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Zweitens: KILIANSTÄDTEN
ОглавлениеWorin Fräulein Wollschläger einen ihr bis dahin unbekannten Lebensstil kennenlernt, in einer viel zu großen Badewanne vor sich hin schäumt, ein sündhaft teures Abendessen in angenehmer Begleitung und einem pausenlos plappernden Padrone zu sich nimmt und ansonsten die Vorzüge des süßen und sorgenfreien Nichtstuns genießt. Weiters nimmt der Referendar Wildgruber konsequent die Verfolgung seiner Geliebten auf, kommt an eine Straßengabelung und betritt ein griechisch-hessisches Gasthaus, wird von einem Eingeborenen vor dem Erstickungstod gerettet und erfährt eine unerwartete Einladung durch eine wunderschöne Fee namens Frau Czerny, die ihn zwischenzeitlich in arge Verlegenheit bringt und ihn nach anfänglicher Verwirrung zu einer grundsätzlichen Neuorientierung seines Lebens bewegt.
1
Nachdem Erika mit dem freundlichen Herrn von Traubenau im Mietwagen vom Hanauer Hauptbahnhof kommend, nach kurzer Fahrt das nahe Kilianstädten erreichte, staunte sie nicht schlecht über die von jenem als Wohngelegenheit bezeichnete Unterkunft, die sich ihr in drei Etagen als Villa durchaus luxuriöser Häuslichkeit eröffnete, wie sie selbst es bislang nur in einschlägigen Magazinen, niemals aber in natura kennengelernt hatte. Die drei Etagen waren, für ihre Begriffe sensationell geschmackvoll, unterschiedlich eingerichtet, die Ebene in Biedermeier, die mittlere in Chippendale und das Dachgeschoss, der Umgebung entsprechend, bäuerlich naiv.
Jedes Geschoss war neben Wohn- und Esszimmer mit mindestens einem Schlafzimmer sowie Bad und Küche versehen und Herr von Traubenau stellte es der Wirtstochter ihrer Wahl anheim, die Chippendale oder die bäuerliche Ebene zu bewohnen, die unterste, Biedermeier eingerichtete hingegen erklärte er entschuldigend als sein ureigenstes Refugium, in dem sich auch sein Arbeitszimmer befand, das er, leider allzu oft, auch abends und nachts nutzen musste.
Erika entschied sich spontan für das bäuerliche Dachgeschoss mit seinen schrägen Wänden und der anheimelnden Holzverkleidung, wohl, weil dieses sie doch sehr an ihre häusliche Umgebung im heimischen Wetzlar erinnerte.
Der nette Herr von Traubenau erneuerte sein Angebot, die unbegrenzte Dauer ihres Aufenthalts betreffend, so sie es denn wolle und überreichte ihr ein Duplikat des Hausschlüssels, damit sie nicht auf seine Anwesenheit angewiesen sei und völlig unabhängig ihr Kommen und Gehen selbst bestimmen könne. Bei der Übergabe des öffnenden Instruments errötete die Wirtstochter und bedankte sich, unbewusst wohl, mit einem mädchenhaften Knicks, den der Herr von Traubenau seinerseits mit einem väterlichen Lächeln zur Kenntnis nahm.
Darauf zeigte er ihr den gut bestückten Wäscheschrank, dem sie Bettwäsche und die für die hygienischen Obliegenheiten notwendigen Textilien wie Hand und Gesichtstücher zu entnehmen er ihr antrug. Die benutzten Utensilien aber sollte sie in ein dafür vorgesehenes Behältnis ablegen, aus dem sie, je nach Bedarf, von einer extra dafür bestellten Aufwärterin entsorgt und der Reinigung zugeführt würden. Selbige sorge sich auch um die Reinhaltung der Räumlichkeiten und wenn sie, Erika, diesbezügliche Wünsche oder Probleme habe, solle sie sich getrost an die Aufwärterin, eine zuverlässigen Frau aus dem Ort, wenden oder gar, in dringenden Fällen, an ihn selbst, dass sofortige Abhilfe geschaffen werde.
Mit einem Blick auf seine Armbanduhr schlug der nette Herr von Traubenau vor, in etwa einer Stunde ein kleines Abendessen, zu dem er sie anlässlich ihrer neuen Bekanntschaft einzuladen sich eine Freude machen würde, zu zelebrieren. Die genannte Zeitspanne ließe ihr ausreichend Muße, ihre Dinge zu ordnen und sich auf einen hoffentlich gemütlichen Abend vorzubereiten. Dann deutete er eine dezente Verbeugung an und begab sich gemessenen Schrittes in seine Privatgemächer im untersten Stockwerk.
Fräulein Wollschläger inspizierte zunächst, einem drängenden Bedürfnis folgend, das Badezimmer und war begeistert von der großen runden Wanne, die in den Boden eingelassen war und mehr als drei Leuten gleichzeitig Platz für reinigende Tätigkeiten bot. Mittels eines zu drehenden Reglers konnte sie das Licht stufenlos von strahlender Helle über gedämpftes Leuchten bis zur zwielichtigen Schummrigkeit einstellen.
