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Ochs und Esel oder: Das deutsche Dilemma
ОглавлениеEine Polemik
Gestern noch herrschte Langeweile zur gewohnten Ordnung.
Mit einem Mal war da alles etwas anders. Spazierte der Postler in fremdblauer Uniform durch den Ausstellungsraum der automobilen Nobelmarke, stanken die Zweitakter mausgrau durch die Straßen einer Stadthälfte, die eigentlich noch schlief, geisterten vielköpfige Familien auf der Suche nach Verwandtschaft und altem Anhang zwischen den Häuserschluchten umher, schob sich nicht wenig Masse Mensch durch Läden und Kaufhäuser. Mit einem Mal war unerwartet alles anders, nicht mehr zu fassen. Mit einem Mal war die Grenze offen und keiner wußte so recht: warum?
In der Westberliner Schlüterstraße stand ich neben mir, dort, wo sie den Kurfürstendamm quert, morgens zwischen acht und neun Uhr, es war Freitag, ein Tag nach dem entscheidenden und um mich herum quirlte und wieselte es wie sonst nur bei Volksfesten. Später erst ging mir auf, daß es sich auch um ein solches gehandelt hatte. Wortfetzen eines Zungenschlags, der verspottetes Synonym für Grenzkontrollen und Unannehmlichkeiten war, schlichen sich in meine Ohren. So mußte wirklich guter Film sein: gelebte Illusion in einer Darstellung, die von der Echtheit nicht zu unterscheiden war.
Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne
Keine Ahnung, wer außer mir in dieser Stadt den Vortag, den ein verwirrter Genosse Schabowski zum folgenreichen machte, ebenfalls verschlafen hatte, viele werden es nicht gewesen sein. Ich selbst hatte nichts mitbekommen, bin früh zu Bett gegangen, war nicht aufgeweckt genug, Geschichte unmittelbar am eigenen Körper zu erleben. Am nächsten Morgen, als ich ins Freie trat, roch ich die Veränderung. Zweitaktgemisch hing ungewohnt in der Luft, auf der nahen Hauptstraße knatterte es bläulich aus kleinen Gefährten, die in ihrer blassen Farbigkeit irgendwie komisch daherkamen. Gewinkt wurde und umarmt, geherzt halt, wie üblich zwischen Brüdern und Schwestern, die sich wohltuend lange nicht gesehen hatten. All das bekannte Szenerie, die in den letzten zwanzig Jahren tausende Male über die Bildschirme bis in die letzten Winkel der Welt geschickt wurde und jetzt, zum Jubiläum, unübersehbaren Höhepunkten entgegenstrebt. Davon darf mit einiger Sicherheit ausgegangen werden.
der Mächtigen kommen am Ende zum Halt.
Was Worte ausmachen. War zunächst die Rede von „Wir sind das Volk“ skandierten die vielstimmigen Chöre plötzlich „Wir sind ein Volk“, drei Buchstaben, die einen Staat veränderten. Von Helden war unversehens die Rede, von Revolution mit dem Adjektiv „friedlich“, Westmark wurde gefordert und vieles mehr. Wende war das Wort der Stunde. Widerstand gegen die Macht im Staat eingefordert. Uralte Parolen wurden aus verstaubten Kisten gekramt: Freiheit statt Sozialismus!
Und gehen sie einher auch wie blutige Hähne
Insofern war das Zitat des einstmals großmächtigen Generalsekretärs des zentralen Klüngels (freudig erinnert sei an die serielle Verarbeitung der Genitive zum sprachlichen Ungetüm der rituellen Titelabfolge) nicht unklug gewählt: weder Ochs noch Esel haben den Lauf des als Sozialismus bezeichneten Zustands im östlichen Deutschstaat aufgehalten. Noch ehe sich die als störrisch verschrienen Tiere an die Arbeit machen konnten, war ihnen besagter Zustand zuvor gekommen und hatte sich selbst abgeschafft. Und zwar so gründlich, daß der westliche Nachbar gleicher Nation gar nicht groß nachhelfen mußte. Alles lief sozusagen wie geschmiert, war über Jahrzehnte preußisch ordentlich vorbereitet.
Vor genau fünfzwanzig Jahren also öffneten sich die Schleusentore und von der einen zur anderen Seite strömten die Massen im wahrsten Sinne des Wortes: ungehemmt. Von Ost nach West die Menschen, wenig später in entgegengesetzter Richtung der harte Mammon im Gefolge von Konsumgütern aller westlichen Art. Dort, im Osten aber hielt es ihn nicht lange und folgerichtig floß er, so schnell er es vermochte, wieder zurück in den Westen, der Bimbes (Originalton Altkanzler Altbundesrepublik). Und die ebenfalls heimgespülten Menschen vergnügten sich ein Weilchen mit den neuen Videorecordern und zwanzig Sorten Leberwurst bis es ihnen zu langweilig wurde und sie beim Blick aus dem Fenster feststellten, daß die versprochenen blühenden Landschaften noch nicht eingetroffen waren. Die befanden sich nach wie vor im Westen.
es wechseln die Zeiten, da hilft kein Gewalt.
Die östliche Republik war in Auflösung begriffen. Böse Zungen formulierten die Situation drastischer: Mauer weg, Volk verschwunden. Demnach war 1989 das Jahr des Zusammenbruchs der anderen deutschen Republik, die sich eine demokratische nannte?
Keineswegs, denn der Zusammenbruch, ein langwieriger, ein quälender Prozeß, zog sich über Jahrzehnte hin, fand 1989 lediglich seinen Abschluß. Ansonsten: trotz Aderlaß sprudelnden Ausmaßes verblieb immer noch genügend willigen Volks im Land, das aus westlicher Sicht benutzt werden konnte. Überdies waren ja auch Grund und Boden vorhanden, sowie die alten Ansprüche darauf. Ein weites Feld, das bestellt werden wollte.
