Читать книгу Die Zeit auf alten Uhren - Gerhard Köpf - Страница 6
Anna Kolik
ОглавлениеDie medizinische Bibliothek meiner Tante Mirtel enthielt manchen Band, der mir in Kindertagen besonders rätselhaft und furchteinflößend erschien. Jahre später bin ich beim Entrümpeln auf eine Schwarte gestoßen, die mir bereits damals einigen Schauder über den Rücken gejagt hat. Es handelte sich um Hufelands gelehrte Abhandlung über den Scheintod. Sobald ich darin zu blättern begann, erinnerte ich mich an meine Begegnung mit Anna Kolik, einer Flüchtlingsfrau, die kurz nach dem Krieg von der Gemeindeverwaltung in einem verlassenen Bauernhaus untergebracht war, dessen einstige Besitzer ohne Nachkommen verstorben waren. Das Anwesen war deshalb an die Gemeinde übergegangen und wurde nur noch vom Straßenwart und Wegemacher Hans Nicolussi bewohnt. Ich war Anna Kolik einen Entschuldigungsbesuch schuldig, weil ich ihr mit der Steinschleuder eine Fensterscheibe zerschossen hatte. Meine Tante hatte mir dringend zugeredet, die Sache umgehend aus der Welt zu schaffen.
Die grün gestrichene Holztür zu Anna Koliks Behausung konnte nicht einmal abgesperrt werden. Lediglich eine altmodische Schnalle hielt sie notdürftig am Rahmen, durch die Ritzen fiel schräg das Licht in den gemauerten Gang, der mit einer Türe zur einstigen Waschküche, mit der anderen, einem Lattengitter, dessen Schloss aus einem quergelegten, in die Öffnung geschobenen abgebrochenen Kochlöffel bestand, aber zum Kellerloch führte, welches völlig finster war. Dies war der Hausgang von Anna Kolik, die von einem wacklig an die Wand genagelten Zigarrenkistchen eine Packung Streichhölzer nahm, ein Zündholz anriss und damit einen aus dem Kistchen hervorgezauberten Kerzenstummel entzündete, um den unverhofften Besuch anzuleuchten. Sobald ich in Anna Koliks Verschlag stand, glaubte ich, in einer Gruft zu sein und Verwesendes zu riechen. Ein feuchter Kuchen, auf einem Teller auf dem in der Mitte des Raumes stehenden rohen Waschtisch liegend, moderte vor sich hin. Daneben stand eine sehr große Tasse mit einem aufgemalten Enzian, ein blechern schimmernder Kaffeelöffel steckte in einer Art Kakao oder Schokoladenpudding, welcher gleichfalls schon einige Tage alt zu sein schien, über den Tisch verteilt lagen Brotrinden, teils angenagt, teils mit dem Messer flach geschabt. Auf einer bräunlich schäbigen Kommode entdeckte ich neben schmutzigem Geschirr einen kleinen Brotkasten, dessen Schuber aus schmalen, eng aneinander liegenden Brettchen wie der Verschluss des Armaturenbrettes im Schienenbus aussah, mit dem ich täglich als Fahrschüler unterwegs war. Anna Kolik war in einen schwarzen Schal gehüllt, so dass nach orientalischem Vorbild nur die Augen sichtbar waren. Sie schlurfte voraus und hieß mich mit einer Bewegung ihres Krückstockes, an dem mich die vom einseitigen Belasten schräg abgewetzte Gummikappe faszinierte, auf einem der beiden Holzstühle Platz zu nehmen. Sie selbst versank ächzend in einem knarrenden Korbsessel mit schwarzen Knöpfen an beiden Enden der durchgezogenen Armlehne, den sie energisch neben ihr gewaltig aufgetürmtes Bett gerückt hatte, welches mit einer Art schwerem Vorhang bedeckt war, seinem Muster zufolge vermutlich türkischer Herkunft. Die zu Sehschlitzen verengten Augen fragten, ob ich einen Schluck von dem bräunlichen Gebräu oder ein Stück von dem feuchtmarmornen Kuchen wolle, was ich mit beflissenem, krampfhaft höflichem Kopfschütteln quittierte.