Sodann bezog sie das große Bett und verstaute ihre wenigen Habseligkeiten im geräumigen Kleiderschrank. Für den Abend wählte sie ein rotes Sommerkleid, von dem sie annahm, dass es ihre Erscheinung vorteilhaft darstellte. Bis zur avisierten Abfahrt war noch einige Zeit und so schob Erika einen Sessel zum Fenster, setzte sich hinein und schaute über die wenig befahrene Uferstraße auf den Fluss Nidda, der sich hier noch als überschaubares Rinnsal präsentierte, von dem große Schwärme von Schnaken aufstiegen.
Verträumt ließ sie ihren Blick über die ruhige Flusslandschaft gleiten, bis das Läuten des Fernsprechapparats sie aus ihrer Betrachtung riss. Vom anderen Ende der Leitung fragte sie der Herr von Traubenau, ob ihr der Aufbruch jetzt genehm wäre, denn die Zeit sei gekommen, er erwarte sie in wenigen Minuten vor dem Haus, aus dessen Garage er mittlerweile das Automobil chauffieren wollte.
Erika eilte behende die Treppen hinab, verschloss sorgfältig die Eingangstür des Hauses und stieg zu Herrn von Traubenau in ein wunderschönes Mercedes Cabriolet, in dessen gelber Lackierung die Abendsonne sich traulich spiegelte. Herr von Traubenau bog schwungvoll auf den Weg nach Hanau ein, denn er habe, so teilte er Fräulein Wollschläger während der Fahrt mit, im auf etwa halber Strecke gelegenen Wilhelmsbad im Restaurant des Golfclubs einen Tisch reserviert. Die Küche dort hob sich nach seiner Auskunft, obwohl oder gerade weil durch einen italienischen Padrone geführt, wohltuend von dem ansonsten in dieser Gegend gepflegten Standard ab, sowie sich die Auswahl der angebotenen Weine bei erstaunlicher Qualität preislich in einem durchaus angemessenen Rahmen hielt.
Im Restaurant angekommen, wurden sie schon an der Eingangstür von dem sofort herbeigeeilten Padrone per Handschlag überschwänglich begrüßt. "Ah Signora i Signore von Traubenau, iche freue miche, sie wieder in mein bescheidene Ristorante zu begrußen. Iche hab besten Tisch für sie reserviert, direkte an Fenster zur Reithalle, bene."
Dann eilte er geschäftig voraus, wedelte mit einem blütenweißen Handtuch ein zwei Mal über die makellose Tischdecke und rückte die Stühle zum bequemen Sitzen bereit. Der Padrone hob den Arm, knipste mit Daumen und Mittelfinger und sogleich wieselte ein Kellner dienstbeflissen herbei, sie nach ihren Wünschen bezüglich eines Aperitifs zu befragen. Fräulein Wollschläger war sehr angetan von der ganzen Zeremonie und nahm sich vor, sollte sie je wieder in der Gastronomie arbeiten, sich dieser Gepflogenheiten zu erinnern.
Sie überließ die Auswahl der Speisen und Getränke gerne dem versierten Herrn von Traubenau, dem sie, schon ob der Einrichtung seines Hauses, einen außergewöhnlichen Geschmack attestierte. Dies erfreute ihren Begleiter sichtlich und er schlug vor, freilich ohne ernsthaften Widerspruch zu erwarten, zunächst mit einem Gläschen Champagner den Abend zu eröffnen. Infolge dessen als Vorspeise von den hausgemachten Bandnudeln zu probieren, die von einer dezenten Sahnesauce mit ausgelösten Stückchen der Languste begleitet wurden und ganz hervorragend mit einem Glas trockenen Lugana vom Gardasee korrespondierten, einen Wein, den er wärmstens, haha, ein Scherz, der immer gut ankommt, empfahl. Nach angemessener Pause entschied er sich für in bestem Rotwein gedünstete Kalbsleber auf handverlesenen Salaten der Saison in einer unaufdringlichen Vinaigrette, deren wesentlicher Bestandteil ein weißer Balsamico di Modena traditionale, darstellte, das Beste, was es im gehobenen Essigwesen gäbe, wie der Padrone glaubwürdig versicherte. Dazu bestellte er ein Glas Vino Nobile di Montepulciano, jenen Wein, in dem auch die Kalbsleber ihrer Bestimmung entgegen simmerte.
Für den Hauptgang aber wählte der kenntnisreiche Herr von Traubenau einen Rücken vom Milchlamm, "um Gottes willen, Luigi, natürlich nicht in der Kräuterkruste, die nimmt das Aroma und überdies verschrecken die Semmelbrösel, aber ja doch, sondern nur kurz von beiden Seiten, nicht länger als jeweils sieben Minuten, das müssen sie mir versichern, Luigi, im heißen Ofen, jawohl, höchste Stufe, angebraten. Er muss innen noch rosa, fast roh, sein,
Sie wissen, wie ich es liebe, Sie machen das schon. Dazu ein feines Sößchen, en nature, nur der Fond mit enthäuteten und entkernten Tomatenteilen, Thymian und ein wenig Knoblauch, so ist es recht. Gerundet aber von einem Gratin Dauphinois, bitte nicht zu viel Muskat, er darf auf keinen Fall vorschmecken und, nein keine Bohnen im Speckmantel, das ist gewöhnlich, nein, in Butter geschwenkte Broccoliröschen, aber noch knackig im Ansatz und lassen Sie die Stiele großzügig wegschneiden, ich bitte Sie."
