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2. Gemeinsame Grundlagen der
Wissenschaften 2.1 Methode und Voraussetzungen der
Wissenschaftstheorie
ОглавлениеPrima facie lassen sich zwei gegensätzliche Auffassungen zur Aufgabenstellung und Methode der Wissenschaftstheorie unterscheiden:
Normative vs. deskriptive Wissenschaftstheorie
1.) Der normativen Auffassung zufolge hat Wissenschaftstheorie die Aufgabe, zu sagen, was Wissenschaft sein sollte, und wie sie betrieben werden sollte. Zu diesem Zweck muss Wissenschaftstheorie angeben, worin wissenschaftliche Rationalität besteht, und aufgrund welcher Kriterien sich eine wissenschaftliche Hypothese rational rechtfertigen lässt.
2.) Der deskriptiven Auffassung zufolge hat Wissenschaftstheorie dagegen die Aufgabe, zu sagen, was Wissenschaft de fakto ist und wie sie betrieben wird. Zu diesem Zweck muss Wissenschaftstheorie die faktischen Wissenschaften in ihrer historischen Entwicklung und gegenwärtigen Struktur so gut wie möglich beschreiben und erklären.
Die normative Auffassung ist historisch älter und gegenwärtig immer noch weit verbreitet. Sowohl die logischen Empiristen wie die kritischen Rationalisten vertraten diese Auffassung. Die deskriptive Gegenposition wurde dagegen erst mit der durch Kuhn (1967) ausgelösten historischen Wende der Wissenschaftstheorie aktuell; wir finden sie z.B. bei Strukturalisten (z.B. Stegmüller 1973a, 297ff.; Balzer 1982, 1–5) oder bei Naturalisten (z.B. Bird 1998, 266f.; Giere 1999, 157–163). Welche Position ist nun die richtige?
Die Position der Normativisten gründete sich auf die bekannte, auf Hans Reichenbach (1938, 6f.) zurückgehende Unterscheidung zwischen dem Entdeckungs- bzw. Entstehungszusammenhang von wissenschaftlicher Erkenntnis (context of discovery), und ihrem Begründungs- bzw. Rechtfertigungszusammenhang (context of justification). Die prima facie plausible Argumentation der Normativisten lässt sich wie folgt aufschlüsseln (s. z.B. Popper 1935/76, Kap. I.2):
(2.1–1) Argumentation der Normativisten:
Prämisse 1: Für die Beurteilung des Erkenntniswertes einer Hypothese ist nur die Frage der rationalen Rechtfertigbarkeit ihres Wahrheitsanspruches maßgeblich.
Prämisse 2: Ihre faktische Entstehungsgeschichte, die Gründe ihrer Entdeckung oder Erfindung usw., sind hierfür dagegen völlig irrelevant.
Konklusion: Daher sollte sich die Wissenschaftstheorie nur mit der rationalen Rechtfertigung von Wissenschaft beschäftigen und sich nicht um ihren Entstehungszusammenhang kümmern – letzteres ist die Sache von Wissenschaftsgeschichte, -soziologie oder -psychologie, aber nicht Sache von Wissenschaftstheorie.
Normativistischer Fehlschluss
Da seit Kuhn (1967) die normativistische Argumentation sehr pauschal kritisiert wurde, wollen wir uns klarmachen, worin die Berechtigung und worin der Fehler dieser Argumentation liegt. Zunächst ist die Argumentation logisch korrekt – wenn man als analytisch wahr unterstellt, dass es der Wissenschaftstheorie um die Beurteilung des Erkenntniswertes von Hypothesen geht. D.h., wären die Prämissen des Argumentes wirklich wahr, dann wäre auch die Konklusion wahr. Der Fehler liegt auch nicht in Prämisse (1) – auch diese These scheint analytisch wahr zu sein, insofern es Erkenntnis um Wahrheit geht und um nichts sonst. Dagegen ist Prämisse (2) vom ‚Bazillus‘ des normativistischen Fehlschlusses infiziert. Denn die historische Genese einer wissenschaftlichen Hypothese umfasst ja nicht nur erkenntnisexterne Momente, die erkenntnisirrelevant sind, sondern auch erkenntnisintern relevante Momente, z.B. die experimentellen Methoden, die Wissenschaftler de fakto verwenden, und die rationalen Hypothesenbewertungen, die sie de fakto vornehmen. Beispielsweise beschreibt der organische Chemiker Kekulé, dass er seine bahnbrechende Hypothese des ringförmigen Benzolringes zum ersten Mal im Traum gewonnen habe (s. Hempel 1974, 28). Für die empirische Rechtfertigung dieser Hypothese hat dies natürlich keine Rolle gespielt. Andererseits wurde das Boyle-Mariottesche Gasgesetz durch systematische induktive Datenextrapolation gewonnen (Langley et al. 1987, 81) – und dies spielt für die empirische Rechtfertigung dieses Gesetzes eine entscheidende Rolle. Von den erfolgreichen de-fakto Methoden und Argumentationen der Wissenschaften sollten die Wissenschaftsphilosophen lernen; aber das können sie nur, wenn sie sich diese ansehen. Was die Normativisten statt Prämisse 2 zumeist nur sagen wollen, oder zumindest nur sagen sollten, ist folgende nahezu triviale Abschwächung.
