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Walburg

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Einmal, manchmal auch zweimal in der Woche kommt eine Frau namens Walburg in das Haus meiner Tante Mirtel, um aufzuräumen, mit dem Staubsauger durch die Räume zu fahren und die Wäsche zu waschen. Die Walburg ist eine Stille, eine ganz Bescheidene, die nicht viel Aufhebens von sich macht. Und sie ist fleißig, weswegen sie bei meiner Tante einen Stein im Brett hat.

Walburg stammt aus Nesselwang, sie ist Kaspars Frau und Mutter der Söhne Luis und Baptist und Firmian, welcher zur See fahren wird. Walburgs Lieblingslied ist das Lieblingslied des Prinzregenten Luitpold: „Fein sein, beinander bleib'n“. Fein sein, beinander bleib'n. Das wollte Walburg immer. Sie ist ihrem Mann eine brave Frau und den Söhnen eine gute Mutter. Walburg kennt die Arbeit, nie hat sie einen Bogen um sie geschlagen, nie ist sie ihr ausgewichen, schon als Kind ist sie mit den anderen neun Geschwistern dem Vater zur Hand gegangen, hat ihm das Zaumzeug gehalten, das Leder eingefettet und als Älteste nach dem frühen Tod der Mutter den Haushalt geführt und die Geschwister großgezogen. Die Walburg ist dünn wie ein Stecken, aber sie kann zupacken. Es macht ihr nichts aus, im Bahnhofhotel in der Küche zu helfen, es macht ihr nichts aus, bei fremden Herrschaften zu putzen oder zur Verstärkung geholt zu werden, wenn ein Fest gefeiert wird, um aufzutragen und abzuspülen. Jeden Pfennig legt sie auf die Seite, jeden Groschen liefert sie bei Kaspar ab, der sich den Bau eines Häuschens in den Kopf gesetzt hat: Fein sein, beinander bleib'n.

Und weil ich die Walburg gern habe, weil sie immer gut zu mir ist, frage ich eines Tages meine Tante, was es mit der Walburg auf sich hat. Die Tante aber vertröstet mich zuerst, weil ich jedoch nicht locker lasse und immer wieder frage und bohre, erzählt sie mir eines Abends aus ihrem Lehnstuhl heraus bei einem Zigarillo Walburgs Geschichte:

Die Geschichte von Walburg beginnt lange vor dem Krieg. Da sucht nämlich der Leiter des Reichsarbeitsdienstlagers drunten im Meilinger Bad an der Vils eines Tages eine zuverlässige Kraft für das, was so anfällt an Wäsche von seinen Männern. Die Walburg rechnet im Kopf schnell nach, macht ein Angebot und erhält sogleich den Zuschlag. Schon wird im Hof des Bahnhofrückgebäudes ein großer Kessel mit Ofenrohr aufgestellt, schon schichten die Söhne Luis und Baptist und Firmian das Schürholz auf, schon wächst die Holzbeige, schon wird die Waschküche hergerichtet für die schmutzige Wäsche aus dem Lager.