Der Padrone Luigi zog bei der letzten Bemerkung, das Gemüse betreffend, unmerklich die linke Augenbraue nach oben und empfahl zu besagter Bestellung einen Brunello di Montalcino, was Herr von Traubenau großzügig akzeptierte.
Dann ließ der Padrone sich zu einem breiten Lächeln herab und verkündete der Signora, dass der Signore von Traubenau weit besser kochen könne als er selbst und er, Luigi, seine Küchentür jederzeit weit für ihn geöffnet lasse, sollte es den Signore einmal gelüsten, seinen Fähigkeiten tatkräftigen Ausdruck am Herd zu verleihen.
Unabhängig davon kam er auf die Frage des Desserts zu sprechen und wollte gerade einen fulminanten Dialog verschiedener Früchte in Aussicht stellen, als Erika bat, sich einen lange gehegten Wunsch, nämlich Tiramisu, erfüllen zu dürfen. Diesmal zogen sowohl Luigi als auch der nette Herr von Traubenau ihre Augenbrauen um Weniges nach oben an, quittierten die Bestellung aber wohlwollend und ohne Widerspruch.
Fräulein Wollschläger wurde zusehends verwirrter in ihrem Kopf, was nur zu kleinen Teilen an dem herrlich perlenden Champagner liegen mochte. Vielmehr war sie einerseits sichtlich beeindruckt von der Sach- und Fachkenntnis, sowie der souveränen Art des in ihren Augen immer netter werdenden Herrn von Traubenau, andererseits hingegen fühlte sie sich zunehmend deplaziert in dieser Welt der Vino Nobile, Brunello, Lammrücken und Gratin Dauphinois, vom Muskat ganz zu schweigen, und ahnte, dass es nicht die ihre war, noch jemals werden würde. Zu groß erschien ihr der Graben, der sich ihr zwischen heimischem Presskopf und hiesigen Langustenstückchen auftat, als dass sie ihn zu überwinden sich zutraute. Diese Erkenntnis wiederum stimmte sie traurig, jedoch beschloss sie, das Essen, den Wein, den Abend insgesamt in vollen Zügen zu genießen, fürderhin aber als einen einmaligen in schöner Erinnerung und nur da, zu behalten, denn sie blieb sich der Mahnung ihrer lieben Mutter durchaus gewärtig, nur nach den Früchten sich zu strecken, die ihr auch erreichbar waren. Was überdies ja auch ein schönes Beispiel für die Nachhaltigkeit einer bodenständigen Erziehung, die auf dem Teppich zu bleiben wusste, darstellte.
So genoss Erika die feinen Speisen, noch um einiges mehr die exzellenten Weine, die sich ihr immer stärker erst im Blut, dann im Kopf festsetzten und plauderte sich mit dem netten Herrn von Traubenau durch die Stunden. Überließ sie anfangs noch ihrem Begleiter und dem geschwätzigen Padrone, der alle Nase lang an ihren Tisch trat und sich nach ihrem Wohlbefinden erkundigte, den Hauptteil der Konversation, so übernahm sie mit der steigenden Anzahl getrunkenen Rebensaftes zunehmend selbst die Gesprächsführung, nannte den Padrone kichernd Luigi und ihren Kavalier Traugott, denn so hieß er.
Endlich war, weit nach der Mitte der Nacht, der Zeitpunkt des Aufbruchs gekommen, der letzte Tropfen Wein seiner Bestimmung zugeführt, hatte der letzte Teller seinen Weg in die Spülmaschine gefunden, als sie wohlige Müdigkeit umflorte. Nur undeutlich nahm sie noch wahr, wie Traugott von Traubenau die Rechnung beglich, deren Höhe sie nicht vollständig verstand, aber als eine sündhafte einordnete, dann schwebte sie am Arm ihres Begleiters, von wortreichen Komplimenten des Padrone begleitet, dem Ausgang des Ristorante zu.
Auf dem Weg dorthin bemerkte sie noch zwei Kellner, die verzweifelt einen hochgewachsenen Mann in langem Mantel und wirrem Haar abzuwehren sich bemühten, der mit lautem Organ über Posamenten sich ausließ, die er hier und jetzt dem Ort zum Heil bringen wollte. Sie wusste nicht, was das war, Posamenten, hatte das Wort noch nie gehört und gleich darauf, als sie in die laue Nachtluft trat, auch wieder vergessen. Mit Sicherheit.
Herr von Traubenau chauffierte die pausenlos plappernde Erika tadellos zu ihrem gemeinsamen Heim, half ihr noch die Treppen hoch, bedankte sich vor der Tür des Dachgeschosses für den wunderbaren Abend, den er mit ihr zu verbringen den Vorzug hatte, wünschte eine angenehme Nachtruhe und entschwand sogleich in seine Privatgemächer.
Erika selbst war zwar ein wenig enttäuscht über seine aufdringliche Unaufdringlichkeit, denn sie war in Stimmung, freute sich aber bei intensiverem Nachdenken darüber, dass die Seriosität ihres Gastgebers keine vorgetäuschte, sondern eine tatsächliche war.
