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1 Einleitung

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Der Erfolg hat bekanntlich viele Mütter und Väter. Dies gilt auch für die Einführung der stationsäquivalenten Behandlung (StäB). Im Rahmen des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Versorgung und der Vergütung für psychiatrische und psychosomatische Leistungen (PsychVVG) kann sie seit dem 01.01.2018 durch psychiatrische Kliniken und psychiatrische Abteilungen mit Versorgungsverpflichtung in Deutschland durchgeführt werden.

Die Grundidee kann man bereits dem Bericht der Psychiatrie-Enquête von 1975 (Deutscher Bundestag 1975) entnehmen. Die Grundsätze der gemeindenahen Versorgung und der Leitgedanke »ambulant vor stationär« sind bereits dort zu finden, wenngleich eine Akutbehandlung im häuslichen Umfeld die Vorstellungskraft der Autorinnen zum damaligen Zeitpunkt noch überstiegen hat. Über die Einrichtung von Tageskliniken und psychiatrischen Institutsambulanzen wurde seitdem jedoch der Weg gebahnt in Richtung einer gemeindeintegrierten Versorgung psychisch kranker Menschen, unterstützt durch flankierende Maßnahmen in der Eingliederungshilfe und Pflege. Seit Beginn des dritten Jahrtausends war es im Rahmen von Modellprojekten nach § 140 SGB V (Integrierte Versorgung) und später nach § 64 b SGB V möglich, eine aufsuchende Behandlung zu Hause zu erproben und darin Erfahrungen zu sammeln. Die Intensität der Behandlung im häuslichen Umfeld sollte dabei immer deutlich höher sein, als dies durch die psychiatrischen Institutsambulanzen möglich war. In einzelnen Regionen konnten sogenannte Regionalbudgets vereinbart werden, die eine umfassende Erprobung solcher Strukturen mit fließendem Übergang zur stationären Behandlung ermöglichten (Faulbaum-Decke und Zechert 2010; Nolting und Hackmann 2012; König et al. 2010; Deister und Wilms 2014; von Peter et al. 2019; Schwarz et al. 2021).

Unterstützt wurden die positiven Erfahrungen aus den deutschen Modellprojekten durch die praktischen Erkenntnisse und die Forschungsergebnisse aus verschiedenen Formen des Hometreatment in den angloamerikanischen Ländern. Innerhalb des dortigen Gesundheitssystems sind aufsuchende Akutbehandlungsteams schon längere Zeit nachweislich erfolgreich im Einsatz (Johnson et al. 2008; Smith et al. 2008).

Viele in der Psychiatrie Tätige haben gemeinsam mit den Wohlfahrtsverbänden, den Verbänden der Angehörigen und der Betroffenen sowie manchen Gesundheitspolitikern seit langem darauf hingearbeitet, dass auch in Deutschland flächendeckend eine Akutbehandlung zu Hause ermöglicht wird. Dies ist nun mit dem PsychVVG und der darin beschriebenen Möglichkeit zur Einführung der StäB nach § 115 d SGB V umgesetzt. Die Details des Gesetzestextes waren heftig umstritten – und auch heute sind nicht alle mit der endgültigen Version des Gesetzes zufrieden, da nicht alle Hoffnungen erfüllt werden konnten. StäB ermöglicht einen neuen, nach Ansicht der Autoren dieses Buches revolutionären, Schritt in der Versorgung psychisch Kranker (Längle 2018). Dennoch sind wir uns alle im Klaren darüber, dass dies noch nicht der letzte Schritt in der Überwindung der strukturellen Trennung zwischen ambulanter und stationärer Behandlung, stationärer und häuslicher Versorgung sein kann.

Der Weg vom Gesetz in die klinische Praxis ist weit. Die Erfahrenen wissen dies aus der Umsetzung von Gesetzen zur Trennung von Behandlungs- und Pflegefällen, zur Einrichtung der psychiatrischen Institutsambulanzen, der Erneuerung des Entgeltsystems (»PEPP« und »PPP-RL«) und anderen Gesetzen zur psychiatrischen Versorgung, zuletzt dem Bundesteilhabegesetz.

Es zeichnet sich ab, dass dies auch für StäB gilt. Viele psychiatrisch Tätige, viele Klinikträger und auch manche Fachverbände waren und sind zögerlich in der Umsetzung der neuen gesetzlichen Behandlungsmöglichkeit und dies aus verschiedenen Gründen: Es sind rechtliche, personelle, organisatorische und nicht zuletzt budgetäre Fragen zu berücksichtigen. Behandlungskonzepte müssen entwickelt und erprobt werden und auf die jeweilige Versorgungssituation zugeschnitten werden. Für viele ist die Arbeit im ambulanten Kontext, im häuslichen Umfeld und damit die aufsuchende ambulante Behandlung in der Gemeinde Neuland, das erobert werden will. Inzwischen gibt es über drei Jahre Erfahrungswerte aus dem klinischen Alltag von StäB, die Mut machen und zeigen, dass dies gut gelingen kann (Gottlob et al. 2021; Boyens et al. 2020).

Dieses Handbuch soll dazu beitragen, dass die Einführung und Umsetzung von StäB in der eigenen Einrichtung möglichst reibungslos funktionieren kann. Es will darüber hinaus Mut machen, diese Behandlungsform den Patientinnen zur Verfügung zu stellen und so einen weiteren Fortschritt in der Behandlung psychisch kranker Menschen zu ermöglichen.

