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5. Kapitel Das Grenzland
ОглавлениеGeweckt vom Gekrächze eines Pfaus, stand ich sehr früh auf, packte sorgfältig meine Sachen und ging in den Frühstücksraum. Die Tische waren spärlich besetzt, auch Heather fehlte noch. Also nahm ich an einem der leeren Tische Platz und versorgte mich am Buffet mit einem üppigen englischen Frühstück. Allmählich füllte sich der Raum, und der beredten Stille folgte ein allgemeines Geschnatter. Dann endlich erschien auch Heather, und ehe sie sich am Buffet bediente, kam sie an meinen Tisch, wünschte mir einen guten Morgen und legte ihren Zimmerschlüssel auf den Sessel.
Die Gespräche im Frühstücksraum changierten zwischen dem gestrigen Lagerfeuer, dem Unwetter vor wenigen Tagen und der baldigen Abreise. Nach und nach verließen die Freunde und Bekannten der letzten zwei Wochen wieder den Raum, nachdem sie sich zuvor Hände schüttelnd oder einander umarmend verabschiedet hatten. Auch für mich war es Zeit geworden, einigen Lebe wohl! zu sagen und zu gehen. Während Heather noch sitzen blieb und zu Ende aß, parkte ich mein Wohnmobil etwas abseits unter einer riesigen Ulme und informierte die Verwaltung des Schlosses, dass ich nach etwa zehn Tagen wieder zurück sein werde. Danach holte ich meine Sachen aus dem Zimmer und ging zum Parkplatz, wo Heather bereits vor ihrem Auto auf mich wartete. Nicht überraschend, öffnete ich die falsche Tür zum Beifahrersitz. Während Heather über meinen Irrtum schmunzelte, schüttelte ich ein wenig seufzend den Kopf. Dann endlich befand sich alles am richtigen Platz, und wir fuhren Richtung Norden.
Die Reise führte uns zunächst auf kleinen Straßen durch ein Spalier aus Bäumen und gelegentlich durch kleine Auwälder. In der Nähe des Schlosses waren an einigen Stellen die Kronen der Bäume über die Straße gewachsen, sodass wir durch einen grünen Tunnel hindurchfuhren. Oben an der Tunneldecke strahlte ein schmaler, blauer oder blaugrauer Streifen Licht. Den Besitz von Castle Howard verließen wir durch eine Schatten spendende Allee mit dutzenden Silberpappeln.
„Vom Auto aus scheinen sie den Himmel zu kämmen“, meinte Heather.
Da gerade ein heftiger Wind wehte, zeigten die Blätter ihre silbrige Unterseite, und die Allee verfärbte sich von einem satten Grün in ein flirrendes Silber. Je weiter wir uns vom Schlosspark entfernten, desto offener wurde das Land. Sobald die Straße über einen kleinen Hügel führte, wurden wir Zeugen dessen, wofür England auch so berühmt ist: die durch Hecken begrenzten, schachbrettartig angelegten Felder und Viehweiden. Wenn in ihnen jeweils andere Pflanzen wuchsen, glaubte man, auf ein riesiges Mosaik oder gar auf eine grandiose Einlegearbeit zu schauen. Einmal sahen wir ein Feld, auf dem ausschließlich blaue Pflanzen gediehen, wahrscheinlich eine besondere Kleeart, oder aber ein blauer, spät blühender Raps.
Je näher wir der schottischen Grenze kamen, umso seltener wurden die Wälder, bis sie schließlich fast gänzlich verschwanden. Noch deutlicher war an den Hecken zu erkennen, dass wir nach Norden unterwegs waren. Denn während im Süden der Insel praktisch alle Hecken aus Büschen – oft Hainbuchen – bestanden, vollzog sich seit geraumer Zeit der Übergang von der Buschhecke zur Steinmauer.
Steinwälle haben gegenüber Pflanzenhecken den Vorteil, dass sie den Feldfrüchten einen besseren Windschutz bieten. Außerdem wurde durch den Bau der kleinen Steinmauern der karge Boden teilweise von Steinen befreit und erlaubte somit eher den Einsatz von Maschinen. Auf den Mauern lagen oft besonders spitze Steine, manchmal waren sogar Ton- oder Glasscherben einbetoniert. Offensichtlich sollte auf diese Weise eine unüberwindliche Barriere für andere Lebewesen geschaffen werden.