Sie entkleidete sich, verschob die Abendwäsche auf den Morgen, kuschelte sich in das ausladende Doppelbett und fiel alsbald in tiefen Schlaf.
Die nächsten Tage plätscherten dahin wie die Erzählung des Chronisten, Erika fühlte sich wohl in ihrem Dachgeschoss, saß den lieben langen Tag in dem Sessel am Fenster, schaute auf die Mückenschwärme über der träge fließenden Nidda, schlenderte durch die schmalen Gassen von Kilianstädten und verbrachte den Rest des Tages von weißem Schaum umhüllt in der ausladenden Badewanne, die so reichlichen Platz bot.
Abends, wenn der nette Herr von Traubenau, von seiner Tätigkeit kommend, sein Heim betrat, nahmen sie zusammen das Nachtmahl ein, wobei ihr Gastgeber darauf bestand, es höchst selbst zuzubereiten, obwohl Erika sich mehrmals anbot, ihm hierbei zur Hand zu gehen, tranken die eine oder andere Flasche Wein dazu, bis Herr von Traubenau, unaufschiebbare Arbeit vorgebend, sich in sein häusliches Kontor begab, während sie vor dem Fernseher all die bunten Programme staunend sich besah, die sie aufgrund ihrer Äbbelwoi verteilenden Abendbeschäftigung im elterlichen Wirtshaus bislang nie zu Gesicht bekommen hatte. So vergingen die jeweils vierundzwanzig Stunden der Tage und die Nidda zog dahin.
2
Am fünften oder sechsten Tag ihres Daseins indes begab sich der wackere Referendar Wildgruber in sein Automobil und rauschte von Büdesheim nach Kilianstädten, das Erika zu finden und traf am Ende der Uferstraße, wo es rechts nach Niederdorfelden, links aber nach Hanau ging, auf eine recht windige Holzbude, die er nach kurzem Hinsehen als Imbiss wahrnahm.
Der Referendar lenkte seinen Kadett nach links den Berg hoch und fuhr dann auf den kleinen Parkplatz der in Fahrtrichtung gelegenen Gaststätte Hahn. Er wollte sich erfrischen und hoffte insgeheim, von der örtlichen Bevölkerung einige Auskunft über das Haus zu bekommen, in dem seine Erika seit Tagen Tisch und Bett gefunden hatte.
Als er die Gaststätte Hahn betrat, schlug ihm ein neobäuerliches, mit starken griechischen Elementen versehenes Interieur wuchtig entgegen. An den Wänden hingen farbenfrohe Naivitäten größerer Formate, hellenische Alltagsszenen mit Meer, Sonne und unzähligen, Netze verteilenden Fischerbooten, darstellend. Es roch nach zwiebligem Schnetzelfleisch, das die Türken Kebab, die Griechen hingegen Gyros nennen.
An der Theke hockten zwei ältere Gesellen eindeutig hessischer Herkunft, ansonsten war die gastliche Taverna bar jeden weiteren Besuchs. Wildgruber wollte schon den Rückzug antreten, als sein Blick auf eine adrette Weibsperson mittleren Alters fiel, die hinter der Theke mit frisch gespülten Gläsern hantierte, besann sich unbewusst eines Besseren, nahm an einem der in Nischen eingebauten Tische Platz und vertiefte sich scheinbar interessiert in die dort ausliegende kunstlederne Speisenkarte.
Nach kurzer Weile erschien das äußerst feminine Geschöpf und fragte höflich nach seinem Begehr. Der Referendar hob seine Nase aus der Plastikkarte und schaute der Bedienung ins liebliche Gesicht, nahm verschwommen zwei rehbraune Augen wahr und einen rot umrandeten Kussmund. Er fühlte plötzlich eine nicht unbedeutende Wärme in sich aufsteigen. Nach Sekunden verlegenen Schweigens klappte er die Karte zu und sagte in wenig flüssiger Sprechweise:
"Mein Name ist Wildgruber und ich hätte gerne einen Äbbelwoi, nein, warten Sie, doch lieber ein Bier, ja, bitte ein Bier, bitte."
Die Bedienung aber legte ein anziehendes Lächeln auf ihr Antlitz und hauchte:
"Sehr gerne, Herr Wildgruber, ein Henninger, ich bin die Frau Czerny und der Herr dort vorne rechts", sie deutete auf die beiden am Tresen sitzenden Gesellen, "ist der Röser Heinz und daneben sitzt der Linder Karl."
Beide Herren sahen sich zu ihm um, nickten freundlich und Herr Röser antwortete:
"E Gude, Herr Wildgruber."
Wenngleich sich der Chronist zu Beginn der Niederschrift geschworen hatte, den Fluss der Erzählung nicht durch eigene, meist nur ablenkende Kommentare zu stören, scheint es ihm an dieser Stelle dennoch angebracht, die selbst auferlegte absentia zu brechen, gilt es doch zwei Punkte zu klären:
Zum einen sei angemerkt, dass es auch im Hessenlande durchaus nicht üblich ist, sich beim Betreten einer Restauration mit dem Namen vorzustellen und dann, auch bei mäßigem Besuch der Gastwirtschaft, die anwesenden Gäste ihrerseits mit dem Namen benannt zu bekommen, noch seltener indes den Nachnamen der Bedienung und dann noch von ihr selbst.