Meine Tante Mirtel erzählt, wie der erste Lastwagen heran rollt, wie die Männer in ihren Knobelbechern von der Ladefläche springen, wie sie Körbe prallvoll mit Unterhosen und Unterhemden, Jacken, Socken, Leibchen und Pullovern, Uniformblusen und Sonntagshemden vom Lkw hieven, indes Walburg ein Seil spannt kreuzquer über die Wiese. Die Frau füllt den großen Kessel Schaff um Schaff, bereitet eine Lauge, heizt und schürt, bis die Lauge kocht, in die sie die Schmutzwäsche wirft, um mit einem schon ausgebleichten breiten Holz langsam umzurühren und die einzelnen Stücke aus dem brodelnden Laugenwasser zu holen. Nie hat es ihr bislang etwas ausgemacht, anderer Leute Dreck aufzuräumen oder fremder Leute Wäsche zu waschen. Aber als sie die verstunkenen Fußlappen des Arbeitsdienstes in die Nase bekommt, als diese Beize aufsteigt und sich einfrisst, da spürt sie einen Widerwillen, da muss sie schlucken, dass es ihr nicht hochkommt, zwei-, dreimal muss sie schlucken und schlucken, dass es sie nicht würgt. Von der ersten Wäsche an widersteht ihr alles, was mit dem Reichsarbeitsdienst zusammenhängt. Aber sie traut sich nicht, es Kaspar, ihrem Mann, zu sagen. Sie glaubt, das sei nur eine Empfindlichkeit, die ihr nicht zustehe, sie denkt an den Wäschepfennig und was sie bekommt pro Kilo und daran, wie der Pfennig in das Häuschen wandert, das Kaspar mit Hilfe seiner Söhne bauen will: Fein sein, beinander bleib'n. Zeitweilig nimmt das Häuschen die Form einer Sparbüchse an, aber das ist der Walburg bloß recht. Sie weiß genau, was ihr Hausvorstand hält von Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit und dass man es damit zu etwas bringen kann, wenn man nur will. Deshalb schluckt sie und versucht, nicht länger an die Fußlappen des Arbeitsdienstes zu denken. Sie will sich die Männer auch gar nicht vorstellen: weder bei ihrer Arbeit noch abends, wenn sie die verschwitzten Füße lüften, die Socken ausziehen, Tarock spielen und ab und zu mit den Fingern zwischen den Zehen popeln oder die Fußnägel wegreißen.

Nein, sagt meine Tante Mirtel, das will sich die Walburg gar nicht erst ausmalen, weil sie sonst sofort wieder schlucken muss, und das will sie nicht, weil sie die Socken wegen des Häuschens waschen muss, weil sie die verseichten Unterhosen in die Brühe tauchen muss, weil sie die Wäsche aufhängen muss auf der Leine hinter dem Haus, Tag für Tag, für das Reichsarbeitsdienstlager, wegen des Häuschens, das da auch an der Leine hängt und im kochenden Kessel schwimmt wie die Hemden und die Fußlappen mit ihrem beizenden Geruch, der nicht mehr aus der Nase will: als wäre sie Fischverkäuferin. So stellt sich Walburg eine Fischverkäuferin vor: die Finger eisblau und ewig stinkend. Ewig. Aber die Walburg will keine Fischfrau sein. Wenn sie die schmutzige Wäsche gewaschen hat, will sie den Gestank der Fußlappen nicht aus der Waschküche in die Wohnung tragen, sie will nicht das Essen damit berühren, das sie ihren vier Männern kocht, wie sie gerne sagt. Es soll ihr keiner anmerken, wie sehr ihr die Wäscherei widersteht, wie ihr zuwider ist, was sie da auf sich genommen hat, bloß weil es in dem schönen Lied heißt: Fein sein, beinander bleib'n. Wieviele Dachziegel kann man vom Waschpfennig kaufen, wieviele Kilo Rafennägel, wieviele Schalbretter? Obgleich die Pläne für unser Oma ihr klein Häuschen immer schmächtiger werden und bescheidener, denkt die Walburg beim Umrühren des großen Kessels gerne daran, wie sie die Küche einrichten wird, wo das Sofa stehen soll, die Gautsche, wie man bei ihr daheim in Nesselwang dazu sagt, welches Bild über dem Ehebett hängen soll, ob es unser Herr am Ölberg ist oder die Darstellung der Muttergottes mit dem Schwert in der Brust.

Meine Tante Mirtel malt mir mit Worten die Walburg, wie sie sich auf der Veranda sitzen sieht in einem Korbstuhl, wie sie Wolle aufwickelt, um einem der Buben einen Janker zu stricken, wie sie mit besonderer Aufmerksamkeit auf Firmian blickt, weil er so unruhig ist, immer ein Treibauf und jäh und gach, denn die Walburg kann nicht wissen, dass Firmian eines Tages Schiffsoffizier und der Herr der sieben Meere werden wird.

