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Frühe Verluste: Kindheit, Jugend und zerstörte Pläne (1894–1916) Haut
ОглавлениеDer vielleicht fünfjährige Aldous war gerade einmal nicht damit beschäftigt, gekonnte Zeichnungen seiner Umwelt anzufertigen, wie er es sonst endlos tat, sondern saß am Fenster und schaute versonnen hinaus. Als seine Patentante vorbeikam, fragte sie ihn: »Na, woran denkst du denn?« Der Knirps drehte sich um, schenkte ihr kurz seine Aufmerksamkeit, ließ ungerührt und einsilbig das Wort »Haut« vernehmen und schaute wieder zum Fenster hinaus.
Diese kleine Episode ist doppelt bezeichnend für die Kindheits- und Jugendphase von Aldous Huxley, der einmal einer der rebellischsten und aufregendsten Schriftsteller, vollendetsten Feingeister, einflussreichsten Denker und meistgeschätzten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts und der vielleicht letzte echte Universalgebildete der Neuzeit werden sollte. Einerseits zeigt sie den kleinen Aldous, wie er von seinem Umfeld schon früh wahrgenommen wurde: Er war anders als die anderen. Mit zwölf Jahren erkannte sein sieben Jahre älterer Bruder Julian
»intuitiv, dass Aldous eine angeborene Überlegenheit besaß und sich auf einer anderen Ebene des Seins bewegte als wir anderen Kinder. […] Als Kind verbrachte der seine Zeit zu einem guten Teil damit, einfach still dazusitzen und die Seltsamkeit aller Dinge zu beobachten. […] Von dieser Beschäftigung mit dem Seltsamen und Bizarren, dem Unwahrscheinlichen und Außerordentlichen ließ er sein ganzes Leben nicht ab.« (Gedächtnis, S. 21)
Das Seltsame und Bizarre, das Groteske beschäftigten ihn gewiss; aber auch das Naheliegende, augenscheinlich Unscheinbare, das allzu Selbstverständliche – wie eben »Haut« – war für ihn von Bedeutung. Von Anbeginn war sein Blick zugleich der des Forschers und des Ästheten. Aber nicht nur als Objekt seiner Betrachtung, sondern auch als Organ seiner subjektiven Empfänglichkeit ist »Haut« ein guter Begriff für seine frühe Zeit. Denn Aldous war nicht nur ein äußerst sinnliches und empfängliches Kind; leider waren ihm auch schon in jungen Jahren Ereignisse beschert, die tief unter die Haut gingen.
Der kleine Aldous träumte nicht davon, Schriftsteller zu werden. »Er zeichnete andauernd«, erinnerte sich sein gleichaltriger Cousin Gervas Huxley, »völlig vertieft – für mich war es Magie, ein kleiner Junge meines Alters, der so schön zeichnete« (zit. in Bedford, S. 3). Maler wollte Aldous werden; noch bis weit in die Jugendzeit hegte er diesen Wunschtraum. Gezeichnet und gemalt hat er immer, doch kaum etwas davon ist erhalten geblieben. Allerdings tauchte Ende 2015 in einem Londoner Antiquariat eine kindlich-düstere Vision des Zweiten Burenkriegs auf, die Aldous im Jahr 1900 im Alter von nur sechs Jahren für die Töchter des im Krieg engagierten Generals Lyttelton gezeichnet und in krakeligen Großbuchstaben am oberen Rand signiert hatte. Das prall gefüllte sechzigseitige Marburger Skizzenbuch aus seinem 17. Lebensjahr ist ebenfalls erhalten geblieben. Doch von den zahllosen Gouachen, die er in den 1930er-Jahren im Süden Frankreichs angefertigt hat, sind bislang nur eine Handvoll wieder ans Tageslicht gekommen.
Maler wollte er also werden – oder Mediziner. Sein Lebtag hat sich Aldous Huxley mit Medizinern, Psychologen, Therapeuten, Physiologen aller Art umgeben, mit lebhaftem Interesse die Forschung verfolgt und sich an einigen Experimenten beteiligt. Der Hang zu Biologie und Medizin lag deutlich in der Familie. Später sollte Huxley schreiben, dass er lieber Faraday als Shakespeare geworden wäre. Sein Großvater väterlicherseits war der eminente Biologe (und Humanist und Pädagoge) Thomas Henry Huxley, einer der ersten und der wahrscheinlich wortgewandteste, jedenfalls aber kampflustigste Evolutionstheoretiker der ersten Stunde, was ihm den Beinamen »Darwins Bulldogge« eintrug. Aldous’ älterer Bruder Julian sollte einer der bekanntesten Biologen seiner Zeit werden, Mitbegründer von UNESCO und WWF; der zwanzig Jahre jüngere Halbbruder Andrew erhielt 1963 den Nobelpreis für Medizin.
