Читать книгу Narrseval in Bresel - Gerhard Gemke - Страница 6
Nasendienstag
ОглавлениеDie Sonne ging auf und scheuchte die letzten Hobelitze und Lachweiber in die Betten. Nasendienstag. Himmelherrgottnein! Niemand wusste wirklich, warum dieser Tag so hieß. Natürlich nur in Bresel. Kann sein wegen dem Drei-Nasen-Fenster. Kann auch nicht sein. Man zuckte mit den Achseln und nahm es hin. Also: Nasendienstag. Sonnenaufgang.
„Naseeeee!“ Kurt oder Knut, wer sonst.
„Brelau!“ Der andere.
Die Tür zum Remter flog sperrangelweit auf.
„Geile Eier, eh!“
Baron Eduard zuckte wie unter einem Stromschlag. „Guten Morgen“, murmelte er.
Die Kukies rannten an ihm vorbei, schlitterten den langen Esstisch entlang und rissen die Warmhaltehauben von den Frühstückseiern, die Köchin Emma sorgfältig in einer Reihe ausgerichtet hatte.
„Iiiieh! Braune Eier!“, krähte der eine.
„Ich mag nur weiße!“ Der andere.
Baron Eduard mochte sich gar nicht vorstellen, nach welchen Merkmalen die zwei dann ihre Mitmenschen sortierten.
Nachdem sämtliche Warmhaltehauben herunter gerissen waren, hatten die Kukies zwei weiße Hühnerprodukte entdeckt und fielen schmatzend darüber her. Immerhin entfernten sie vorher die Schale. Dass jemand anderes nachher den Fußboden wischen würde, war selbstverständlich. Emma, die Köchin und Perle auf Knittelstein, stand neben Ritter Adalbert, den sie in aller Frühe so gut sie es vermochte wieder zusammengesetzt hatte. Mordlust in den Augen.
Alarmstufe zwei wurde erreicht, als Knut sich eine Semmelhälfte wie ein Handy ans linke Ohr presste und „Ja, Humbert, wir sind hi-hier!“ hinein schrie. Dann schnappte er sich das nougatpampebeschmierte Brot seines Bruders. „Oh, was ist denn das? Iiiieh!“ Und warf das Handy quer durch den Remter.
„Voll in den Brunnen rein!“, krähte der Bruder und konnte sich kaum auf dem Stuhl halten. „Da hat die ihr Handy reingeschmissen, die …“
Die Tür ging auf und die erschien. Einen Wimpernschlag später saßen die Kukies grinsend aber regungslos hinter ihren Tellern. Knapp vor Emmas Alarmstufe drei.
Noch knapper wurde es, als Adelgunde die restlichen fünf Eier betrachtete und fragte: „Gibt's keine weißen?“
Tür auf. Burgherrin Elvira erschien, gefolgt von einem graugesichtigen unrasierten Humbert, der offensichtlich eine schlaflose Nacht auf dem Sofa im Kaminzimmer hinter sich hatte. Und Jo mit gequältem Gesicht.
„Kaffee oder Tee?“ Emma war einfach schon zu lange Köchin in diesem Gemäuer, als dass man ihr die Alarmstufen angemerkt hätte. Doch als Kurt anstelle seines Vaters „Ein Bier!“ bestellte, klang Emmas „Guten Appetit!“ nach letzter Beherrschung. Nach allerletzter.
Immerhin breitete sich jetzt eine mampfende Ruhe am Tisch aus. Emma blickte starr in das Visier des Blechritters. Gut, dass Adalbert sein Schwert mit beiden Fäusten umklammert hielt, sonst hätte Emma es ihm womöglich entrissen, als sie Adelgundes angeekeltes Gesicht sah. Beim Biss ins Frühstücksei.
Exakt gleichzeitig krähte ein Hahn.
Alle hielten mitten in der Bewegung inne und starrten Adelgunde an. Außer Humbert, dessen Hirn wohl noch in Breselbräu schwamm. Er hatte gerade ungefähr so sorgfältig wie seine Söhne das Ei gepellt, schob es sich zur Hälfte zwischen die Zähne und biss zu.
Wieder ein heiseres Kikeriki!
Den Kukies blieben die Münder offen stehen, sodass jeder den Zustand ihrer halbzerkauten Semmeln begutachten konnte. Nur Humbert mampfte weiter.