Noch war kein Wort gefallen, noch hörten wir nur das Tropfen des drohend aus der Wand wachsenden Wasserhahnes, unter dem auf einem krummen Hocker eine Schüssel mit verwittertem Emailleboden stand. Mein trotz aller Furcht neugierig umherschweifender Blick blieb an dem Nachtkästchen, genauer an dem gestickten Deckchen über der Glasplatte hängen, die von vier Nasen gehalten wurde. Dort lag ein dickes Buch. Gerade in der Sekunde, da ich es entdeckt hatte, schien sich Anna Kolik dieser Nachlässigkeit wegen zu schämen, griff mit gichtigen Fingern hinüber zu dem in braunes Packpapier eingeschlagenen Band und meinte halblaut, Schriften über den Tod seien nichts für einen Jungen in meinem Alter, auch wenn er auf die Lateinschule gehe, wie sie wisse. Ich für meinen Teil wollte meine lästige Pflicht der Entschuldigung so schnell wie möglich loswerden, doch auch dies schien Anna Kolik sofort bemerkt zu haben. Immer stärker setzte sich in mir der Verdacht fest, sie habe eine ähnliche Gabe des Vorhersehens wie meine Tante Mirtel, auch sie besitze ein unbestechliches Gedächtnis, welches alles aufbewahre, nach dessen Verlust aber sich jemand wie ich in solcher Lage sehnte. Noch ehe ich meinen Entschuldigungssatz, den ich den halben Vormittag auswendig gelernt hatte, ausstoßen konnte, war mir Anna Kolik schon nach Art alter Leute blitzschnell zuvorgekommen. „Geschenkt“, winkte sie ab, und ich glaubte in meiner Verzweiflung, sie hinter dem schwarzen Strickschal, den sie unentwegt vor ihren Mund hielt, lächeln zu sehen: ein furchterregendes Lächeln, das sich über die ausgefransten Mundwinkel hinaus zu verlängern schien.
Halbverkrüppelte Finger mit Knorpeln, Schrunden und Warzen, Auswüchsen und kleinen, rötlich-violett schimmernden Geschwüren unter den Nagelbetten blätterten jetzt in dem Buch, dessen Titel von fettigem Papier verborgen wurde. Der bedrohlich wirkende Krückstock lehnte schräg und sprungbereit wie ein Kettenhund am knirschenden Korbsessel, ein dunkler Rock streifte den kalten Steinboden, auf dem ein löchriger, an den Rändern provisorisch eingenähter Flickenteppich lag, demütig wie ein Fußabstreifer. Unter dem Rock lugten schwarze, überraschend große knöchelhohe, durch eine schmale Blechschließe zusammengehaltene Filzpantoffeln mit absatzloser Sohle hervor, bewegungslos nebeneinander stehend, wie Wachsoldaten, tot verharrend. Von märchenhexenhaftem Kichern begleitet langte Anna Kolik ruckartig nach dem Kuchenteller und riss ein Stück von dem backpulverfarbenen Mehlklumpen ab, um es zwischen ihren gelblich schimmernden, in großem Abstand auseinander stehenden Zähnen verschwinden zu lassen. Erst jetzt sah ich, dass Anna Kolik Handschuhe trug, eine Art verlängerter Pulswärmer, die bis zu den mittleren Fingerknöchelchen reichten, wo schwarze Fransen wie ungekämmte Haare fischhäutig abstanden. Meine Eltern, hob Anna Kolik schnaufend an, seien Herbergseltern gewesen, Wirtsleute, welche unter eine Lawine geraten seien. Ich wusste auf der Stelle, dass dies glatt gelogen war. Aber warum erzählte mir die alte Frau solche Schauermärchen? Auch die nächsten Sätze ihres zwischen Zahnschluchten zischend hervorgestoßenen Berichtes ließen mich wieder frieren: meine Eltern seien erstickt, sagte die Flüchtlingsfrau, deren entstelltes Gesicht ich nun gerne ganz gesehen hätte. Erstickt, wiederholte sie mehrmals, spitz und eine Spur zu hämisch. Ächzend erhob sie sich vom Korbstuhl, um