Der junge Aldous auf den Schultern seines Vaters, Leonard Huxley
Doch bereits bevor der kleine Aldous sich überhaupt Gedanken über seinen Werdegang machen konnte, war ihm bereits ein quasi dynastisches Erbe mit in die Wiege gelegt worden. In ihm und seinen Geschwistern kamen das Ansehen und die Ansprüche zweier hoch geschätzter Familien der intellektuellen Elite Englands zusammen – ein Segen und eine große Herausforderung zugleich. Beide Familien entstammten der oberen Mittelschicht und hatten sich in der viktorianischen Zeit in besonderem Maße um Aufklärung und Bildung, die Suche nach Wahrheit und Wissen sowie die Idee des kulturellen Fortschritts verdient gemacht. Leonard Huxley, Aldous’ Vater, war ein Sohn des bereits erwähnten berühmten Biologen (und späteren Mitglieds zahlreicher akademischer Institutionen wie auch der Londoner Schulbehörde) Thomas Henry Huxley. Neben seinem Einsatz für die Evolutionslehre von Darwin und Wallace war der glänzende Stilist mitverantwortlich dafür, dass im Laufe des 19. Jahrhunderts der Wahrheitsbegriff auf immer breiterer Basis mit wissenschaftlicher Erkenntnis gleichgesetzt wurde, die auf empirischer Messung und Überprüfung beruht. Durch die Anwendung der naturwissenschaftlichen Methode und die Durchsetzung wissenschaftlichen Denkens, so der optimistische Tenor, könnte die Welt zunehmend entschlüsselt, erforscht, verstanden und dem Menschen gefügig gemacht werden. In diesem Sinne sorgte Thomas Henry Huxley auch dafür, dass die Naturwissenschaften im Schulcurriculum eine stärkere Verankerung fanden. Für seine religiöse Haltung prägte er den Begriff des Agnostizismus. Zwar betonte er, dass es sich dabei nicht um eine atheistische Auffassung handelte, sondern um eine skeptische Grundhaltung gegenüber metaphysischen Annahmen; dennoch wurde er von dogmatischen Kreisen als ungläubig angefeindet.
Thomas Henry Huxley (1825–1895), Aldous’ Großvater väterlicherseits
Aldous Huxleys Mutter, Julia Frances Arnold, war eine Enkelin des Theologen und Pädagogen Thomas Arnold, dessen Name heute vor allem mit seinem Ideal des »christlichen Gentleman« und der vorbildlichen Leitung einer Schule in Rugby, die als modellhaft für das englische Erziehungswesen gilt, verbunden ist. Julias Vater, Thomas Arnold d. J., war als Schulinspektor und Literaturwissenschaftler tätig und erlangte aufgrund seiner wiederholten Religionswechsel zwischen Anglikanismus und Katholizismus notorische Berühmtheit. Als erheblich einflussreicher erwies sich sein älterer Bruder Matthew Arnold, ein viktorianischer Dichter und Kulturkritiker, der die fortschreitende Humanisierung, Kultivierung und Moralisierung der Gesellschaft, nicht zuletzt der als bedrückend habgierig und philisterhaft empfundenen Mittelschicht, erstrebte. Matthew hielt dem Absolutheitsanspruch der Naturwissenschaften die Wahrheit moralischen Denkens und kultivierten Handelns entgegen und erklärte die hohe Dichtung – für ihn die vollendete »Kritik des Lebens« – zum maßgeblichen Aufklärungsinstrument. Religion bezeichnete er als »Moral durchdrungen von Gefühl« und stellte sich damit ausdrücklich gegen die Kirchendogmen. Gutes Handeln zeichne einen religiösen Charakter aus.
Diese Haltung spiegelt sich auch in dem populären, aber umstrittenen Roman Robert Elsmere (1888) seiner Nichte, Julia Huxleys Schwester Mary Augusta Ward, wider, die ihn unter dem Pseudonym Mrs. Humphry Ward veröffentlichte. Die Figur des Robert Elsmere, eines christlich-orthodoxen Geistlichen, zweifelt im Zuge der Rationalisierung der Welt zunehmend an den überlieferten Doktrinen und Dogmen der anglikanischen Kirche, wird aber in der Folge nicht zum Atheisten, sondern zum praktischen Helfer der Armen, Unterprivilegierten und Ungebildeten.