Abermals krähte der Hahn. Kikeriki!
Humbert hörte auf zu kauen. Schluckte, würgte. Und hustete in beide Hände.
Und noch mal. Kikeriki!
Jo war aufgesprungen und um den Tisch gelaufen. Jetzt stand sie neben Adelgunde und griff wortlos in ihre Handtasche.
Kikeriki!
Sie drückte auf das grüne Hörersymbol und reichte Adelgunde das Handy.
„Ich brauche es dringend zurück!“, bellte eine Stimme für alle hörbar aus dem Telefon. Adelgunde starrte das kleine flache Teil an.
„Eggbert?“
„Ja, wer denn sonst?“
Jo nahm Adelgundes Hand und dirigierte sie an ihr Ohr.
„Ja, Eggbert, aber … natürlich kriegst du es zurück … in Augsburg … übermorgen … jajaja … ich schreibe alle Anrufe auf … versprochen … nein … sag bloß … deine Gattin Sibylle … ja, viele Grüße, richte ich aus, falls sie anruft … verspro... aufgelegt.“
Das weitere Frühstück verlief ohne allzu arge Zwischenfälle. Weitere Brandkasper-Experimente der Kukies verhinderte Elvira mit unbeweglicher Miene, und Köchin Emma schaffte es, die Möchtegernkasper zum Remterfegen zu verdonnern. Wie, das blieb allen ein Rätsel. Möglicherweise hing es mit Emmas selbstgebackenen Lebkuchennasen zusammen, die sie später mit Zuckerguss bestreichen und dabei nach Herzenslust naschen durften. Emma hob nur vielsagend die Schultern, als sie Jo später drei Nasen ins Turmzimmer hinauf brachte.
„Der Brunneneimer“, sagte Jo, als sie neben Emma am Fenster stand und über die noch winterkahlen Wipfel des Breselwalds hinunter auf das Städtchen schaute, wo sich die Mauern, Dachgiebel und Kirchtürme von Bresel in die Morgenluft reckten. „Erinnert der dich auch an eine bestimmte Person?“
„Das schreckliche Fräulein Sibylle von Oelmütz, deine alte Lehrerin.“ Emma nickte. „Wie könnte ich die vergessen.“
„Hat die eigentlich diesen Kerl geheiratet? Eggbert Kniest?“
Emma schwieg lange. Dann atmete sie tief. „Die ist weg.“
„Ja“, sagte Jo.
„Zum Glück!“
Das nächste Hahnenkrähen ertönte beim Mittagessen, das weitaus ruhiger begann als das unvergessliche Frühstück. Rehrücken und Käseknödel. Humbert hatte sich inzwischen geduscht und rasiert und fühlte sich offenbar einem neuen Angriff auf seine Leber gewachsen. Trotz Adelgundes warnenden Blicken schenkte er sich ein Glas Rotwein ein und erstickte fast beim ersten Schluck. Was aber auch an dem erwähnten Hahnenschrei liegen konnte.
Kikeriki!
Adelgunde reagierte für ihre Verhältnisse blitzschnell. Noch vor dem dritten Krähen hatte sie das Gespräch angenommen und kaute an einem Knödelrest vorbei: „Du kriegst es zurück! Übermorgen hab ich doch gesagt!“
„Kikeriki!“
Adelgundes strafender Blick brachte Knuti zum Schweigen.
„Wie bitte? Wer?“, schmatzte sie ins Handy und verteilte dabei nasse Krümel auf der Tastatur. Offenbar war es nicht Eggbert, der anrief.
„Aha, ja. Wir sind gerade beim … ach … was Sie nicht sagen … dringend … nein, Knödel, sehr delikat, mit Käse und … verstehe, Sie haben einen Tumor … Moment, ich notiere … Hirntumor!“
Adelgunde schnipste in Baron Eduards Richtung und ließ sich einen Stift über die dampfenden Schüsseln hinweg reichen. „Augenblick … ja, jetzt hab ich's.“
Ihr Blick war voller Wichtigkeit und Verantwortung, als sie in großen Buchstaben HIRNTUMOR auf ihre Serviette schrieb.