eine Runde in dem dunklen und kalten Waschraum zu drehen und sich endlich wieder mit einer stützenden Hand auf dem Stock, der anderen, aufstöhnend, flach auf die linke Hüfte gepresst am Fenstersims zwischen zwei verzweifelt grünenden Geranienstöckchen auszuruhen, als sei es zu dem ersehnten Stuhl noch meilenweit zu gehen. Wortlos hatte sie diesen nach der theatralischen Verschnaufpause erreicht, ließ sich erneut ächzend nieder, das Jammern des Stuhles in die eigene Klage mischend. Als man meine armen Eltern geborgen habe, wusste Anna Kolik mit krumm gestrecktem Zeigefinger zu korrigieren, seien sie in Wirklichkeit noch gar nicht richtig tot gewesen, sondern hätten in tiefer Bewusstlosigkeit auf Wiederbelebungsversuche gehofft; sie selbst kenne das von ihrer Flucht über die Kurische Nehrung, wo sie in die Gesichter zerfetzter Greise, gemarterter Kinder und geschändeter Mädchen und Frauen geblickt habe. Ihr könne man nichts mehr vormachen, sie habe alles gesehen und noch mehr, meine Eltern seien – und hier durchfuhr es mich eisig lähmend – scheintot begraben worden, scheintot, scheintot, erst im Sarg seien sie wirklich erstickt, erst im Sarg, unter der Erde, die man auf sie geworfen habe. Jawohl, sie seien nicht verschollen geblieben, man habe sie schon nach einer halben Stunde nach Niedergehen der Lawine ausgegraben, auf Hörnerschlitten ins Tal gebracht und scheintot begraben. Scheintot. Sie hätten noch geatmet, noch gelebt, als der Pfarrer über ihnen das Kreuz gemacht habe zum Zeichen des Eintritts in alle Ewigkeit, Amen. Hierin kenne sie sich aus, denn das Buch, und Anna Koliks gichtige Finger mit den schmutzigen, entzündeten Nägeln klopften auf den schweren Band, welches in schützendes Papier, das sie vom Metzger habe, gehüllt sei, aus gutem Grund überdies, sei die Geschichte des Scheintodes, verfasst von einem spanischen Privatgelehrten, von dem sie einst im Osten, sie wisse nicht mehr, ob es in Dorpat, Riga oder Reval gewesen sei, vierzehn Tage lang jeden Abend einen Vortrag gehört habe: Auszüge aus seinen Forschungen, wie er sie später in jenem bestürzenden Werk niedergelegt habe. Wieder stopfte sie ein Stück von dem abscheulichen Kuchen in ihren Mund, lüftete hierzu blitzschnell das schwarze Tuch, um sofort die halbbehandschuhten Finger darunter verschwinden zu lassen. Erneut gelang es mir nicht, einen Scherben der Hässlichkeit, einen Beweis der Verunstaltung damals auf der Kurischen Nehrung zu erheischen. Noch einmal wagte ich zaghaft, nach einigem Räuspern jedoch mutiger werdend, einen Versuch, um Verzeihung wegen der zerschossenen Fensterscheibe zu bitten, doch energisch wischte sie meinen Versuch diesmal mit dem Stock beiseite, eine Steigerung also des Signals, dass sie keinerlei Unterbrechung noch irgendeinen Widerspruch dulde.
Anna Koliks Finger griffen knorpelig und verwachsen zu dem Buch. Die Geschichte des Scheintodes. Cronica de la Muerte aparente. Von Don Jaime Bonfante, aus dem verzweigten Geschlecht spaniolischer Devotionalienhändler. Der erste Mann ihres Lebens sei ebenfalls Spanier gewesen. So sei es: Dummheit und Ignoranz verwechselten den Todesschlaf der Jungfrau Maria vor ihrer Himmelfahrt mit einem Scheintod, wie er das Mädchen befallen habe, welches, unterwegs im Wald, Wegelagerer zu vergewaltigen versucht hätten, hob Anna Kolik sich rechtfertigend an, obwohl ihr niemand widersprochen hätte bei solch herrischer Stimme.