(2.1–2) Prämisse 2∗: Der erkenntnisexterne Anteil der Entwicklungsgeschichte einer Hypothese ist für die Beurteilung ihres Erkenntniswertes irrelevant.
Bedeutung der Wissenschaftsgeschichte
Die Konklusion des Argumentes (2.1–1) folgt natürlich nicht mehr, wenn man Prämisse 2 durch die schwächere Prämisse 2∗ ersetzt. Und in dieser Konklusion wird der Fehler der normativistischen Argumentation gravierend. Um dies zu erkennen, muss man sich nur folgende Frage vorlegen: wie gelangen denn die Wissenschaftstheoretiker zu den von ihnen aufgestellten Regeln und Kriterien der wissenschaftlichen Methode? Es wäre naiv, anzunehmen, dass sich diese Regeln und Kriterien durch reine Logik oder bloße Intuition gewinnen lassen könnten; dazu ist Wissenschaft viel zu komplex. Das wäre ebenso, als wenn jemand ein Lehrbuch über Methoden des Brückenbauens schreiben möchte, ohne sich die de-fakto Geschichte des Brückenbauens oder zumindest Brücken-Musterbeispiele genau anzusehen. Die Wissenschaftstheorie kann und soll also aus den Musterbeispielen der Wissenschaftsgeschichte lernen. Wir gelangen damit zu folgendem Resultat: obwohl die Aufgabe der Wissenschaftstheorie primär darin besteht, die Methoden und Kriterien rationaler Wissenschaft herauszufinden, so ist es hierzu dennoch unumgänglich, auch die faktischen Wissenschaften in ihrer historischen Entwicklung zu studieren.
Aufgrund der Kuhnschen Kritik kristallisierte sich die Einsicht heraus, dass die Wissenschaftsmodelle des logischen Empirismus und kritischen Rationalismus in vielen Hinsichten zu simpel waren, um reale Wissenschaft zu erfassen (vgl. Stegmüller 1986, 20). Als Reaktion darauf proklamierten jüngere Wissenschaftstheoretiker, Wissenschaftstheorie solle sich überhaupt auf die deskriptive Analyse der Wissenschaften beschränken. Aber auch diese Position ist weit übertrieben. Die Frage nach der Definition und den Kriterien wissenschaftlicher Rationalität muss natürlich im Zentrum der Wissenschaftstheorie bleiben, denn diese Frage ist es ja, was die Wissenschaftstheorie als Disziplin zusammenhält und von Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftssoziologie unterscheidet. Zusammengefasst ist Wissenschaftstheorie somit eine Disziplin, die sowohl deskriptive wie normative Bestandteile enthält (s. auch Stegmüller 1973b, 9ff.).
Deskriptives und normatives Korrektiv
Die Methode der Wissenschaftstheorie lässt sich am besten als rationale Rekonstruktion bezeichnen. Diese Methode bewegt sich zwischen zwei Polen: einem (sogenannten) deskriptivem Korrektiv, welches adäquat rekonstruiert werden soll, und einem normativen Korrektiv, welches Rationalitätsnormen beinhaltet. Das deskriptive Korrektiv enthält Musterbeispiele erfolgreicher wissenschaftlicher Erkenntnisse sowie aber auch Mustergegenbeispiele von widerlegten wissenschaftlichen Hypothesen. Über diese Muster(gegen)beispiele besteht rationaler Konsens, auf den sich Wissenschaftstheorie zumindest vorläufig stützen darf.
Das normative Korrektiv beinhaltet zunächst eine oberste erkenntnisinterne Zielvorgabe (oder Norm), welche folgendes besagt (s. auch Weingartner 1978, § 3.2):
(2.1–3) Das oberste Erkenntnisziel (Z) der Wissenschaft besteht in der Findung von möglichst wahren und gehaltvollen Aussagen, Gesetzen oder Theorien, über einen bestimmten Gegenstandsbereich.
