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Oxford

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Das erste Studienjahr in Oxford ab Oktober 1913 muss für Aldous allen Äußerungen nach ein ausgezeichnetes gewesen sein. Englische Sprache und Literatur war ein noch vergleichsweise junger Studiengang, der als eher »weich« galt, vorwiegend weibliche Studierende anzog und nicht in eine konkrete berufliche Laufbahn mündete, sondern breit gefächerte Perspektiven eröffnete. Aldous war der Einzige aus seiner Gruppe von Freunden und Bekannten, der sich für dieses Studium entschieden hatte. Doch auch Gervas hielt sich jetzt als einer von 62 freshmen am Balliol College auf; Unterstützung erhielt Aldous zudem durch seinen Bruder Trev, der nach Beendigung des Studiums weiterhin in Oxford wohnte. Trev hatte im Sommer sein Abschlussexamen nicht mit Auszeichnung bestanden, was für ihn und seine Familie eine riesige Enttäuschung war. Er machte sich große Vorwürfe und glaubte, dem Familiennamen geschadet zu haben. Jetzt bereitete er sich auf die Prüfung für den Eintritt in den Staatsdienst vor, während Aldous ein immenses Leseprogramm zu absolvieren hatte, Vorlesungen besuchte, Essays tippte und an Tutorien teilnahm. Letztere genoss er sehr. Noch viel später betonte er, welch außerordentlich fähiger Lehrer ihm mit seinem Tutor Reginald Tiddy beschieden gewesen sei, einem Experten auf dem Gebiet der klassischen und englischen Literatur. Zum Lesen nutzte Aldous zwei Alternativen. Weil die Hornhaut seines linken Auges genau in der Mitte eine Trübung aufwies, erweiterte er die Pupille mithilfe von Atropin und brachte dann seine starke Lupe zum Einsatz. Sofern aber die Literatur in Brailleschrift vorlag, konnte er seine Augen schonen. Auf diese Weise gelang es ihm im Laufe seines Studiums, sich den umfassenden Kenntnisschatz der englischen Literatur anzueignen, der ihm für sein eigenes Schaffen gleichsam auf Abruf zur Verfügung stand.

Neben den Anforderungen des Studiums blieb ihm selbstverständlich genügend Zeit, das schöne Studentenleben in Oxford zu genießen. Er besuchte Theater- und Musikveranstaltungen, trat der Oxford Union, dem traditionellen Debattierklub, bei und schloss in kurzer Zeit eine Menge neuer Bekanntschaften. Seine Bildung und sein Esprit machten ihn zu einem Favoriten unter den Kommilitonen, wie Gervas hervorhob: »Alle verehrten Aldous – er faszinierte sie. Er machte einen gewaltigen Eindruck und wurde die beliebteste Person unseres Jahres« (zit. in Bedford, S. 43). Ein weiterer freshman, Raymond Mortimer, der später zu einem namhaften Schriftsteller, Kunstkritiker und Herausgeber werden sollte und den in späteren Jahren eine enge Freundschaft mit Huxley verband, bezeichnete ihn als »umwerfend, umwerfend … Diese Belesenheit: Er hatte alles gelesen« (zit. in Bedford, S. 44). Entsprechend stark frequentiert war Aldous’ Studentenzimmer, welches auf die geschäftige Broad Street hinausging, auf der es noch keine Automobile, dafür aber Pferdekutschen zu sehen und zu hören gab. Dieses Zimmer wurde laut Gervas

»zu einem Mittelpunkt, wo sich die Elite unseres Jahrgangs versammelte, angezogen von dem Magneten seines Geistes, seiner allumfassenden Wissbegierde und seiner nie anmaßenden Freundlichkeit. […] Das Zimmer schien immer voller Leute zu sein, die redeten und lachten und über alles Erdenkliche, Seriöses wie Frivoles, diskutierten.« (Gedächtnis, S. 34)