Auch bei Regenwetter muss für den Reichsarbeitsdienst gewaschen werden. Zweimal die Woche fährt der Lkw vor und lädt ab, zweimal die Woche wird einer Frau schlecht vor dem Aufheizen des Kessels, der nur im Sommer im Freien steht, im Winter aber zwischen anderen seifenbleichen Schäffchen und Kübeln in der Waschküche, in der es nie richtig trocken wird, so sehr die Walburg auch lüftet. Kaspar hackt nach Feierabend das Holz, spaltet die Scheiter für den Waschkessel, während er die Söhne dazu anhält, sauber und ordentlich die Holzbeige zu errichten, denn Ordnung muss sein, wo kämen wir da sonst hin bei der Eisenbahn, bei der Kaspar beschäftigt ist, der er seine Seele verkauft hat.

Und immer wieder muss Kaspar auf seine Schweizeruhr schauen, immer will er, der Eisenbahner, wissen, wie spät es ist, immer muss er auf Zeiger und Zifferblatt starren wie ein Firmling und seine Söhne heimlich stoppen: welcher braucht am längsten für das Aufschichten des Kleingehackten, welcher macht es am ordentlichsten? Keine Frage: Es ist unser Baptist. Unser Baptist macht immer die schönsten Holzbeigen. Immer braucht er den Vater. Immer muss er gesagt bekommen, was er zu tun hat. Immer tut er, was der Stärkste von ihm verlangt. Walburg sieht mit Stolz und ein wenig Entsetzen, wie ängstlich ihr Baptist ist und wie ordentlich. Warum kann er nie für das geradestehen, was er getan hat? Warum muss er sich immer nach den anderen richten? Warum sagt er nie, was er denkt? Warum tut er nie, was er denkt? Luis dagegen ist verschlossen. Er rennt einfach los, wenn es ihm zu viel wird. Luis wird Langstreckenläufer. Schon jetzt nennen ihn seine Freunde nicht bei seinem richtigen Namen Luis, sondern Nurmi. In aller Frühe kann man ihn auf die Berge rennen sehen. Je dünner die Luft wird, desto wohler fühlt er sich. Luis wird Langstreckenläufer und Bergführer. Die Touristinnen können sich auf seinen starken Arm verlassen. Luis weiß das. Allmählich beginnt er, mit seinem Kapital zu wuchern. Firmian ist ein Hitzkopf'. Die Feinmechanikerlehre passt ihm überhaupt nicht. Wie oft hat er schon mit der Feile auf das in den Schraubstock gespannte Eisenstück geschlagen? Wie oft hat ihm der Meister deshalb eine Ohrfeige gegeben? Firmian will hinaus. Sein Kopf ist in den Wolken. Von seinem ersten Lohn hat er sich einen Atlas gekauft. Er war schon überall, und überall kommt er hin mit dem Finger auf der Landkarte. Aber das reicht ihm nicht.

Vorerst wird das Häuschen gebaut: koste es, was es wolle. Kaspar muss sein Häuschen haben. Er schaut auf die Uhr, als könne er ablesen, wie lange es noch dauern wird. Das Häuschen wird gebaut. Kaspar baut es mit der Uhr in der Hand, Walburg baut es beim Waschen der Fußlappen des Reichsarbeitsdienstes, Luis baut es mit zusammengekniffenen Lippen, Baptist baut es aus Gehorsam, Firmian baut es mit Flüchen inwendig und nach außen. Wie lange noch? Stein auf Stein. Das Häuschen wird bald fertig sein.

Gegen die stinkenden Fußlappen kämpft Walburg mit Zungenbrechern. Während sie den Kessel heizt und die Lauge umrührt mit dem seifenbleichen Holz, sagt sie immer häufiger: Wir Wiener Weiber wollen weiße Wäsche waschen, wenn wir wüssten, wo warmes Wasser wär. Fein sein, beinander bleib'n. Das summt sie dazwischen. Fein sein, wenn wir wüssten, wo warmes Wasser. Zeigt her eure Füßchen. Zeigt her eure Schuh. Wir schauen den fleißigen Waschfrauen zu. Aber der Gestank der Fußlappen widersteht Walburg trotzdem. Da hilft alles fein sein, beinander bleib'n nichts. Da helfen die Wiener Weiber nichts und nichts die fleißigen Waschfrauen. Die Fußlappen stinken. Die Unterhosen seicheln. Die Unterhemden schweißeln. Die Oberhemden müffeln. Manche Hosen sind vorne gelb und starr vor Urin. Aber das Häuschen muss gebaut werden. Die Kinder sollen es einmal besser haben. Eine Küche und eine gute Stube, ein Schlafzimmer und ein Zimmer für die Söhne, die sich ihren Anteil erarbeiten müssen: mit und ohne das Bedienungsgeld der leichten Frieda mit ihrem Mieder, an dem immer ein Knopf zu wenig geschlossen ist.