Enorm war also die intellektuelle Verpflichtung, die Aldous Huxley durch seine Herkunft ganz selbstverständlich übertragen wurde. Vorbilder in Bezug auf den beiden Familienlinien innewohnenden Anspruch, Bildung und Wissen zu verbreiten, fand er zweifellos auch in seinen Eltern. Sowohl sein Vater als auch seine Mutter, die beide an der renommierten Universität von Oxford studiert hatten, waren als Pädagogen tätig, sein Vater später auch als Autor und Herausgeber. Aldous’ komplexe Familiengeschichte sorgte zudem dafür, dass ihm einander widerstreitende weltanschauliche Ansätze gleichsam als Vermächtnis zur weiteren Auseinandersetzung in die Wiege gelegt wurden: Die Gegensätze von Wissenschaft und Dichtung, von Wissenschaft und Religion, Denken und Fühlen, Materie und Geist, wertfreier Forschung und wertbehaftetem Leben sollten in seinen philosophischen Überlegungen besondere Berücksichtigung finden.
Aldous Leonard Huxley wurde am 26. Juli 1894 auf dem Landsitz Laleham bei Godalming im südenglischen Surrey geboren. Dort lebte die Familie zunächst von dem eher mäßigen Lehrereinkommen des Vaters. Aldous hatte zwei ältere Brüder, Julian (geb. 1887) und Noel Trevenen, kurz Trev (geb. 1889); die jüngere Schwester Margaret wurde 1899 geboren. Aus einer späteren Ehe seines Vaters mit Rosalind Bruce gingen außerdem seine Halbbrüder David Bruce Huxley (geb. 1915) und Andrew Fielding Huxley (geb. 1917) hervor.
Die überlieferten Äußerungen zu Aldous’ früher Kindheit deuten auf ein glückliches und harmonisches Familienleben hin, in dem offenbar viel gespielt, gescherzt und gelacht wurde. Aldous liebte Sprachspiele, seit er sprechen konnte. Dem Vorlesen, Lesen und Rezitieren von Büchern wurde in seiner Erziehung hohe Bedeutung beigemessen. Natürlich spielten schon früh das Einüben klarer Verhaltensregeln, die allmähliche Entwicklung eines ausgeprägten Klassenbewusstseins und die Vermittlung der daraus resultierenden Verantwortung eine maßgebliche Rolle. Hier machte sich insbesondere der Einfluss der fürsorglichen und leidenschaftlich verehrten, aber außerordentlich diszipliniert auftretenden Mutter geltend, während sich der Vater gerne auf eine Ebene mit seinen Kindern begab und dementsprechend weniger respektvoll angesehen wurde. Unterstützt wurde die Erziehung durch die junge Gouvernante Ella Salkowski, die aus Königsberg stammte und auf Aldous einen derart prägenden Eindruck machte, dass er sie Jahre später auch als Erzieherin für seinen eigenen Sohn engagieren würde.
Aldous’ Familie mütterlicherseits, ca. 1898. In der mittleren Reihe: Kindermädchen Ella Salkowski (1. v. l.), Aldous’ Mutter Julia (2. v. l.), Aldous’ Tante, die bekannte Schriftstellerin Mrs. Humphry Ward (3. v. l.), Aldous’ Großvater Thomas Arnold, Bruder des einflussreichen Dichters und Kulturkritikers Matthew Arnold (re.). Vorne (v. l. n. r.): Aldous, Trevenen und Julian
Mit seinen Brüdern verband ihn eine innige Nähe, obwohl sie ihn wegen seines in den ersten zwei Lebensjahren überdimensional großen Kopfes scherzhaft »Ogie« (»Monsterchen«) nannten. Sie setzten Aldous den Hut des Vaters auf – und er passte, wie Trev bemerkte. Aldous liebte es auch, sich in der herrlichen Natur seiner ländlichen Umgebung aufzuhalten, wo er wilde Blumen pflückte und bestimmte, Schmetterlinge und Käfer sammelte, Vögel beobachtete, spazieren ging und später Fahrrad fuhr.
1899 begann Aldous’ Schulausbildung in St. Bruno’s, einer nahe gelegenen Vorbereitungsschule für kleine Kinder. Zwei Jahre später verließen die Huxleys Laleham und zogen in das drei Kilometer entfernte Landhaus »Prior’s Field«. Dort gründete Julia Huxley Anfang 1902 eine private Mädchenschule, die schnell an Beliebtheit gewann und sich rasch vergrößerte. Im Gründungsjahr nahm auch Aldous am Unterricht teil. Die Vermittlung von Literatur und Kunst stand gemäß Julias Vorlieben und Stärken im Vordergrund. Dabei wurde ihr Sohn sanft, aber nachdrücklich mit dem Familienmotto vertraut gemacht, an das sich schon seine älteren Brüder hatten gewöhnen müssen: »Huxleys schneiden immer mit Auszeichnung ab« (zit. in Bedford, S. 20).