Am Grunde der Moldau wandern die Steine
Die Abstrafung der zu spät Gekommenen nahm ihren Verlauf und erlebte den zeremoniellen Höhepunkt ein knappes Jahr später bei der offiziellen Vereinnahmung der einen durch die anderen. Den wohlklingenden Sonntagsreden zum Trotz ahnten die besonnenen Köpfe beiderseits der Elbe hinter den Rauchschwaden des Feuerwerks bereits die Dimension der verpaßten Möglichkeiten, die an diesem dritten Tag des Monats Oktober zu Gunsten arroganter Großmannssucht und handfester kapitaler Interessen vergeben wurden. Auch wenn schlichtere Gemüter sich damit zufrieden gaben, „daß nunmehr zusammenwächst, was zusammengehört“, sage niemand er habe es nicht gewußt. Sicher hätte man von Willy Brandt nach dem Warschauer Kniefall andere historische Einblicke erwarten dürfen, als sie die Dürftigkeit des Zitats zu erkennen gab. Dennoch, der Mahner, auch in sozialdemokratischen Reihen, waren nicht wenige, nur wurden sie, ähnlich den zu spät Gekommenen, abgestraft und bespuckt, vaterlandslose Gesellen eben, Nestbeschmutzer.
Daß sich an der Züchtigung der Unbotmäßigen nicht nur die kriminellen Krawallmedien der einschlägig vorbelasteten Springerpresse beteiligten, sondern auch scheinbar seriöse oder linksliberale Schreiber wie Frank Schirrmacher in der FAZ oder Rudolf Augstein im Spiegel, mag der allgemeinen nationalen Besoffenheit geschuldet sein, entschuldigt ihr Verhalten jedoch nicht.
es liegen drei Kaiser begraben in Prag
Aber, machen wir uns nichts vor, auch ohne den Abstand der vergangenen zwanzig Jahre läßt sich konstatieren, des Volkes Mehrzahl, in Ost und West, wollte sie nicht hören, die unbequemen Warnungen. Zu klebrig verkleisterten des dicken Kanzlers Versprechungen Augen und Ohren der Betroffenen, ließen nichts hindurch außer wölfisch weich gekreideten Tönen, die alles niedersäuselten, was dem Einzug ins Geschichtsbuch im Wege stehen mochte und den überforderten Menschen Dinge versprachen, die nicht zu halten waren.
Oskar Lafontaine, ehemals Kanzlerkandidat der SPD wurde mit dem Stimmzettel abgestraft, Günter Grass, Mahner aus dem intellektuellem Spektrum, der Rechthaberei geziehen, was ihm von den stets präsenten Wadlbeißern bis heute nachgetragen wird. Es bewahrheitete sich zum wiederholten Mal: die Irrenden verzeihen den Warnenden nie, nicht ums eigene Verrecken. Was macht es eigentlich so schlimm, recht gehabt zu haben? Was so furchtbar, dies anzuerkennen?
das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.
Der eine hat zehn Jahre später nach einem kurzen Intermezzo im Kabinett Schröder mit der SPD gebrochen und seine politische Heimat inzwischen bei den scheinbar besseren Sozialdemokraten der Linken gefunden. Bezeichnend immerhin und für manchen Zeitgenossen vielleicht irritierend, seine parteilose Phase, in der er sich ausgerechnet durch die übelste Dummpostille der westdeutschen Zeitungslandschaft der Öffentlichkeit mitteilte. Est nomen omen?
Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.
Der andere hingegen ist seinem Weg treu geblieben. Von Beginn an forderte Grass einen Bund Deutscher Länder ein, der bei unveränderter staatlicher Souveränität beider Deutschlands, dem wirtschaftlich schwächeren Ostteil (Mangelland von Grass recht treffend benannt) Gelegenheit zur Konsolidierung gegeben hätte. Für ihn stand und steht nicht die territoriale und staatliche Einigung im Vordergrund, sondern die kulturelle und darin die Besinnung auf die gemeinsamen Wurzeln, aus denen alles erwuchs. Im übrigen ganz in der Tradition der deutschen Klassiker, der Herren Goethe und Schiller, die die Ausbildung des freien Menschen dem Streben nach Einheit der Nation vorzogen.
Doch es geht nicht darum, wer recht hatte und wer nicht. Es geht auch nicht darum, welcher der beiden deutschen Staaten der bessere war, welcher der schlechtere und wer deshalb auf wen mit dem Finger zeigen darf. Der Gesetzmäßigkeit des Siegers folgend, geschieht das sowieso vornehmlich in einer Richtung.
Man darf allerdings immer wieder von der schamlosen Dreistigkeit erstaunt sein, mit der seitens der alten Bundesrepublik die Verhältnisse in der ehemaligen DDR gegeißelt und abgeurteilt werden. Nicht, daß es in der DDR kein Unrecht, keinen Zwang, keine Benachteiligung Andersdenkender gegeben hat. (Wer frei von Schuld ist, werfe den ersten Stein.)
Doch muß man einer westdeutschen Justiz die Legitimität, über andere zu richten, absprechen, die es nicht vermochte, ihre eigene braune Vergangenheit auch nur in Ansätzen aufzuarbeiten.
Vielmehr geht es wieder einmal um eine verpaßte Möglichkeit, von der die deutsche Geschichte nicht wenige zu bieten hat. Wie so oft waren es auch diesmal die beiden unzertrennlichen Schwestern Arroganz und Dummheit, gepaart mit eitler Großmannssucht und den handfesten Interessen der grauen Eminenzen aus Kapital und Wirtschaft, die der Vernunft den Rang abgelaufen hatten.