Das Buch ist so aufgebaut, dass es den Weg vom Rahmen, den das Gesetz vorgibt, über die entsprechenden auf Bundesebene getroffenen verbindlichen Vereinbarungen bis hin zu den ganz konkreten Fragen der Organisation, der Budgetermittlung und der fachlichen Konzeption in der einzelnen Klinik nachzeichnet und nachvollziehbar macht. Wir stützen uns dabei zunächst auf die Gesetzestexte und auf die von den Organen der Selbstverwaltung ausgehandelten Rahmenvereinbarungen und Abrechnungsmodalitäten, auf ausgewählte Kommentierungen von Organen und Verbänden und auf die eigenen Erkenntnisse aus der Beteiligung an den entsprechenden Verhandlungen und Gesprächen.

Zur Umsetzung der stationsäquivalenten Behandlung im klinischen Alltag können wir uns auf eigene jahrelange Erfahrungen mit einem IV-Modell in den Südwürttembergischen Zentren für Psychiatrie (ZfP Südwürttemberg) und der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen (PP.rt) stützen. Darüber hinaus wurden im ZfP Südwürttemberg im Vorgriff auf die Umsetzung von StäB ab Herbst 2016 Erprobungsprojekte nach den Konditionen der heutigen StäB-Behandlung an zwei Standorten, einmal im ländlichen, einmal im städtischen Raum, durchgeführt. Dies geschah im Rahmen eines umfassenden Change-Management-Projektes, in dem unter Projektleitung der Autoren das ZfP Südwürttemberg und die PP.rt auf die Umsetzung der StäB-Behandlung ab 01.01.2018 vorbereitet wurden. Darauf aufbauend konnte im ersten Quartal 2018 an fünf unserer Klinikstandorte und damit in vier Landkreisen in Baden-Württemberg mit StäB begonnen werden. Inzwischen wurden in unseren Häusern weit über 1.500 Patienten in StäB behandelt. Dabei waren zunächst vielfältige konzeptionelle, organisatorische und personelle, aber auch rechtliche und finanzielle Fragen zu klären. Dies ist mittlerweile gut gelungen, die StäB ist längst in die Routine übergegangen. Dennoch gibt es immer wieder neue Situationen, Fragen, die erstmalig auftreten, und Problemlagen, die mit administrativer Fantasie und therapeutischer Kompetenz gelöst werden müssen. Dies gilt für alle Bereiche des Klinikapparates vom therapeutischen Team über das Controlling und das Personaldatenmanagement bis hin zu den Verantwortlichen für den Fuhrpark und die IT. Einen Einblick in unsere Routinedaten und einzelne Forschungsdaten finden Sie in Kapitel 6 ( Kap. 6). Die Schritte zur Planung und Einführung von StäB in einer Klinik werden auf diesem Hiintergrund in Kapitel 5 systematisch dargestellt ( Kap. 5). Auch in einem Sonderheft der Nervenheilkunde und einem weiteren Praxisbuch wurden hierzu aktuelle Beiträge veröffentlicht (Weinmann et al. 2020; Brieger und Bechdolf 2020). Auch dieses Kapitel wurde anhand der neuen Erkenntnisse u. a. zu Finanzierungsmodellen und der MDK-Thematik aus unseren Kliniken und anderen Häusern in Deutschland umfassend überarbeitet und aktualisert.

Der relativ enge gesetzlich vorgegebene Rahmen für StäB mit einer Beschränkung auf die akut erkrankten und stationär behandlungsbedürftigen Patienten erfordert eine genaue Prüfung, was zum Leistungsspektrum der StäB gehören muss – und gehören kann. Nicht alle Erfahrungen oder Vorgehensweisen aus Hometreatment-Modellen können deshalb in StäB umgesetzt werden (Längle 2018; Becker et al. 2017; Lambert et al. 2017). Aber es ist ein sehr breites Behandlungsangebot für eine Vielzahl unserer Patienten möglich – und sollte diesen auch angeboten werden.

Der Schwerpunkt dieses Buches, wie auch der Rahmenvereinbarungen und der offiziellen Texte der Verbände, liegt in der stationsäquivalenten Behandlung erwachsener psychisch kranker Menschen. Viele Überlegungen und Regelungen gelten in gleicher Weise für den Kinder- und Jugendbereich, Besonderheiten sind jedoch zu beachten. Diese werden deshalb in einem gesonderten, völlig neu bearbeiteten und erweiterten Kapitel erläutert. Der Text baut auch hier auf jahrelangen Erfahrungen mit einem entsprechenden Forschungsprojekt und nun der dreijährigen Umsetzungserfahrung von StäB im Routinebetrieb bei Kindern und Jugendlichen auf (Boege et al. 2014; Corpus et al. 2014; Boege et al. 2015).

In einem Sonderkapitel ( Kap. 3) stellen befreundete Autorinnen einzelne Aspekte zu StäB aus ihrer speziellen Kompetenz und ihrem besonderen Blickwinkel dar. Hier ist auch die Stellungnahme des Vertreters des Betroffenenverbandes aus Baden-Württemberg enthalten.

In die Gestaltung des Buches wurden und werden weiterhin viele Fragen von Teilnehmern an Tagungen, Kongressen, Seminaren und Vorträgen einbezogen, die uns in den letzten Monaten und Jahren gestellt wurden und die zeigen, wo die grundsätzlichen, aber auch die ganz praktischen, alltäglichen Probleme bei der Implementierung von StäB in anderen Häusern liegen.

Im Rahmen der Befassung mit der Umsetzung der StäB entstanden viele kollegiale Kontakte zu Verantwortlichen in psychiatrischen Kliniken bundesweit. Wir danken für die interessanten Diskussionen und hoffen, dass diese auch mit den Leserinnen dieses Buches fortgeführt werden können. In der dazu gegründeten AG StäB der DGPPN wollen wir die Erkenntnisse aus der Umsetzung dieser neuen Behandlungsform auch weiterhin zusammentragen und ein Diskussionsforum für alle Interessierten anbieten.

Psychisch Kranke zu Hause versorgen

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