Rechts und links von der Straße waren gelegentlich, oft bis zum Horizont reichend, fast ebene, maschinengerecht aufbereitete Felder zu sehen. Einige Golfplätze mit ihren mit Sand gefüllten bunkers unterbrachen die Felder- und Weidelandschaft. Zuweilen führte die Straße jedoch an steilen Hügeln vorbei, die keine landwirtschaftliche Nutzung erlaubten. Am Fuße dieser Hügel wuchsen oft gelb blühende Ginsterbüsche oder ganze Rhododendrenhaine, die zuweilen den gesamten Hügel zu umgürten schienen. Rhododendren blühten umso häufiger, je weiter wir nach Norden kamen. Also auch daran – und nicht nur an den Steinwällen – war der gleitende Übergang von Süd nach Nord, vom Norden Englands in den Süden Schottlands deutlich zu erkennen.
Auf manchen Hügelspitzen waren Antennenanlagen errichtet, die wohl militärischen Zwecken dienten, möglicherweise der U-Boot-Überwachung. Unterhalb dieser riesigen Spinnennetze aus Stahl gediehen oft mächtige, weithin sichtbare Solitärbäume als natürliche Wegmarken. Die Hänge landwirtschaftlich nicht genutzter Hügel sind das bevorzugte Zuhause von Dachsen, den märchenhaften Meistern Grimmbart.
Auf unserer Reise nach Norden kamen wir an vielen alten Pubs vorbei, deren Außenfront oft zur Gänze mit Efeu bewachsen war. Zumindest an Wochenenden sind sie der allgemeine Treffpunkt für Menschen der Umgebung, auch für Familien mit ihren Kindern, wie die vielen, an die Pubs angrenzenden Kinderspielplätze vermuten lassen. Einmal waren neben dem Pub sogar Hagelnetze gespannt, die im Sonnenlicht silbrig glänzten und weithin sichtbar waren. Vermutlich experimentierte hier ein englischer Exzentriker mit kälteresistenteren Weinreben.
Heather schien das Autofahren sehr zu genießen. Sie fuhr überaus konzentriert und eher langsam. Neue Reiseeindrücke – etwa eine Waschbärenfamilie, die die Straße überquerte – quittierte sie mit Begeisterung. Wie gewohnt, sprachen wir, wenn wir uns mit anderem beschäftigten, fast nichts, oder wenn, dann nur über Dinge, die wir unmittelbar wahrnahmen oder empfanden. Da aber auch die vergangenen zwei Wochen in meinem Kopf umherspukten, fragte ich Heather dann doch, wie ihr das Seminar in Castle Howard gefallen habe. Sie schien ein wenig erstaunt und erlebte diese Frage zu diesem Zeitpunkt wohl als ziemlich unpassend. Dennoch überlegte sie eine Zeitlang und war offenbar in ein Gespräch mit einem unsichtbaren Partner verwickelt, was ich aus dem häufigen leichten Schütteln ihres Kopfes schloss. Schließlich meinte sie, dass der Aufenthalt in einem englischen Park für sie eine Erholung gewesen sei, da weit weg vom üblichen ökonomischen Zwang nach Begradigung, und dass dies für sie auch eine Reise in die Vergangenheit gewesen sei. Denn früher einmal, so meinte sie, als Menschen noch nicht in umfassender Weise begonnen hatten, das Land nach eigenen Interessen zu gestalten und urbar zu machen, war die Gegend hier voller Moore und, wegen des Wildverbisses, parkähnlich gewesen.
„Aber ein englischer Park ist doch nicht einfach natürlich, sondern – im besten Fall – ein Kunstprodukt des Menschen!?“
„Gewiss. Aber ich sagte auch nur parkähnlich.“
Angesichts ihrer ziemlich kryptischen Bemerkungen wollte ich nachfragen, was sie denn unter ›Erholung vom Zwang nach Begradigung‹ verstehe. Aber noch ehe ich die Frage formulieren konnte, bat sie mich, unser Gespräch auf später zu verschieben, möchte sie sich doch ganz auf das Autofahren und das Genießen der Landschaft konzentrieren.
Somit schwiegen wir wieder und nahmen die Reiseeindrücke ohne weitere Kommentare in uns auf. Je länger wir unterwegs waren, umso deutlicher wurde mir bewusst, wie ungelegen meine letzte Frage doch eigentlich gewesen sei. Also entschuldigte ich mich dafür.