„Ja … ach, was Sie nicht sagen … der sind Sie, mit der dicken Brille? Ja, Hochwürden, da sollten Sie sich mal eine neue … nein, Sie haben natürlich recht, das geht mich nichts an … nicht in Ihre Angelegenheiten einmischen, nein … wie war noch der werte Name? … Hochwürden?“
Aber Hochwürden hatte offenbar aufgelegt.
Alle hatten die Gabeln sinken lassen und regungslos dem Telefonat gelauscht. Jetzt ließ Adelgunde genüsslich ihren Blick durch die fragenden Gesichter wandern. Langsam hob sie das Handy wie eine Reliquie in die Höhe.
„Das gehört Eggbert“, flüsterte sie, als ob irgendjemand daran gezweifelt hätte. „Eggbert Kniest.“ Adelgunde drückte ihren Rücken grade und alle atmeten tief ein. „Gestern noch stand dieser Priester am EDU-Stand, zweifelnd, voller kritischer Fragen. Doch heute schon ruft er an und bittet um Eggberts Hilfe! Erbarme dich unser!“
„Amen“, sagte Knut und sein Doppelgänger kicherte: „Kikeriki.“
„Hirntumor“, verkündete die Hüterin des Handys mit erhobener Stimme. „Ein schlimmes Schicksal!“
Allgemeines sorgenvolles Nicken.
„Wie gut, dass es EDU gibt!“
„ EDUARD “, flüsterte Knut in das wieder einsetzende Klappern des Bestecks. „Erbamen, Denn Unsre Alte Redet Dünnsch...“
Und Kurt zeigte kichernd auf die Knödelschüssel. „Gib mal noch so'n Tumor rüber.“
Jo wandte sich angewidert von den beiden ab. Die Erwachsenen lauschten mit unterschiedlichem Interesse Adelgundes weitere Lobpreisungen des EDU -Vereins und hatten von den Zwillings-Blödeleien nichts mitbekommen. Zum Glück für die Blödel. Jo stand auf und ging zu Emma hinüber. Und bewunderte ihre Geduld. „Kann ich dir in der Küche helfen?“
„Komm mit“, sagte Emma. Und als sie den Remter verlassen hatten und durch die endlosen Knittelsteiner Flure zur Burgküche eilten: „Ich ertrage diese Sippschaft auch nicht länger!“
Die folgenden Stunden verbrachte Jo in der Knittelsteiner Bibliothek auf ihrem Lieblingsplatz. Mit drei Kissen und einem Buch hatte sie sich hinter die schweren Brokatvorhänge auf die hohe Fensterbank verzogen. Hier war sie einigermaßen sicher vor ihren Cousins, die eine Bibliothek vermutlich für eine Art Abstellkammer hielten und bei einem Buch den Einschaltknopf gesucht hätten.
Gegen 15 Uhr sah Jo von ihrem Aussichtsplatz die Zwillinge mit ihrer Mutter über den Burghof rennen und unter dem Tor verschwinden. Kurz darauf stiegen sie in die Linie 7, die vor der Burg wendete und in die Serpentinen der Breselbergstraße einbog.
Erst jetzt traute sich Jo aus ihrem Versteck. Von Emma erfuhr sie, dass die Kukies so lange gequengelt hatten, bis Adelgunde mit ihnen ein weiteres Mal zum Narrseval fuhr, Brandkasper gucken, Buckelsäcke jagen, Zuckerwatte essen. Emma drückte Jo einen Eimer mit Wasser und einen Lappen in die Hand und bat sie, den Remter für das Abendessen zu richten. Jo bepackte einen altersschwachen Rollwagen mit Geschirr und Besteck und schob ihn durch die Flure.
Im Remter grinste sie der blecherne Adalbert an. Jo klopfte ihm auf die hohle Schulter. Adalbert schwankte leicht, hielt sich aber aufrecht. Dann tauchte Jo seufzend den Lappen ins warme Wasser und begann den Tisch abzuwischen.
Kikeriki!
Jo ärgerte sich, dass sie bei dem blöden Klingelton erschrak.
Kikeriki!
Nach dem vierten Krähen fand Jo das Handy unter Adelgundes Stuhlkissen.