Als ich mich einmischen wollte, um zu zeigen, dass ich in der Schule aufgepasst hatte, wehrte sie ab: Barbarossas bartwuchsfördernder Schlaf im Kyffhäuser oder Dornröschen seien ungeeignete Lesebuchbeispiele. Der von ihr hochgeschätzte spaniolische Wissenschaftler, ein Kopf vom Kaliber Lenins, dessen historisches, achthundertzweiundzwanzig Seiten zählendes Lebenswerk ein Quell seltener Erkenntnis sei, arbeite reichhaltige Spezialliteratur zu den aus Gräbern und Grüften vernommenen Schreien sowie fressenden Leichnamen auf, um schließlich schlüssig zu beweisen, dass sämtliche pompösen, aber auch bürgerlich hilflosen Grablegungsriten letztlich nichts als Vorsichtsmaßnahmen gewesen seien, um vorschnelle Beerdigungen zu verhindern: Drei Tage gebe man dem dreimal laut Angerufenen Frist. Selbst Tolstoi habe man, nach Art der Päpste auf dem Sterbebett, als er auf einer gottverlassenen Bahnstation mit dem Tod gerungen, noch einmal dreimal beim Vornamen gerufen. Niemals habe man einem lärmend ausgeschmückten Leichnam das Gesicht verhüllt, wie sie, Anna Kolik, eine der namenlos Gedemütigten aus dem Osten, es aus gutem Grund tue. Das Geschrei der Klageweiber schließlich ziele in Wirklichkeit auf skeptische Kontrolle.
Aufgeregt wetzte ich auf meinem Stuhl hin und her, die einstige Waschküche des aufgelassenen Bauernhofes kam mir noch düsterer und feuchter vor, als sie beim Eintreten einschüchternd auf mich gewirkt hatte.
Schon im Sarg, als der Henkel gebrochen und die Kiste polternd auf das Pflaster geschlagen sei, habe sich ein schöner Jüngling noch einmal retten können. So mancher sei von der Bahre gesprungen, so manche Leiche habe das Tuch zerrissen, um aus der Grube zu fahren und ihrer Wege zu gehen, Scheintote hätten später nicht selten noch etliche Kinder gezeugt oder geboren. Aber wie oft habe man fahrlässig gehandelt oder nichts bemerkt und unübersehbare Zeichen als Einbildung krankhafter Betschwestern abgetan? Könne man ermessen, ereiferte sich Anna Kolik, jetzt flinker mit den Knorpelfingern in dem Buch blätternd, welcher Schrecken Leichenfledderern in die Glieder gefahren sei, als sie, eben noch mit dem Abstreifen der Ringe von den erstarrten Knöchelchen beschäftigt, den Beraubten sich regen sahen? Nicht wenige Erblasser hätten vor der Eröffnung des Testamentes verlangt, dass man sie mit glühenden Zangen verschiedener Proben unterziehe: eine französische Prinzessin habe sogar angeordnet, man solle ihr vor der endgültigen Grablegung Bambusspieße oder Zahnstocher zwischen die Zehennägel zaubern. Bei der zunehmenden Sehnsucht nach Ordnung sei man zuletzt der Idee verfallen, jedwedes Abscheiden durch Gesetz von zwei Zeugen beglaubigen zu lassen, ehe man den Corpus, wie Anna Kolik sagte, auf stacheligem Rosshaar in kalter Luft aufgebahrt habe: Abstellräume, Waschküchen, Asyle des zweifelhaften Lebens. Der spaniolische Gelehrte führe wundersam aufregende Belege an, Geschichten aus De miraculis cadaverum – auch sie habe Latein gelernt, einst, in einem heute zusammengeschossenen Kloster, befreundet mit den von strengen Institutsfräulein erzogenen höheren Töchtern des Ostens, welche unvergleichlich stolz ihre linnene Tracht zu tragen verstünden. Leichen, wie der Spaniole schreibe, die bluteten, bissen, schwitzten, bei denen Haare und Nägel unaufhörlich wüchsen: verzweifelte Beweise einer monströsen Anomalie, niedergelegt in den Debatten eifriger Gelehrter über die Existenz einer Todeszeit. In jenen Tagen habe man außerdem, beiseite gesprochen, das Vergessen kunstfertigen Einbalsamierens zugunsten einer neuen Medizin eingeleitet.