Gehaltvolle Wahrheit als Zielvorgabe der Wissenschaft
Dabei ist ein Satz umso gehaltvoller, je mehr Konsequenzen er besitzt (s. Kap. 3.7). Die Einschränkung auf gehaltvolle wahre Aussagen ist bedeutsam, denn Wahrscheinlichkeit und Gehalt von Hypothesen sind oft gegenläufig. Man kann die Wahrheitschancen von Hypothesen maximieren, indem man nur triviale Tautologien äußert, wie etwa „die Sonne dreht sich um die Erde oder auch nicht“. Andererseits ist es leicht, sehr gehaltvolle und beeindruckende Hypothesen vorzutragen, wenn man auf ihre Wahrheit keine Rücksicht nimmt, wie z.B. „ich habe ein Perpetuum Mobile erfunden“. Die eigentliche Kunst des Wissenschafters besteht darin, Hypothesen zu formulieren, die sich sowohl empirisch bewahrheiten als auch als gehaltvoll und konsequenzenreich erweisen.
Minimale erkenntnistheoretische Annahmen
Das Ziel der wahren gehaltvollen Aussage besagt allein jedoch noch überhaupt nichts, solange nicht zumindest in groben Zügen umrissen ist, was unter ‚Wahrheit‘ verstanden werden soll. Jeder Mensch, welchem ‚Denkstil‘ er auch zugehören mag, beruft sich gerne auf das Wahrheitsziel, nur dass dabei jeder unter Wahrheit etwas anderes verstehen mag. Das wissenschaftliche Erkenntnisziel gewinnt daher erst greifbaren Inhalt durch die zweite, vom Wissenschaftstheoretiker vorausgesetzte Komponente, ein minimales gemeinsames erkenntnistheoretisches Modell der Wissenschaften, das Begriffen wie Wahrheit etc. erst Sinn verleiht. Wir werden in Kap. 2.2 dieses erkenntnistheoretische Modell der Wissenschaften genau explizieren. Hier sei es nur in Stichpunkten umrissen: es enthält (1) einen minimalen Realismus, (2) die Einstellung der Fallibilität (Fehlbarkeit), (3) das Streben nach Objektivität, (4) einen minimalen Empirismus, sowie (5) das Streben nach logischer Klarheit. Obwohl dieses minimale erkenntnistheoretische Modell nicht aus normativen, sondern aus deskriptiven Behauptungen besteht, rechnen wir es dennoch zum normativen Korrektiv der Wissenschaftstheorie, da es dem obersten Wissenschaftsziel erst klaren Sinn verleiht und von der Wissenschaftstheorie normalerweise vorausgesetzt wird.
Gegeben das so beschriebene normative und das deskriptive Korrektiv, so kann die Methode der rationalen Rekonstruktion wie folgt präzisiert werden:
(Def. 2.1–1) Methode der rationalen Rekonstruktion: Entwickle verallgemeinerte und logisch möglichst präzise Modelle von wissenschaftlicher Erkenntnis, die einerseits auf das deskriptive Korrektiv zutreffen, d.h. den Erfolg seiner Musterbeispiele und den Misserfolg seiner Mustergegenbeispiele optimal erklären können, und die andererseits sich unter Voraussetzung des normativen Korrektivs rechtfertigen lassen, und zwar als optimale Mittel, um unter Voraussetzung des minimalen erkenntnistheoretischen Modells das oberste wissenschaftliche Erkenntnisziel zu erreichen.
Die Tätigkeit der Wissenschaftstheorie besteht also darin, aus dem deskriptiven Korrektiv verallgemeinerte Modelle zu abstrahieren, die zugleich dem normativen Korrektiv entsprechen. In gewisser Weise besagt dies schon der Begriff der rationalen Rekonstruktion: man zeichnet etwas nach und erweist es dadurch zugleich als rational. Zusammengefasst zeigt dies das Schema in Abb. 2.1–1.