„Ja, bitte.“
Es war eine Männerstimme, die wütend das Handy zurück verlangte. Und zwar auf der Stelle! Daraus schloss Jo, dass es sich um den wohltätigen Herrn Kniest handeln musste. Als sie das Geschimpfe leid war, sagte Jo mit teilnahmsloser Stimme: „Ich richte es meiner Tante aus“, und legte auf. Dann warf sie das Handy in den Abfalleimer. Erst nachdem sie den langen Holztisch gewischt, für das Abendessen gedeckt und Ritter Adalbert eine stolzere Haltung verpasst hatte, fischte sie es wieder aus dem Müll. Es lag auf einer zerknüllten Serviette, auf die jemand in großen Buchstaben ein Wort geschrieben hatte.
Jemand? Adelgunde. Jo nahm die Serviette heraus und strich sie glatt.
HIRNTUMOR .
Jo betrachtete die krakelige Schrift. Interessant. Erst machte Adelgunde so ein oberwichtiges Geschrei um den Anruf und dann warf sie ihre Notizen in den Müll. Fast automatisch tippte Jos linker Daumen auf der Handytastatur, bis die Liste der eingegangenen Anrufe auftauchte. Der Stift, den Adelgunde benutzt hatte, lag noch auf der Anrichte.
Der drittletzte Anruf hatte die gleiche Nummer, wie der, den Jo soeben angenommen hatte. Also von Kniest. Dazwischen stand die Handynummer von diesem Brillenpriester. Jo schrieb sie unter das Wort Hirntumor und steckte die Serviette in die Hosentasche. Ob sie Tante Adelgunde darauf ansprechen sollte? Wenn doch EDU so eine mildtätige Organisation war und jemand offensichtlich Hilfe benötigte, warum warf Adelgunde die Notiz in den Abfall? Oder war das Schusseligkeit gewesen? Die Sorte Gedankenlosigkeit, die Adelgunde ähnlich sehen würde. Sie hatte ja auch das Handy unter dem Stuhlkissen vergessen.
Jo legte es genau dort wieder hin. Sollte es Adelgunde doch mit ihrem breiten Hinterteil zerquetschen. Ein letzter Blick in die Runde. Alles bestens und Ritter Adalbert grinste.
„Kein Wort!“, drohte Jo und verließ den Remter.
Nein, Ritter Adalbert war für seine Verschwiegenheit bekannt.
19 Uhr. Wortlos betrachtete der Ritter die Abendessengesellschaft. Auf ihn war Verlass! Er verzog nicht mal eine Miene, als Adelgunde mit einem spitzen Schrei in die Höhe sprang. Unter ihrem Allerwertesten hatte es gekräht.
Kikeriki!
„Eggbert Kniest“, sagte Jo gelangweilt. „Der hat schon mal angerufen.“
„Wo ist das Handy?“
„Unter deinem … Kissen.“
„Und warum hast du es dahin gelegt!“ Adelgunde fand das Telefon und rannte hinaus, wo ihre keifende Stimme die Flure entlang hallte, dass die Knittelsteiner Spinnen ihre Netze zusammenrollten und ans Auswandern dachten.
„Morgen zeigt uns Mama das Spielzimmer.“ Knut schob seinen Teller von sich. Die Zwillinge hatten sich auf dem Breselner Marktplatz durch die Auslagen der Süßwarenstände gefuttert und waren abgefüllt. Jo betrachtete Adalberts Visier. Also gut: Höflichkeit.
„Welches Spielzimmer?“
„Das wo da so ein Spiel ist wie unterm Sarg.“
Jo verstand Knut trotzdem. Ja, das gab es wirklich. In einem der vergessenen Zimmer , wie Jo sie nannte. Weit hinten im Westteil der Burg. Eins von denen, die weder von den Burgbewohnern genutzt, noch bei Touristenführungen gezeigt wurden.
„Ham wir in der Gruft gesehen.“
„Aha.“ Adelgunde hatte dem lieben Nachwuchs wohl ihren ältesten bekannten Vorfahren gezeigt. Wenn Kunibald das geahnt hätte …
„Kennst du das?“
„Ja.“
„Und?“
Jo zuckte mit den Achseln. Übermorgen waren die wieder weg, so lange musste sie noch durchhalten. Manchmal allerdings wünschte sie sich Ritter Adalberts blecherne Gelassenheit.
„Darüber kann eure Mutter bestimmt eine Menge erzählen.“