Dies war im vorliegenden Fall allein dem Umstand geschuldet, dass der Referendar Wildgruber beim Eintritt in den Schankraum, und damit kommen wir zum zweiten Punkt der Anmerkungen, eben jene Frau Czerny erblickte und dadurch in den Zustand vorübergehender Unzurechnungsfähigkeit versetzt wurde, wie im Übrigen besagte Frau Czerny ebenfalls, denn sonst hätte sie sich kaum erst selbst und dann die Herren Röser und Linder, die damit nun schon gar nichts zu tun hatten, namentlich preisgegeben.
Das sind diese Auf-den-ersten-Blick-Geschichten, von denen man allerweil liest oder im Fernsehen abendfüllende Filme anschauen muss. Die soll es ja nun wirklich geben, wie das Beispiel des Referendars Wildgruber und der Frau Czerny beweist. Morgens noch läuft man ahnungslos durch seine gewohnte Umgebung, mittags ist auch noch alles in Ordnung und abends hängt man dann im größten Beziehungsschlamassel, nur weil es am späten Nachmittag irgendwo pling gemacht hat. Siehe wiederum das Beispiel Wildgruber/Czerny.
Hinzu kommt, dass einem die Wirklichkeit einen derartig quatschigen Blödsinn vorgaukeln kann, wie sonst nur Drehbücher minderen Anspruchs. Von wegen braune Rehaugen und rot umrandeter Kussmund. Der Chronist würde einiges drum wetten, dass der Referendar noch nie von Angesicht zu Angesicht einem Reh gegenüber gestanden hat. Wie denn auch, wo es sich, wie jeder durchschnittliche Kreuzworträtsellöser weiß, um scheue, fast möchte man sagen, äußerst scheue Waldtiere handelt, die sofort das Weite suchen, wenn sie einen Gerichtsreferendar durchs Unterholz stolpern hören. Überdies hat die Frau Czerny Augen unterschiedlicher Couleur und keines davon ist braun, sondern eins ist grün und das andere graugrün.
Und roter Kussmund erst, ganz klar ein Fall für den Verfasser von Drei-Groschen-Romanen der dusseligsten Sorte. Francois Villon hat sich mit dem Erdbeermund der dicken Margot, nachdem er angeblich so wild war, zumindest noch was einfallen lassen und in der Rezitation von Kinski klang das gar nicht mal so schlecht. Aber Kussmund, und dann noch rot umrandet? Da sind mit dem guten Wildgruber doch die pausbäckigen Putten durchgegangen, respektive hat die vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit ein Momentchen länger gedauert als gewöhnlich, was einem Fehler im Sauerstoff-Versorgungssystem des Gehirns gleichkommt und derartige Ausfälle provoziert.
Was überhaupt ist Wirklichkeit? Das, was wir sehen oder das, was wir sehen wollen und uns dementsprechend zurecht biegen, bis es uns passt? Weiß Wildgruber eigentlich, was er gesehen hat, oder anders herum gefragt, hat er in zwanzig Jahren noch dasselbe Bild vor Augen oder hat ihn die reale Wirklichkeit eingeholt. Fragen über Fragen und keiner weiß so richtig, wie es alles endet.
Der Chronist schon erst recht nicht.
Zum Beispiel die imbissige Holzbude, die der Referendar an der Weggabelung rechts nach Niederdorfelden, links nach Hanau gesehen hat. Dort steht in großen Lettern Frikadellowitsch drüber. Das ist die Wirklichkeit. Aber kann man diesen Unsinn niederschreiben? Das glaubt einem doch kein Leser, dass irgendjemand so bescheuert ist, das Wort Frikadellowitsch über seine ranzige Holzkate zu hängen, nur weil oder auch wenn er dem ehemaligen Jugoslawien entsprungen ist und die Leute trotzdem bei ihm noch einkehren und fettige Wurst mit ebensolchen Pommes in sich hineinfressen, Auge in Auge mit der Sense des Gevatters Hein, dem knochigen Schlingel.
Aber so ist das reale Leben, und nicht anders. Man kann sich solche blödsinnigen Romane gar nicht ausdenken, das nimmt einem kein Lektor ab, schon gar kein Leser, aber die Wirklichkeit, die darf sich offensichtlich alles herausnehmen. Und deshalb hört der Chronist an dieser Stelle auf, über ungelegte Eier zu philosophieren und kommt endlich wieder seiner Pflicht der wahrheitsgemäßen Berichterstattung nach. Wohlan denn.
Nach erstaunlich kurzer Zeit stellte die Frau Czerny dem Herrn Wildgruber ein Bier der Marke Henninger vor die Nase und blieb dann am Tisch stehen. Während der Referendar das Bierglas an die Lippen hob und zu trinken begann, fragte Frau Czerny, ob sie sonst noch irgendetwas für ihn tun könne, sie täte es, so ein Wunsch bestünde, sehr gerne und provozierte damit unbeabsichtigt einen Hustenanfall mittlerer Stärke, denn Wildgruber hatte sich unversehens beim Klang ihrer Stimme verschluckt und kämpfte mit dem Henninger Bier in seiner Luftröhre ein erbittertes Gefecht. Sein Kopf, der beim Erscheinen der Frau Czerny einen rosafarbenen Teint angenommen hatte, wechselte ins Dunkelrote und die Tränen schossen in ungewöhnlichen Strömen in seine Augen, so dass sein Blick ein mehr und mehr verschwommener ward.