Von 1903 bis 1908 besuchte Aldous schließlich als Internatsschüler die Hillside-Schule bei Godalming. Bald verband ihn eine enge Freundschaft mit seinem ebenfalls dort neu eingeschulten Cousin Gervas Huxley. In seinen Erinnerungen beschreibt Gervas Hillside als eine eher wenig einladende Schule mit zwar guten Lehrern, aber schlechtem Essen und viel Schikane seitens der Mitschüler. Sein Cousin Aldous, ein hochgewachsener, aber zarter und krankheitsanfälliger Junge, der häufig nicht am Unterricht teilnehmen konnte, ließ sich von all den negativen Umständen wenig beeindrucken und verschaffte sich auf die ihm eigentümliche Weise Respekt und Bewunderung. Gervas merkte, dass
»Aldous den Schlüssel zu einer unangreifbaren inneren Festung besaß, in die er sich aus den Nöten und Leiden eines Schuljungendaseins zurückziehen konnte. Er vermochte alle diese in die richtige Perspektive zu rücken. Ich kann mich nicht erinnern, dass er wie die meisten von uns je die Selbstbeherrschung verlor oder heftigen Gemütsbewegungen nachgab. Es war unmöglich, mit ihm zu streiten.« (Gedächtnis, S. 31)
Jegliche Anfeindungen lösten sich in Luft auf, wenn sie auf Aldous’ Integrität und Uneigennützigkeit trafen. Wann immer Gervas oder der gemeinsame Freund Lewis Gielgud (der ältere Bruder des späteren Theater- und Filmstars John Gielgud) seines Beistandes bedurften, war er an ihrer Seite. Gervas schildert ihn als ausgesprochen umgänglichen Gefährten, der zu jedem Unsinn bereit war, allerdings immer in ganz besonders intelligenter Manier.
Die vier Kinder von Leonard und Julia Huxley, ca. 1903. V. v. n. h.: Margaret, Aldous, Trevenen und Julian
Als Schüler zeigte sich Aldous engagiert und strebsam, konnte aber die in ihn gesetzten hohen Erwartungen nicht vollständig erfüllen, was bei seinen Eltern durchaus für Unmut sorgte. Allerdings glänzte er 1907 in einer Schulaufführung von Shakespeares Kaufmann von Venedig, in der er als Antonio das Publikum zu Tränen rührte. Im selben Jahr produzierte er auf Veranlassung seines Englischlehrers zusammen mit Gervas und Lewis zwei Ausgaben einer kleinen Literaturzeitschrift, in der er erste eigene Texte veröffentlichte, darunter ein Gedicht mit dem Titel »Sea Horses«.
Im Juni 1908 beendete Aldous seine Schulzeit in Hillside, um im Herbst zusammen mit Lewis Gielgud an das Eliteinternat Eton College in Berkshire zu wechseln, das schon seine Brüder erfolgreich absolviert hatten. Die Sommerferien verbrachten die Huxleys zum wiederholten Male in den Alpen, allerdings in diesem Jahr ohne die Mutter, die sich seit Juli nicht gut fühlte. Am 12. August schrieb Aldous einen Brief an Gervas, in dem er sich enthusiastisch über das Feriendomizil äußerte, aber auch zum Ausdruck brachte, wie sehr er seine Mutter vermisste: »Es ist jammerschade, dass Mutter noch nicht zu uns stoßen kann, aber ich erwarte, dass sie in etwa 10 Tagen kommt« (zit. in Bedford, S. 17). Julia sollte jedoch ausbleiben.
