preise auf Eins-Dreißig, und Ullis Vater krähte schon merklich angeschlagen sein „Naseeeee!“

Manchmal fragte sich Lisa, was ihre Eltern bloß bewogen hatte, ausgerechnet hierher zu ziehen. Nach Bresel. Dem einzigen Ort dieser Welt mit Stadtplänen, wo Westen oben lag. Wo man Narrseval feierte. Und wo die berühmteste Touristenattraktion ein Drei-Nasen-Fenster war.

Mama und Papa Favretti hatten sich Mitte der Achtziger Jahre hier niedergelassen und eine Eisdiele aufgemacht, von der manche behaupten, sie sei die beste im ganzen Schwabenland. Lisas große Schwester Franka machte eine Banklehre bei der örtlichen Sparkasse. Lisa selbst ging in die siebte Klasse des Adalbertinums in Bresel-Neustadt. Jo, Hitzkopf Freddie und Jan ebenfalls. Der Rest von Schnürs Enkel besuchte die Parallelklasse.

Außer Robin, dem Bassmann. Da stand er wieder, an den Laternenpfahl gelehnt, blass wie immer, und telefonierte. Auf welche Schule ging der eigentlich? Lisa winkte. Robin steckte sein Handy weg und starrte auf irgendeinen Punkt hinter Lisa. Und rührte sich nicht. Langsam ging Lisa auf ihn zu.

„Da bist du ja.“

Lisa brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass nicht sie gemeint war, sondern Robin. Der Pitbull drängelte an ihr vorbei, ohne sie zu beachten. Der schon wieder.

„Seit einer Stunde suche ich dich. Komm jetzt, ich bringe dich nach Hause.“

Robin wurde noch eine Spur blasser. Pitbull kam dicht an ihn heran und legte den Arm um seine Schultern.

„Deine Schwestern warten auf dich.“

Lisa schlenderte wie unbeteiligt zum Kunibald-Brunnen. Dass Robin Schwestern hatte, war ihr neu. Sie lehnte sich an den Brunnenrand. Mit dem Pitbull hatte sie im letzten Jahr nur indirekt zu tun gehabt, was erklärte, dass er sie nicht erkannte. Im letzten Jahr war er Chef einer Leiharbeiterfirma gewesen, jetzt also von so einem Wohltätigkeitsvereins. Ein Chamäleon könnte über soviel Wandlungsfähigkeit vor Neid erblassen. Lisas Misstrauen war hellwach. Robins Gesicht konnte sie gut verstehen.

„Fass mich nicht an!“

„Schon gut, schon gut.“ Pitbull ließ den Jungen los und lachte. „Wolltest wohl deinen Freund noch mal sehen. Gefällt dir das Plakat?“

„Was ist mit Pjotr?“

Eine widerliche Lache hatte der Wohltäter. Und dann geschah etwas Unerwartetes. Felin stand plötzlich neben Robin, wie aus dem Nichts aufgetaucht. Mit einem entschlossenen Schritt trat sie zwischen ihn und Kniest.

„Lass ihn in Ruhe, du …“ Ihre Stimme war nicht sehr laut, aber klar und scharf.

Pitbulls Miene verfinsterte sich schlagartig. „Pass auf, dass du nicht bald dran bist“, presste er zwischen den Zähnen hervor, wenn Lisa ihren Ohren trauen konnte.

Felins Augen sprühten Hass, blanken Hass.

„Ist okay, Felin. Bis später.“ Robin sah sie an. „Ich hab's vergessen.“

Langsam drehte Kniest sich um und packte Robins Arm. Selbst als sie fort waren, wich die Anspannung nicht aus Felins Körper. Lisa ging einen Schritt auf sie zu.

„Felin?“

„Naseeeee!“, brüllte Ullis Vater über den Platz.

„Alles klar?“ Keine gute Frage , dachte Lisa.

Die fröhlichen Breselner antworteten: „Brelau!“

Plötzlich atmete Felin, als hätte sie für lange Zeit die Luft angehalten. Sie sah an Lisa vorbei auf die schunkelnde und singende Menge, die Robin und den Pitbull geschluckt hatte.

„Woher kennt ihr den?“ Lisa kam noch etwas näher.

Doch Felin schüttelte hastig den Kopf. „Vergiss es“, sagte sie, so leise, dass Lisa nicht sicher war, ob sie richtig verstanden hatte, und rannte davon. So plötzlich, wie sie aufgetaucht war.

Lisa sah ihr nach. Mit einem komischen Gefühl im Magen. Entweder stimmte heute mit ihr selbst etwas nicht, oder der Narrentanz war durchgeknallter als je zuvor. Eine Ordensschwester beichtet einen Mord, ein möglicherweise verkleideter Priester fragt, ob ein Patient noch lebt, der Chef vom Spendenstand droht einem Mädchen, sie könne bald dran sein, und nimmt den blassen Robin mit. Zu seinen Schwestern.

Lisa blickte auf. Waren heute die Farben anders? Hatte sie etwas Falsches gegessen? Sie war ohne es zu bemerken schon am Rathaus vorbei und im Museumsweg gelandet. Links die mächtige Fassade des Historischen Museums, rechts die Häuserlücke, die die abgerissene Volkshochschule hinterlassen hatte. Und davor redete der haarloser Schädel des Pitbulls auf Robin ein. Grob packte er den Arm des Jungen und zog ihn weiter. Lisa folgte ihnen wie ferngesteuert.

Am Augsburger Ring bogen sie nach rechts ab, Richtung Capitol-Kino. Dort wartete ein silbergrauer BMW im Halteverbot. Eggbert Kniest schob den Junge in den Wagen und kletterte auf den Fahrersitz. Mit quietschenden Reifen fuhren sie los. Lisa starrte ihnen bewegungslos hinterher.

Erst als eine Horde Lachweiber ihr Gesichtsfeld bevölkerte, rieb sie ihre Augen und war sich wieder nicht sicher, ob sie geträumt hatte. Was hatte Robin bloß mit diesem schmierigen Typen zu tun?

Wie von selbst fanden ihre Füße zurück zum Marktplatz. Eigentlich ging sie das ja überhaupt nichts an. Kümmer dich um deinen eigenen Kram! , hatte Freddie gesagt. Vielleicht hatte er ja recht.

Als Lisa den Kunibald-Brunnen erreichte, schlug Sankt Urban fünf. Sie schaute am Turm hoch. Der Wetterhahn auf der Spitze schwankte im Wind, aber er hielt. Plötzlich wusste Lisa, dass sie diesen Narrseval-Spaß nicht eine Sekunde länger ertrug. Auf dem Absatz machte sie kehrt. Irgendwo zwischen den Brandkaspern glaubte sie Felins mondscheinbleiches Gesicht zu sehen. Oder auch nicht. Ein paar Buckelsäcke versperrten ihr den Weg. Lisa drängelte an ihnen vorbei. Ihre Schritte beschleunigten sich. Nur weg von diesen Lachmäulern, weg von all den kreischenden Weibern, den grinsenden Hobelitzen, den Schabracken, Hohnepipeln und Forzheimern. Und Pitbulls.

Lisa rannte. Als sie längst die elterliche Eisdiele in der Schulstraße erreicht hatte, hörte sie noch Ullis Vater grölen: „Naseeeee!“ Lisa hielt sich die Ohren zu, um die Antwort draußen zu lassen.

Es reichte. Wirklich.

Narrseval in Bresel

Подняться наверх