Frau Czerny aber, nicht wenig erschrocken über das Unheil, das sie mit ihrer an sich harmlosen Frage angerichtet hatte, setzte sich schnell auf die Bank neben ihren neuen Gast und traktierte seinen Rücken mit eher streichelnden denn klopfenden Bewegungen der flachen Hand, die in anderen Zusammenhängen für den Herrn Wildgruber durchaus angenehm gewesen wären, hier und jetzt aber ob ihrer Zartheit nicht das gewünschte Ergebnis zeitigten.
Da erwies es sich sehr zum Vorteil des würgenden Referendars, dass der an der Theke weilende Herr Röser ein überaus praktisch veranlagter Hessenmensch war, der ohne Umschweife an den Tisch kam, die kreisende Hand der Frau Czerny beiseite schob und dem Herrn Wildgruber mit seiner Pranke, und als eine solche konnte man die Hand Rösers ohne Frage bezeichnen, ein paar Mal kräftig zwischen die Schulterblätter drosch. Dies nun hatte zwar zur unmittelbaren Folge, dass der Kopf des bajuwaren Gerechtigkeitsdieners nach vorne auf die Tischplatte knallte, wo der Aufprall durch die Decke mit den griechischen Stickmustern nur unwesentlich gebremst wurde, zur mittelbaren Folge aber auch, und darauf kam es schließlich an, das glückliche Ende der lebensbedrohlichen, da erfolglosen Luftschnapperei.
Wildgruber fieselte ein Papiertaschentuch aus seiner Jackentasche und tupfte sich notdürftig die Tränen aus dem Gesicht. Frau Czerny unterdes ließ ihre Hand erneut in kreisenden Bewegungen über seinen Rücken streichen und trug damit in großen Teilen zur schnellen Rekonvaleszenz des immer noch stark geröteten Referendars bei.
Wildgruber, wegen seines bühnenreifen Anfalls und der czernyschen Hand auf seinem Rücken doppelt verlegen, kramte verwirrt in der plastösen Speisenkarte und bestellte dann kurz entschlossen einen Grillteller, aber in einer kleinen Version, ohne die scharf angebratenen Teile, die er aufgrund seines sensiblen Magens nicht vertrüge, auch die Pommes Frites sollten besser zugunsten von Backkartoffeln ausgetauscht werden, wie überhaupt das Fleisch nicht seine Passion sei und er mehr Wert auf einen größeren Anteil salatiger Beilagen läge, wobei natürlich eine angemessene Portion Tzaziki, wenn es ginge, nicht mit allzu viel Knoblauch, denn der sei ja wiederum scharf, nicht fehlen sollte, ob das so möglich wäre?
Das sei kein Problem, antwortete Frau Czerny, wenn sie ihn recht verstanden habe, möchte er einen Grillteller ohne alles, also Tzaziki mit wenig Knoblauch, Backkartoffeln und Salatbeilage, von allem überschaubare Portionen, zusammengefasst, ein vegetarischer Kinderteller, sie ginge jetzt unverzüglich in die Küche, die Bestellung in Auftrag zu geben. Frau Czerny aber blieb sitzen, streichelte weiter mit ihrer heilenden Hand die rückwärtige Oberpartie des Referendars und schaute ihn verträumt von der Seite an.
Wildgruber selbst, der keinerlei Hunger verspürte, sondern nur losgeplappert hatte, weil er meinte, etwas sagen zu müssen, erwiderte den Augenkontakt mit eben selbiger Verträumtheit und vergaß Bier und Bestellung, nahm nur noch die Berührung von Blick und Hand wahr und fühlte sich losgelöst in Gastraum und Zeit schwebend. Das Leben ist schön, zog ihm, von irgendwo her kommend, durchs Gehirn.
Der örtliche Hütejunge hätte in diesem Augenblick eine stattliche Anzahl laut schnatternder Gänse von der Eingangstür quer durch das Lokal in die Küche treiben können, ohne dass Frau Czerny und Herr Wildgruber Kenntnis davon zu nehmen sich angemaßt hätten.
Wohl aber die Herren Röser Heinz und Linder Karl, deren Biergläser leer waren und die deshalb lautstark um erneute Füllung baten. Das rief einen hochgewachsenen, vollbärtig umrahmten Mann südländischen Aussehens auf den Plan, der aus der Küchentür kommend, sich nach einem Blick in die relative Leere der Gaststube wortlos aber unverzüglich am Zapfhahn zu schaffen machte.
Das sei der Kollege Ziegler, hauchte Frau Czerny dem Referendar zu, der eigentlich am Nachmittag Zwiebeln, Knoblauch und Gurken schneide, das Tzaziki rühre und auch sonst die anfallenden Arbeiten in der Küche erledige. Ein netter Mensch, auch wenn es nicht so aussähe, sei er nicht ein Viertel so grimmig, wie sein Bart und der Gesichtsausdruck es vermuten ließe.