Wenn wir wüssten wo warmes Wasser wär. Das kalte Wasser kommt zuerst in den großen Kessel. Dort wird es zum Kochen gebracht. Die Lauge wird in kleinere Schäffchen umgefüllt: kübelweise. Ein Schäffchen für die Unterhosen, ein Schäffchen für die Fußlappen, ein Schäffchen zum Spülen. Die Lauge im Schäffchen für die Fußlappen muss besonders heiß sein, weil die Fußlappen des Reichsarbeitsdienstes besonders stinken. Jedes Schäffchen steht auf einem hölzernen Bock, der aussieht wie ein Kreuz. .Jedes Schäffchen hat links und rechts einen über den Rand hinausstehenden hölzernen Griff. Jedes Schäffchen enthält kochend heiße Lauge. Stein auf Stein, das Häuschen wird bald fertig sein. Kübelweise gießt Walburg aus dem Kessel die Lauge in die Schäffchen. An manchen Tagen ist der Gestank der schmutzigen Wäsche unerträglich. Schon in der Früh kann die Walburg nichts essen, weil ihr sofort alles widersteht. Als sei sie in anderen Umständen. Ihr ist, als liegen da keine Milchbrocken in der Schüssel, sondern die Fußlappen des Reichsarbeitsdienstes.

Da zaubert mir meine Tante Mirtel mit ihren Rauchwolken ein neues Bild. Wieder sehe ich Walburg. Sie trägt eine Wickelschürze, steht barfuß in Holzpantoffeln in der Waschküche. Sie verteilt die Schäffchen rund um den Kessel. Sie heizt den Kessel. Kübelweise schüttet sie die siedend heiße Lauge in die einzelnen Schäffchen. Der Lkw des Reichsarbeitsdienstes fährt vor. Zwei Männer springen von der Ladefläche, zwei Männer laden ab: körbeweise Fußlappen, körbeweise Unterhosen, körbeweise Hemden. Singend tragen die Männer die Körbe in Walburgs Waschküche. Die Reihen dicht geschlossen. Und noch einen Korb. Blüht ein Blümelein. Und das heißt. Noch einen Korb und noch einen. Eeerika. Schon widersteht es der Walburg. Schon springen die Männer auf den Lkw zurück, schon biegt er aus dem Hof. Stein auf Stein. Das Häuschen wird bald fertig sein. Die Holzpantinen klopfen. Schritt für Schritt. Und die erste und die zweite Hypothek. Zeigt her eure Füßchen, singen die Holzpantinen, zeigt her eure Schuh, wir schauen den fleißigen. Wir Wiener Weiber. Wenn wir wüssten.