„Aber das macht doch nichts. Sollen wir in Berwick, der nördlichsten Stadt Englands, eine Rast machen?“
Natürlich war ich damit einverstanden. Allein dieser kurze Wortwechsel zur rechten Zeit löste jene Verstimmung in mir und verhinderte, dass ich in eine leichte Melancholie schlitterte, die mich noch wortkarger gemacht hätte.
Heather benützte nun breitere Straßen. Dies zeigte sich nicht nur am größeren Verkehrsaufkommen, sondern auch daran, dass unter den Hochspannungsleitungen, sobald sie die Straße überquerten, Netze gespannt waren, um zu verhindern, dass gerissene Leitungen direkt auf die Straße fallen konnten. Nach etwa einer halben Stunde hatten wir den Tweed, den berühmten Grenzfluss zwischen England und Schottland erreicht.
Berwick-upon-Tweed war einmal Schottlands wichtigste Handelsstadt gewesen, mit einem starken flämischen Bevölkerungsanteil. Zwischen Engländern und Schotten wechselte die Stadt mehr als ein Dutzend Mal ihre Besitzer, und Berwick könnte überhaupt die am heftigsten umkämpfte Stadt Europas sein. Gegenwärtig gehört sie zu England, aber Berwickshire, die Grafschaft, ist weiterhin ein Teil Schottlands.
In zahlreichen Kämpfen zwischen den beiden Völkern wurden die Stadt und die wenigen Dörfer im schottischen Grenzland immer wieder geplündert und niedergebrannt. Diesseits und jenseits der Grenze war das Land oft Jahrzehnte lang eine menschenleere Wildnis, eine Gegend voller Sümpfe und Moore, die praktisch nur von Schmugglern und Viehdieben durchquert wurde. Schottisches Grenzland ist Ruinenland (die Abteien von Dryburgh, Jedburgh, Melrose, Kelso) – nicht überraschend also, dass auch Berwick von einer mächtigen Wehranlage umgeben ist.
Im Süden der Stadt, in der heute etwa 12.000 Menschen leben, mündet der Tweed in das Meer. Eine lange Kaimauer führt gleich neben der Mündung des Flusses zu einem Leuchtturm. Heather parkte ihr Auto nahe am Kai, und wir schlenderten diesen entlang zum Leuchtturm, vorbei an einigen Ruderbooten, die im Rhythmus der Brandung vor sich hin schaukelten. Die flimmernden Lichtreflexe im Wasser warfen auf den Rumpf der Schiffe die sonderbarsten Muster. Zuweilen ähnelten diese der Haut eines Krokodils, dann wieder glaubte man, in ein offenes Feuer zu blicken. Fasziniert starrte ich auf diese Lichtspiele wie bei einem Popkonzert und genoss die frische, salzige Seeluft, da ich tiefer zu atmen vermochte als üblich.
Knapp über uns flogen unzählige Möwen mit ihren großen gelben Schnäbeln. Ihre miauenden Rufe und ihr gellendes Pfeifen, das mit einem tiefen Ton begann und dann in einem ein oder zwei Oktaven höheren Gelächter endete, empfand ich als ziemlich unheimlich und, da für mich sehr ungewohnt, zunächst auch als einigermaßen nervtötend. Draußen vor der Küste kreuzte ein größeres Fischerboot, das von hunderten kreischenden Möwen begleitet wurde, die nach den Innereien der ausgenommen Fische suchten und das Schiff beinahe verhüllten.
Je weiter wir uns dem Leuchtturm näherten, umso stürmischer wurde der Wind. Am Beginn des Kais war die Luft noch angenehm lau, aber bald erfasste uns eine kalte Böe aus dem Norden. Während ich mich an den chaotischen Luftbewegungen eher erfreute, hatte Heather mit dem böigen Wind ihre liebe Not. Denn als Rückenwind wehte er den Saum ihres langen Kleides immer wieder nach vorne zwischen ihre Beine. An diese Möglichkeit hatte sie offenbar nicht gedacht, wie ein leiser Schrei vermuten ließ. Nach einer kurzen Schrecksekunde versuchte sie, das Kleid nach unten zu drücken und ihren Rücken aus der Windrichtung zu drehen. Aber auch das half gegenüber einem Wind, der ohne Vorwarnung von überallher zu wehen pflegte, nicht wirklich. Also gab sie ihre Bemühungen auf, lächelte nur und ließ den Wind gewähren, der ihr Kleid einmal an den Körper presste, dann wieder wie einen Regenschirm aufspannte.