Im Übrigen, fügte sie nach einem flüchtigen Blick auf ihre Armbanduhr hinzu, habe sie in wenigen Minuten Feierabend und würde sich freuen, ihn, den Herrn Wildgruber, noch auf ein Gläschen, was immer er wolle, zu sich nach Hause einladen zu dürfen, in allen Ehren selbstverständlich und ohne Verpflichtung, jedoch mit Freude und Engagement. Einen Salat würde sie ihm gerne auch in den eigenen vier Wänden bereiten, einen Salat, der zudem um ein Vielfaches besser sei als der, den der Kollege Ziegler ihm besorgen könne, denn jener sei zwar nett und willig aber ohne jedes Talent, die Grundlagen einer bekömmlichen Zubereitung von Speisen in der Küche umzusetzen, während sie, Frau Czerny, über die besagten Grundlagen hinaus auch die Feinheiten bis ins Detail beherrsche.
Der Referendar, der seit dem Betreten der griechisch-hessischen Gaststätte Hahn eher weniger denn mehr, schon gar nichts Wesentliches von sich gegeben hatte, war auch infolge des unverhofften aber sehnlichst erwünschten Angebots der Frau Czerny mit Sprachlosigkeit geschlagen und konnte nur, erneut errötend, durch ein bereitwilliges Nicken mit dem geschundenen Kopf Zustimmung der eifrigsten Art signalisieren, von der er hoffte, dass sie auch als solche angenommen werden würde. Da aber Frau Czerny eine sehr weibliche, praktisch und lebensnah veranlagte Frau war, hatte sie eine Ablehnung ihrer Offerte in keinem Moment, sondern vielmehr ausschließlich ein heftiges Bejahen als Antwort in Erwägung gezogen und lag damit auch völlig richtig.
Sie stand auf, schwebte hinter die Theke, flüsterte dem Kollegen Ziegler einige Sätze ins Ohr, der daraufhin, mürrisch schien, nickte, kam an den Tisch zurück, zog den in seiner Verlegenheit verschwiemelten Referendar aus dem Sitz und verschwand mit ihm aus der Wirtshaustür über die schmale Gasse zu der Behausung, in der sie zwei Zimmer bewohnte.
3
Nachdem sie das Wohnzimmer betreten hatten, setzte Frau Czerny den immer noch stummen Referendar auf die Couch, bat ihn einen Augenblick um Geduld und verschwand dann ohne weiteres Wort im Nebenzimmer.
Wildgruber fühlte sich sofort wohl in der ordentlichen Atmosphäre des Wohnzimmers und staunte über die geschmackvolle Einrichtung aus hellen Holzmöbeln mit bunt verspielten Bezügen und den vielen kleinen Stofftieren, die überall herumstanden und lagen. An den Wänden hingen, hübsch gerahmt, farbige Kunstdrucke mit mediterranen Genreszenen, in der Mehrzahl Netze auswerfende Fischerboote, die in Strandnähe unter starker Sonneneinstrahlung in der Dünung schaukelten.
Lange hatte der Referendar allerdings keine Zeit für seine Betrachtungen, denn so plötzlich, wie sie verschwunden war, stand seine Gastgeberin wieder vor ihm. Er hatte ihr Kommen nicht hören können, da sie barfuss war und ihr leichter Schritt sich im hohen Flor des flauschigen Teppichs verlor.
Als Wildgruber sie vor sich stehen sah, schnürte es ihm unverzüglich die Kehle zusammen und er spürte, wieder einmal, eine heiße Röte schlagartig sich in seinem gesamten Körper ausbreiten.
"Oh, Frau Czerny, du bist ja nackicht", stammelte er mit hervorquellenden Augen und wollte sich gleich darauf in die Zunge beißen, weil er das förmliche "Sie" ohne Ankündigung einseitig in ein vertrauliches "Du" gewandelt hatte.
"Ach, Herr Wildgruber", seufzte Frau Czerny und stieg graziös auf ihn und die Couch.
Am frühen Morgen erwachte der Referendar, vom Harndrang geplagt, in den Armen von Frau Czerny und wühlte sich durch Laken, Bettbezüge und unzählige, verstreut im Weg liegende Kleidungsstücke zu dem stillen Ort, der ihm Gelegenheit zur Erleichterung bot. Während er hinausließ, was hinaus musste, stellte er nicht ohne Erstaunen fest, dass er zwar im höchsten Maße ermattet, aber ohne jedes schlechte Gewissen war. Im Gegenteil. Als er sich, zurückgekommen, in die warmen Kissen neben Frau Czerny kuschelte, erwachte diese und beide setzten mit Freude die Tätigkeit fort, der sie schon einem großen Teil der Nacht, nur durch biologisch bedingte Pausen unterbrochen, konzentriert und eifrig nachgegangen waren.
Doch dann war Sense und sie lagen beflügelt von vergangenen Ergüssen in zerknüllten Weichheiten über- unter- mit- und irgendwann letztendlich auch nebeneinander.
Nachdem er meinte, wieder zu Sinnen gekommen zu sein, sprudelte es geradezu wasserfallartig aus dem Referendar Wildgruber hinaus, überspülte seine nicht enden wollende Tirade Frau Czerny in ihrer nackichten Blössigkeit mit allen ihm wesentlich erscheinenden Stationen seines bisherigen Lebens, bei Hege und Aufzucht beginnend, über Schule, Studium und Beruf bis hin zu seinem Verhältnis mit dem Erika und der ihm nach der letzten Nacht verhängnisvoll erscheinenden Verstrickung in das Wollschlägersche Wirtshausimperium. Er erleichterte sich um ein weiteres Mal.