Nur ganz leicht drehen sich die Rauchkringel des Zigarillos meiner Tante Mirtel. Und nur ganz zufällig wickelt sich die Wickelschürze nicht um Walburg, um die sie schon gewickelt ist größtenteils, nur ganz beiläufig ist da noch ein Stück Wickelschürze ohne Beschäftigung, nur ganz nebenher entdeckt dieses sich langweilende Stück Wickelschürze, nur ganz nebenbei und beiläufig und zufällig und ohne Absicht und ohne, ganz und gar ohne an etwas Böses zu denken wickelt sich ein Stück Wickelschürze um eine Entdeckung. Diese Entdeckung für die Wickelschürze heißt Holzgriff. Der Holzgriff gehört einem Waschschaff. Das Waschschaff steht auf einem Holzbock. Der Holzbock sieht aus wie ein Kreuz. Der du für uns das schwere Kreuz getragen hast. Die Wickelschürze wickelt sich. Sie wickelt sich eins, zwei, drei um einen Holzgriff eines Waschschaffs. In dem Waschschaff auf dem Holzbock schwimmt Lauge. Die Lauge ist für die Fußlappen des Reichsarbeitsdienstes. Die Fußlappen stinken. Der Walburg ist schon wieder schlecht. Weil die Fußlappen stinken, muss die Lauge kochen. Ergo: In dem Waschschaff auf dem Holzbock, der du für uns das schwere Kreuz, schwimmt siedend heiße, kochend heiße Lauge. Selbstverständlich für die Fußlappen. Selbstverständlich gegen den Gestank der Fußlappen. Die Wickelschürze wickelt sich um den Holzgriff. Sie hält ihn fest, denn ein Griff ist dazu da, um festgehalten zu werden oder um beim Wegtragen des Waschschaffes behilflich zu sein, ganz unabhängig davon, ob das Waschschaff mit heißer Lauge oder mit kaltem Wasser oder überhaupt nicht gefüllt ist. Die Wickelschürze besteht auf dem Wickeln und auf dem Wegtragen, der Holzgriff verhält sich so, wie sich ein Holzgriff verhält.

Meine Tante hält inne, nimmt einen guten Zug von ihrem Zigarillo, drückt den Tabak ein wenig nach, prüft gerade die Glut, als die Holzpantinen, in denen Walburg barfuß geht, feststellen: Hoppla, da ist ja Schmierseife auf dem Waschküchenboden. Die Holzpantinen erkennen, dass da Schmierseifenlauge auf den Boden gespritzt sein muss: womöglich beim Umfüllen der Lauge aus dem großen Kessel in die kleineren Schäffchen, die alle auf einem Holzbock stehen, der du für uns das schwere Kreuz. Die Holzpantinen vertragen sich nicht mit der Schmierseife. Die Zehen von Walburg versuchen, sich in die Sohle der Holzpantinen zu graben. Aber das Holz gibt nicht nach. Es hat nur die Schmierseife im Sinn unter sich auf dem Boden der Waschküche, während die Wickelschürze weiter nichts im Kopf hat, als sich um den Holzgriff des Waschschaffes zu wickeln, in dem die heiße Lauge schwimmt für die Fußlappen des Reichsarbeitsdienstes. Während sich das eine wickelt und während das andere sich noch wundert über das, was unter der Sohle glitscht, meldet sich Walburgs Magen. Er sagt zuerst noch: Fein sein, beinander bleib'n, er singt zuerst noch: Zeigt her eure Füßchen, zeigt her eure Schuh, er bricht sich zuerst noch die Zunge: Wir Wiener Weiber wollen weiße Wäsche waschen wenn wir wüssten. Aber dann weiß er nicht mehr weiter. Er weiß nicht mehr weiter, weil er sich umdreht. Aber damit konnte die Wickelschürze natürlich nicht rechnen. Wer denkt auch schon in dem Augenblick, in dem man sich um den Holzgriff eines Waschschäffchens mit heißer Lauge wickelt, daran, dass es einem Magen, also dem Magen der Wäscherin einfallen könnte, sich auch einmal umzudrehen? Wer kann damit rechnen? Weder die Wickelschürze kann damit rechnen noch die Holzpantinen, die sich nie für die Wickelschürze interessiert haben, sondern immer nur für den Waschküchenboden, so wie sich die Wickelschürze nie für die Holzpantinen oder den Waschküchenboden interessiert hat, ganz egal, ob Schmierseifenlauge ausgeschüttet worden ist oder nicht, Holzpantinen und Wickelschürze haben definitiv nichts miteinander zu tun. Sie haben verschiedene Interessen, die erst zusammenkommen, wenn sich ein Magen umdrehen will. Warum will sich der Magen umdrehen? Hält er es auf der einen Seite nicht mehr aus? Hat das etwas zu tun mit den Fußlappen des Reichsarbeitsdienstes?