Anwendung der Wissenschaftstheorie auf kontroverse Bereiche
Solange beide Teilaufgaben der rationalen Rekonstruktion – deskriptive Adäquatheit und normative Rechtfertigbarkeit – in Harmonie miteinander erfolgreich durchführbar sind, ist die wissenschaftstheoretische Rekonstruktionsarbeit geglückt und ihre Resultate können als bewährt gelten. Natürlich ist nicht zu erwarten, dass alles, was man in der faktischen Wissenschaft antrifft, auch rational gemäß dem normativen Korrektiv ist. Daher enthält das deskriptive Korrektiv der Wissenschaftstheorie auch nur anerkannte Musterbeispiele und -gegenbeispiele. Haben sich wissenschaftstheoretische Modelle bewährt, so kann man sie in einem weiteren Schritt dann auch auf kontroverse Bereiche einzelner Disziplinen anwenden, in denen keine Einigkeit vorliegt – mag es sich dabei um das Objektivitätsproblem in der Quantenmechanik, das Teleologieproblem in der Biologie oder das Erklären-Verstehen-Problem in den Geisteswissenschaften handeln. Genau hier vermag dann die Wissenschaftstheorie den Einzelwissenschaften wertvolle Entscheidungshilfen in die Hand zu geben. Einerseits also lernt die Wissenschaftstheorie aus den faktischen Wissenschaften und wird durch sie korrigiert; andererseits kann sie nach erfolgreicher Rekonstruktionsarbeit die Wissenschaften bei der Lösung ihrer Probleme anleiten.
Abb. 2.1–1: Die Methode der rationalen Rekonstruktion
Selbstanwendung der Wissenschaftstheorie
Allerdings muss die Zielsetzung der rationalen Rekonstruktion, deskriptive Wissenschaftsanalyse und normative Wissenschaftsrechtfertigung zusammenzubringen, nicht immer aufgehen. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn Wissenschaftstheoretiker von unrealistisch hohen oder einseitigen normativen Standards ausgehen, wodurch es ihnen in der Folge hartnäckig nicht gelingen wird, ihr normatives Korrektiv mit der deskriptiven Wissenschaftsanalyse zusammenzubringen. In solchen Fällen muss die Wissenschaftstheorie dazu übergehen, ihr eigenes normatives Korrektiv abzuändern. Wenn sie das tut – und derartiges ist schon mehrmals in der Geschichte der Wissenschaftstheorie geschehen – so befindet sich die Wissenschaftstheorie, wie man in Anlehnung an die Terminologie Kuhns sagen kann, nicht mehr in einer normalwissenschaftlichen, sondern in einer revolutionären Phase. Man kann also auch die Geschichte der Wissenschaftstheorie in Analogie zur Phasenlehre, die Kuhn für die Geschichte der Naturwissenschaften entworfen hat, in zwei Phasen einteilen: in normalwissenschaftliche Phasen, in welchen das normative Korrektiv unbehelligt vorausgesetzt wird, und in revolutionäre Phasen, in welchen dieses normative Korrektiv hinterfragt und modifiziert wird.
Carnaps Verfahren der Explikation
Abschließend sei dieses Modell rationaler Rekonstruktion mit zwei ähnlichen Charakterisierungen der wissenschaftstheoretischen Methode verglichen. Carnap (1950b, §2) hatte das Verfahren der Wissenschaftstheorie als Explikation beschrieben. Dabei wird ein vages Konzept der Alltags- oder Wissenschaftssprache wie z.B. der Begriff der Wahrscheinlichkeit (das Explikandum) durch einen exakt definierten Begriff (das Explikatum) ersetzt, wobei das Explikatum vom Explikandum in Hinsicht auf Vagheits- und Ambiguitätselimination abweichen muss, aber dennoch mit ihm möglich gut übereinstimmen soll, und zugleich möglichst fruchtbar und einfach sein soll. Es bleibt bei Carnap aber ungeklärt, wie die genaue Kombination dieser sich teilweise widersprechenden Forderungen aussehen soll. Verglichen dazu enthält unser Modell der rationalen Rekonstruktion deutlichere normative und deskriptive Vorgaben, wobei der Möglichkeit von Inkohärenzen zwischen den beiden durch die Unterscheidung zwischen normalwissenschaftlichen und revolutionären Phasen der Wissenschaftstheorie Rechnung getragen wird. Eine Ähnlichkeit besteht auch zwischen rationaler Rekonstruktion und der Methode des reflexiven Überlegungsgleichgewichtes nach Goodman (1955/75, 85–89) und Rawls (1979, 38, 68–71).
Goodmans Überlegungsgleichgewicht
Während letztere Methode jedoch rein kohärenztheoretisch funktioniert, insofern es um die wechselseitige Anpassung von methodologischen Regeln und Intuitionen geht, ist die Methode der rationalen Rekonstruktion nach der Seite ihres deskriptiven Korrektivs hin empirisch fundiert; und auch das normative Korrektiv besteht nicht aus bloßen Intuitionen, sondern aus erkenntnistheoretischen Hypothesen im Zusammenhang mit einer normativen Zielvorgabe.