Im September bezog Aldous sein neues Quartier in Eton, und er freute sich auf die Umgebung und das akademische Leben dort. Er war noch dabei, sich einzugewöhnen, als er Ende November dringend nach Hause gerufen wurde, weil es seiner Mutter erheblich schlechter ging. Da Aldous genauso wie seine jüngere Schwester Margaret im Vorfeld nicht eingeweiht worden war, traf ihn die Nachricht wie ein Schlag: Nur wenige Monate zuvor hatte Julia erfahren, dass sie unheilbar an Krebs erkrankt war. Seitdem hatte sich ihr Zustand in kurzer Zeit dramatisch verschlechtert. Am 29. November, dem Tag ihres Todes im Alter von nur 46 Jahren, sah Aldous seine Mutter zum letzten Mal. Zum ersten Mal brach für ihn eine Welt zusammen. Später verarbeitete er dieses traumatische Erlebnis in seinem zweiten Roman Narrenreigen mit der Figur Theodore Gumbrils:
»Er hatte nicht gewusst, dass sie dem Tode so nahe war, aber als er in ihr Zimmer trat und sie so schwach in ihrem Bett liegen sah, da hatte er plötzlich unbeherrscht zu weinen begonnen. Alle seelische Kraft, selbst die zu lachen, war auf ihrer Seite gewesen. Und sie hatte mit ihm gesprochen. Es waren nur ein paar Worte, aber in ihnen war alle Weisheit enthalten, die er zum Leben brauchte. Sie hatte ihm klargemacht, was er war und was er versuchen sollte zu werden und wie es zu sein. Und noch immer unter Tränen hatte er ihr versprochen, das zu versuchen.« (S. 9)
Der Stellenwert dieses Versprechens kann angesichts der Liebe, die er für seine Mutter empfand, und der Verpflichtungen, welche die Sterbende ihm auferlegte, kaum hoch genug veranschlagt werden.
Julias Tod bedeutete für ihren Sohn den ersten Schritt hin zu einer frühen pessimistischen Einstellung, die er Jahre später in Die graue Eminenz, der Lebensgeschichte des einflussreichen französischen Kapuzinermönchs Père Joseph, auf den Punkt brachte. Der Held des Romans hatte bereits als Zehnjähriger seinen Vater verloren:
»Sein Kummer bei dieser Gelegenheit ging tief; und als der erste Anfall vorbei war, verblieb ihm ein zu gewöhnlichen Zeiten latentes, aber stets an die Oberfläche zu kommen bereites und ihn verfolgendes Gefühl der Eitelkeit, Vergänglichkeit und hoffnungslosen Unsicherheit alles bloß menschlichen Glücks.« (S. 29)
Aldous’ Bruder Julian Huxley äußerte später sogar die Überzeugung, dass der frühe Verlust hauptverantwortlich für den zynischen Ansatz seines Bruders in den frühen Romanen gewesen sei. Fest steht in jedem Fall, dass das Motiv des Muttertods in Huxleys Schaffen zu einem immer wiederkehrenden wurde, so auch in seinen Zukunftsvisionen Schöne neue Welt und Eiland.
Bald nach Julias Beerdigung im nahe gelegenen Compton löste sich das traute Heim in »Prior’s Field« auf. Julian setzte sein Zoologiestudium in Oxford fort, Trev und Margaret lebten einige Zeit bei der Familie Humphry Ward, und der Vater Leonard zog nach London um. Aldous selbst ging zurück nach Eton. Nur die von der Mutter gegründete Mädchenschule blieb unter neuer Führung erhalten.
In der folgenden Zeit fand Aldous Ablenkung von seiner Trauer, indem er sich in Eton in das vorgesehene Lernprogramm stürzte. Er war von der Schule und den Lehrern begeistert. Seine Mitschüler respektierten ihn. Im Sport entwickelte der lange, schlacksige Junge eine Vorliebe für den Hochsprung. Er erhielt Malunterricht. Das Lernen machte ihm Spaß und fiel ihm leicht; den Lektüreberg meisterte er mühelos. Im Rückblick stellt Huxley fest, als geborener Intellektueller, der eine Vorliebe für Ideen und eine Abneigung gegen praktische Aktivitäten besitze, für die akademische Ausbildung wie geschaffen gewesen zu sein.
Auf dem Lehrplan standen Geisteswissenschaften, allen voran klassische Fächer wie Griechisch, Latein und Verskunde, aber auch neuere Fächer wie zum Beispiel moderne Geschichte und Französisch. Englische Literatur gehörte noch nicht dazu, doch Aldous galt als »Ästhet«, der sich gerne mit Autoren wie Walter Pater oder Oscar Wilde beschäftigte. In Eton wurde aber auch großer Wert auf eine solide naturwissenschaftliche Bildung gelegt. Huxley hatte keine Schwierigkeiten, sich zwischen den Disziplinen zu bewegen. Er verspürte immer eine Leidenschaft für das Wissen an sich, ganz gleich, auf welches Gebiet es sich bezog. Jedoch zeichnete sich schon bald eine Spezialisierung auf das geliebte Fach Biologie ab. Aldous träumte davon, eine Karriere in der medizinischen Forschung einzuschlagen und so seinen Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft nachzukommen.