Da greifen auf einmal Hände ins Leere. Was sind das für Hände, und wem gehören sie? Die Hände gehören Walburg, und plötzlich sehe ich: Das sind Hände, wie geschaffen für eine Geige. Täusche ich mich auch nicht? Machen mir da nicht die Finger bloß etwas vor? Die Hände greifen. Aber es ist keine Geige da. Nicht einmal ein Wäscheseil ist gespannt. Es ist überhaupt nichts in der Luft. Außer einem ganz bestimmten Geruch. Einem Reichsarbeitsdienstgeruch. Einem Lagergeruch. Stein auf Stein. Das Häuschen wird bald fertig sein. Wir Wiener Weiber. Wenn wir doch bloß wüssten. Zeigt her eure Füßchen, zeigt her eure Schuh. Aber die Schuh haben den Kopf ganz woanders. Sie haben ihn bei der Schmierseifenlauge auf dem Boden der Waschküche. Die Wickelschürze wickelt und lässt nicht mehr los. Ein Griff ist ein Griff ist ein Griff. Eine Lauge ist eine Lauge ist eine Lauge. Sie ist heiß. Sie ist siedend heiß. Sie ist kochend heiß. Der Griff gehorcht. Er tut, was die Wickelschürze verlangt. Die Holzpantinen fügen sich. Sie tun, was die Schmierseife auf dem Fußboden der Waschküche verlangt. Der Magen gibt nach. Er tut, was die Walburg von ihm verlangt: Er dreht sich um. Während er sich umdreht, dreht sich auch noch etwas anderes. Das Waschschaff dreht sich, weil der Griff gehorcht. Genauer gesagt: Es neigt sich. Es neigt sich schräg vom Bock, während sich der Magen umdreht, zeigt her eure Füßchen, wenn wir wüssten, wo warmes Wasser. Warmes Wasser fließt. Kochendes Wasser fließt aus. Die Wickelschürze wickelt. Was sie einmal am Wickel hat, entwickelt sich nur so, wie sie es sich in den Kopf gesetzt hat. Der Magen dreht sich. Die Sohlen gleiten. Das Waschschaff neigt sich. Die heiße Brühe tritt über den Rand. Wo fließt sie hin?

Die Kringel des Zigarillos meiner Tante Mirtel zeigen mir, wohin die Brühe fließt nach dem Gesetz der Schwerkraft und den goldenen Regeln der Mechanik. Während die Wickelschürze vermutet, die Lauge fließe auf die Holzpantinen, während die Holzpantinen mutmaßen, die Lauge fließe über die Wickelschürze, während der Magen wähnt, die Lauge tilge den Gestank der Fußlappen des Reichsarbeitsdienstes, verhält sich die kochend heiße Lauge ganz anders. Sie entdeckt ein Wäscherinnenbein. Sie entdeckt einen Oberschenkel. Schon berechnet sie das Gefälle, schon kennt sie den Winkel, schon weiß sie, wie die Fallhöhe zu nützen ist, schon setzt sie sich in den Kopf, vom Oberschenkel den Weg über das Knie, die Kniescheibe, über die Wade hinunter zum Schienbein zu nehmen, schon hat sie den Ehrgeiz, auch noch den Knöchel zu erreichen, schon erkennt sie, nein: den Knöchel wird sie wahrscheinlich doch nicht mehr schaffen, weil sie vielleicht von einem Schrei aufgehalten wird, das lässt sich wegen des Rauchs des Zigarillos meiner Tante Mirtel nicht genau feststellen, ob die siedend heiße Lauge nur über den Oberschenkel und die Kniescheibe bis zur Wade laufen kann, oder ob sie es wegen eines Schreies nicht mehr bis zum Knöchel schafft.