Am Fuße des Leuchtturms stand eine kleine, relativ windgeschützte Bank, auf die wir uns setzten und lange Zeit auf das Meer schauten. Da gerade die Flutwellen hereinströmten, unterlag das fast schwarze Wasser des Tweed immer deutlicher dem graublauen der Nordsee. Eine halbe Stunde zuvor war das torfreiche Wasser des Flusses noch weit draußen ins Meer geströmt. Aber jetzt bei Flut staute das Meer den Tweed schon auf Höhe der Kaimauer. Damit veränderte sich auch die Gestalt der Wellen. Einige Meter flussaufwärts waren viele kleine, ziemlich ungeordnete Wellen zu sehen, die dadurch entstanden waren, dass das Wasser des ruhig dahin fließenden Tweed auf das Meerwasser traf. Aber schon wenige Meter flussabwärts wurden die Wellen mächtiger und erreichten eine Höhe von vielleicht 40 Zentimetern auf einer Fläche von der Größe eines halben Fußballfeldes. Noch weiter draußen im Meer wurden die Wellen wieder kleiner. Offenbar hatte dort das Meer den Fluss endgültig gezähmt. Ich stellte mir zwei uralte menschenähnliche Roboter vor, die ständig aufeinander eintrommelten und Funken sprühten, wobei – bei Ebbe – die Faust des Flusses kräftiger ist, und dann – bei Flut – die des Meeres.
Lange hatten wir diesem elementaren Kampf zugesehen und dabei fast nicht bemerkt, dass ein schwarzhäutiger Fischer neben uns seine Angel mit besonderer Eleganz ausgeworfen hatte. Schon nach wenigen Versuchen hatte er Erfolg und legte den Fisch, wohl einen großen Kabeljau, auf den Betonboden. Nach einigen Schrecksekunden begann das Tier, sich hin und her zu winden, dann spannte es seine Muskeln an und sprang immer wieder einige Zentimeter, geformt wie ein Hufeisen, vom Boden hoch. Da der Haken noch in einem der Mundwinkeln steckte, blutete der Fisch aus dem Maul. Seine verzweifelten Sprünge wurden immer seltener, und schließlich gelang ihm der Satz vom Boden nicht mehr, sondern er rutschte nur noch nach vorne und zurück. Ich wollte den endgültigen Todeskampf des Tieres nicht sehen und ging den Kai langsam wieder zurück. Heather hatte schon seit längerem mein Unbehagen bemerkt, und sie schlang ihre Arme um meinen linken Oberarm. Aber ich vermochte ihre Berührung kaum wahrzunehmen.
Nur wenige Worte wechselnd, wanderten wir durch die Straßen der Stadt. An einer Ecke stand einsam ein Angehöriger der Heilsarmee, der, ohne sich aufzudrängen, alle paar Sekunden eine Blechbüchse schüttelte. Passanten eilten schnellen Schritts an ihm vorbei, ein paar starrten leicht gebückt zum Boden, andere fixierten das Ende der Straße. Nahe der steinernen, gekurvten Eisenbahnbrücke erreichten wir wieder den Tweed und sahen erneut Fischer. Einige standen mitten im Fluss und warfen mit Hilfe ihrer Fliegenrute einen Kunstköder aus, andere fingen Fische mittels eines Netzes, das sie zunächst mit einem Boot in die Flussmitte zogen. Sobald sie diese erreicht hatten, ruderten sie etwa zwanzig Meter flussaufwärts und dann wieder zurück ans Ufer. Dort zogen sie gemeinsam das Netz ein und befreiten die gefangenen Lachse von den Maschen. Aber anstatt sie wieder ins Wasser zu werfen, wie der hl. Franz von Assisi es angeblich getan hatte, wurden die wunderschönen Lebewesen auf einen großen Tisch gelegt und von einem der Schleppnetzfischer mit einer langen Holzkeule erschlagen, während dutzende Fischaugen ihn anstarrten und um Mitleid flehten.
Einige Lachse waren gewiss einen Meter lang und besaßen riesige Laichhaken. Halb fasziniert, halb angewidert machte ich Heather den Vorschlag, doch weiter flussaufwärts in den Auwald zu gehen. Aber sie hatte dem Tweed schon seit einiger Zeit den Rücken gekehrt und den Weiden zugesehen, wie sie im Wind hin und her wogten, elegant wie riesige Schildkröten, die – langsam in der Strömung treibend – am Meeresgrund grasen.