Dabei sparte er keinesfalls seine eigene Rolle als Liebhaber der Wirtstochter und Hoffnungsträger von Vater und Mutter Wollschläger aus, dereinst die Nachfolge im Schankgewerbe anzutreten, nachdem die Verbindung mit dem Erika durch Brief, Siegel und Segen legalisiert worden sei.
Er vergaß auch nicht zu erwähnen, dass dies bis zum gestrigen Abend sein ureigenster Wunsch gewesen war, der infolge der Ereignisse auch seine Anwesenheit in Kilianstädten erklärte, einem Ort, den er vordem nicht einmal vom Namen her kannte, geschweige denn von Angesicht. Aber nun sei plötzlich, über Nacht sozusagen, alles anders geworden. Denn da sei sie, Frau Czerny, in das getreten, was er bislang als Leben angesehen hatte und, fügte er nicht ohne leichte Verlegenheit hinzu, er habe sie lieben gelernt, nicht nur körperlich, sondern in Gänze, mit Haut und Haaren quasi und gedächte auch nicht, davon wieder abzugehen, komme, was da kommen wolle.
Allerdings, fügte er an, sei er ein Referendar von Ehre und werde sich dieser auch ebenbürtig erweisen, denn er wolle seine bisherige Geliebte noch heute aufsuchen, ihr von der glücklichen Wendung in seinem Leben Bericht erstatten und darüber hinaus für die vergangene, durchaus nicht unglückliche Zeit, Dank abstatten. Zudem seien da noch die nicht unbeträchtlichen finanziellen Zuwendungen, die er aus dem Wollschlägerschen Vermögen zur Rückführung der verlorenen Tochter erhalten hatte und ihr zu seiner Entlastung in voller Höhe erstatten werde.
Da die Frau Czerny, wie bereits erwähnt, trotz ihrer Jugendlichkeit eine doch erfahrene und praktisch denkende Frau war, stimmte sie dem überschäumenden Herrn Wildgruber zunächst einmal in allen wesentlichen Punkten zu und schlug ihm als allerersten Schritt vor, umgehend sein Büdesheimer Quartier beim Eulerwirt zu kündigen und mit Sack und Pack in ihre hiesige Wohnung zu ziehen.
Das spare nicht nur Geld, sondern auch Zeit und Umstände, denn wenn sie die Sachlage richtig einschätze, würden sie, der Herr Wildgruber und die Frau Czerny, in voraussehbarer Zukunft dieselbe eher mit-, denn voneinander verbringen, und das sei gut so.
Das weitere Vorgehen aber, die Aussprache mit der verflossenen Erika betreffend, die ordnungsgemäße Rückführung der pekuniären Abhängigkeiten und die näheren Umstände des nicht unkomplizierten Komplexes insgesamt, wolle sie lieber heute Abend bei einem gepflegten, von ihr selbst bereiteten Essen mit ihm besprechen und bat ihn, bis dahin von jeglichen Aktivitäten in dieser Richtung Abstand zu nehmen.
Dem stimmte der Referendar, der sich der weiblichen Logik der Frau Czerny weder verschließen konnte noch wollte, ohne Weiteres zu.
Bevor sie sich abermalig ihrer ineinander passenden Körperlichkeiten erinnerten, zeigte Wildgruber ihr noch die Postkartenadresse seiner ehemals Geliebten und erfuhr von Frau Czerny, dass es sich bei dem Herrn von Traubenau um einen sehr netten älteren Herrn handele, absolut seriös und vertrauenswürdig, der mit einem für normale Verhältnisse schier unermesslichen Reichtum geschlagen sei, den er aber leider nicht, nicht einmal anteilmäßig, in dem Lokal verbrate, in dem sie arbeite. Offensichtlich sei er Besseres gewöhnt, oder aber, stellte sie die Vermutung an, der Kollege Ziegler hätte ihn, den Herrn von Traubenau, bei einem seiner wenigen Besuche in der Gaststätte Hahn, durch seine zuweilen für Außenstehende als etwas schroff empfundene Art abgeschreckt.
Unter derlei kurzweiligem Gespräch verbrachten sie den Tag bis zu dessen Mitte, denn um diese Zeit hatte Frau Czerny ihren Dienst anzutreten.
Der Referendar erhielt einen Wohnungsschlüssel, begab sich, ohne zu zögern nach Büdesheim, kündigte dem überraschten Eulerwirt sein kaum benutztes Zimmer, verstaute seine Habseligkeiten im Reisekoffer und trat den Rückweg nach Kilianstädten an, wo er hastig den Koffer unterstellte, um sich dann unverzüglich in die Gaststätte Hahn zu trollen, denn er mochte so wenig Zeit wie möglich ohne Frau Czerny verbringen.
Als er die griechisch-hessische Oase seines Glücksinns betrat, saßen die Herren Röser und Linder bereits an der Theke und begrüßten ihn freundlich.
"E Gude, Herr Wildgruber."