Aber wer könnte den Schrei hören? Wem kann er gelten? Die Männer vom Reichsarbeitsdienst sind mit ihrem Lkw längst wieder ins Arbeitsdienstlager gefahren. Sonst ist niemand in der Waschküche. Kaspar ist bei der Eisenbahn. Er darf seinen Dienstplatz nicht verlassen. Unter keinen Umständen. Luis ist in den Bergen oder rennt querfeldein oder will herausfinden, wie sich bei den KdF-Mädeln die Haken am Mieder anfühlen. Kraft durch Freude, Schmalz durch Gaudi. Baptist ist so mit Gehorchen beschäftigt, dass er keinen Schrei hört. Ein Schrei bedeutete womöglich, dass er handeln müsste. Er kann aber nur etwas tun, wenn ihm vorher einer sagt, was er tun soll. Firmian ist mit dem Finger auf der Landkarte. Vielleicht erreicht der Nagel des rechten Zeigefingers gerade die Mündung des Rio Para. Dort liegt Belém, das auf Deutsch Bethlehem heißt, obwohl es nicht im gelobten Land liegt.

Meine Tante Mirtel schlägt vor, dass wir zusammen überlegen, wem der Schrei gelten könnte, der da durch die Waschküche gellt. An wen hätte sich Walburg wenden können? Niemand ist zu Hause, niemand in der Nachbarschaft kann den Schrei hören. Vielleicht rangiert Kaspar gerade einen Güterzug, während er gewissenhaft auf seine Schweizeruhr blickt. Wir können es nicht sagen. Weil Walburg weiß, dass sie allein ist mit ihrem Schmerz, weil Walburg weiß, dass ihr niemand beistehen kann, während die kochende Lauge den Weg nimmt von ihrem Oberschenkel über die Kniescheibe, die Wade und das Schienbein womöglich bis zum Knöchel, weil nichts hilft: weder die Wickelschürze, noch der Holzgriff, weder die Holzpantinen, noch die Schmierseife, weder wir Wiener Weiber, noch das Zeigt her eure Füßchen, zeigt her eure Schuh, weder Stein auf Stein, noch das Häuschen, das ganz zweifellos bald fertig sein wird, weder das Feinsein, noch das Beieinanderbleib'n, weil nichts hilft, deshalb sagt sie still nach dem Schrei – und ich glaub' es nicht: Vergelt's Gott für die Armen Seelen.

Meine Tante wiederholt diese Ungeheuerlichkeit, und malt mir mit ihren Worten, wie die Walburg Mehl auf ihre Brandwunde streut, immer wieder Mehl, „lllergold doppelgriffig“, und wie sie dabei betet. Sie betet für die Armen Seelen, die unerlöst umhertreiben, all die Toten, all die Worte im Wind des Unheils, verkeilt ineinander als Illusion und Enttäuschung. Walburg gedenkt der armen Seele ihrer Mutter, ihrer verstorbenen Geschwister, sie gedenkt des Glockenspiels vom Rathausturm, wenn der weiße Ritter den schwarzen Ritter vom Pferd sticht, wenn die Kinder um den Hollerbusch tanzen, wenn der goldene Hahn kräht und der Sensenmann Stundenglas und Hippe zeigt, ehe die Glock' Zwölfe schlägt, sie gedenkt aller Wiener Weiber, die wie sie die Wäsche waschen, sie summt ihr Lieblingslied „Fein sein, beinander bleib'n“, sie gedenkt ihres Herrn und Meisters Kaspar und seines Leitspruches, der da lautet: Ich trage, wo ich gehe, stets eine Uhr bei mir, denn unsere Walburg, sagt meine Tante Mirtel, ist musikalisch, sie gedenkt ihres Sohnes Luis, der auf die Berge rennt und querfeldein und bald hinter jedem Mädel her, sie gedenkt ihres Sohnes Baptist, der immer einen Vorgesetzten braucht im Leben, sie gedenkt ihres Sohnes Firmian, welcher Offizier auf einem stolzen weißen Segler und Herr der sieben Meere werden wird. Schließlich aber gedenkt sie des Häuschens, Stein um Stein, und sie gedenkt der ersten und der zweiten Hypothek, und sie hofft, dass auch sie vergolten werden, wie die kochend heiße Lauge den Armen Seelen.

Die Zeit auf alten Uhren

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