Ich suchte nach Halt in der eisigen Waschküche und hätte mich am liebsten zwischen zwei in die Blechschüssel schlagenden Tropfen des Wasserhahns an der Wand unter dem Kissengebirge von Anna Koliks Bett versteckt, hätte ich nicht auch dort die ekligen Reste des nassschweren Kuchens und Flecken erkalteten Kakaos vermutet. So hielt ich mich mit klammen Fingern am Stuhl und schickte meinen Blick auf das vor dem Fenster sorgfältig aufgeschichtete, kleingehackte Brennholz, das Anna Kolik mühsam mit Lederriemen und groben Stricken, Abfällen vermutlich aus dem Papierkorb der Postagentur, verschnürt aus dem Wald herbeigeschleppt hatte: jeder Schritt ein Wagnis, jeder gemeisterte Meter Beweis für die zappelnd zähe Überwindung der allen Lebewesen anhaftenden Schwerkraft.
Anna Koliks Augen weiteten sich, als blickten sie auf ein Meer, vielleicht auf das jenseits der Kurischen Nehrung, auf der man ihr Gewalt angetan und sie für ihr Lebtag entstellt hatte, ihre Hände suchten den Knoten am Hinterkopf, prüfend, ob das Geflecht in Ordnung sei, woraufhin wieder sorgfältig das schwarze Tuch über das Haar gebreitet wurde.
Ich hätte mich gerne hinter den über dem Kanonenöfchen entlang dem Ofenrohr quer durch den Raum auf ein Waschseil gespannten Lumpen, Handtüchern und Hemden verborgen, die schützenden Hände meiner Tante Mirtel sehnlichst herbeiwünschend. Konnte sie nicht auf der Stelle mit dem Hubschrauber wie Lurchi Salamander, der Held meiner Kindheit, einfliegen? Anna Kolik aber schlug, meine Gedanken ertappend, die letzte Seite des Folianten auf, legte das umfangreiche Werk in ihren Schoß, holte eine Drahtbrille aus einem schnappenden Etui, welches wie ein luxuriöser Sarg mit leuchtend grünem Filz ausgelegt war, setzte die Brille nach Art alter Frauen auf ihre stattliche Nase und las, ihr schützendes Tuch in einigem Abstand vor ihrem Mund, so dass sie die Worte in baltischem Singsang deutlich rollen lassen konnte, die letzten Sätze aus dem einzigen Buch vor, das sie besaß:
„In der Nähe der Schleusentore, durch welche die Natur in die Bezirke der Menschen eindringt, haben wir begonnen, schweigend Angst vor dem Tod zu haben. Denn alles Verlorene möchte wiedergefunden, will neu erschaffen und sich selbst zurückgegeben werden: aufgelesen auf einer langen Wanderung entlang der Strecke im Nebel, einer zügellosen Reise über den Schnee, in der flimmernden Erwartung, unter einem unbegreiflich hellen Himmel mit erhabenem Stolz einzusinken, und keiner würde wissen, wie tief.“
Anna Kolik schloss sanft das Buch und wandte sich ab, dem Fenster zu, sah hinaus und schwieg. Über mir hörte ich Schritte, jemand ging durch den Flur des aufgelassenen Bauernhofes, die dunkle Holzstiege hinauf, vorbei an den Regenmänteln und Lodenumhängen, eine Tür schlug: Der Wegemacher und Straßenwart Hans Nicolussi kehrte nach Hause zurück. Ich nahm dies als willkommenes Zeichen und schlich mich auf leisen Sohlen davon. Anna Kolik stand gedankenversunken noch immer am Fenster, hielt sich das Tuch vor den Mund und hatte weite Augen, sehr weit.