Auf seinem Klavier spielte Aldous den Besuchern den neuesten Jazz vor, und seine Unkonventionalität unterstrich er mit einem großen und grellen französischen Poster, das eine Strandszene mit nackten dunkelhäutigen Mädchen zeigte. Hier spiegelte sich die noch entspannte Vorkriegsatmosphäre wider, die es den Studenten ermöglichte, sich jeglichem Vergnügen hinzugeben, das Oxford zu bieten hatte. Aldous nutzte die Freiheit auch dazu, sich mit seinen Freunden wieder der Schauspielerei zu widmen. Im späten Frühjahr 1914, kurz vor dem Ende seines ersten Studienjahres, wirkte er in Aufführungen von Naomi Haldanes zweitem Stück, Prisoners of War, mit und trat außerdem in ihrer Produktion von Aristophanes’ antikem Schauspiel Die Frösche auf. Mit einem Baumwollbart versehen spielte er den Charon, während Lewis Gielgud als Dionysos zu sehen war. Die Veranstaltungen fanden im Garten von Naomis Elternhaus in herrlichster Umgebung statt. Naomi lobte Aldous’ Auftritte, bemerkte aber besorgt, dass er gerade genug sehen konnte, um allein auf die Bühne und wieder hinunter zu gelangen.

Die permanente Einschränkung belastete den jungen Mann auch in ganz anderer Hinsicht. Wie sein Vater und seine Brüder hielt sich Aldous mit Begeisterung in den Bergen auf. Aber er musste einsehen, dass neben vielen anderen Aktivitäten auch das Klettern für ihn problematisch oder sogar unmöglich geworden war. Diese Tatsache hatte ihn bereits im März 1914 veranlasst, im Climbers’ Club Journal, dem Organ des britischen Bergsteigervereins, einen bissigen und recht pathetischen Artikel mit dem Titel »A Lunndon Mountaineering Essay« zu veröffentlichen. Hier beklagte er nicht etwa die Unmöglichkeit, in London Berge zu erklimmen, sondern beschrieb die banalen Tücken und Gefahren des Treppensteigens in der Großstadt für den »blinden, stubenhockerischen Maulwurf«, als den er sich betrachtete.

Erleichtert wurde diese erste etwas weiterreichende Veröffentlichung dadurch, dass Trev für die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift die Herausgeberschaft übernommen hatte. Trev selbst durchlebte zu dieser Zeit eine massive psychische Krise. Nach der Enttäuschung über sein Abschneiden im Abschlussexamen hatte er sich im November 1913 der Aufnahmeprüfung für den Staatsdienst unterzogen. Zwanzig Plätze waren zu vergeben gewesen – und er hatte als Einundzwanzigster abgeschnitten. Geplagt von Versagensängsten sowie verfolgt von dem Druck, den Familiennamen zu wahren und eine adäquate berufliche Perspektive zu entwickeln, hatte er einen schweren depressiven Schub erlitten. Das war in seiner Familie allerdings kein Einzelfall. Vor ihm hatten bereits sein Großvater Thomas Henry Huxley und sein älterer Bruder Julian wiederholt mit Depressionen zu kämpfen gehabt. Hinzu kam noch, dass Trev, dessen jetzt weit ausgeprägteres Stottern ein deutliches Indiz für seine Verfassung war, seit geraumer Zeit eine heimliche Beziehung zu Nashe, dem jungen Hausmädchen seines Vaters, unterhielt. Diese standesübergreifende Affäre musste selbstverständlich geheim gehalten werden und war aufgrund der sozialen Konventionen der Zeit von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Zögerlich kamen die beiden im Spätfrühling 1914 überein, sich zu trennen, und Nashe reichte bei Leonard Huxley ihre Kündigung ein.

Kurz darauf erlebte der völlig überforderte Trevenen einen Nervenzusammenbruch, der ihn dazu veranlasste, sich auf ärztliches Anraten in die Obhut der Privatklinik »The Hermitage« in Surrey zu begeben, die kurz zuvor schon Julian zweimal aufgesucht hatte. Aus diesem Grund konnte er im August nicht am Familienurlaub in Connel in der schottischen Grafschaft Argyll teilnehmen. Aldous fuhr mit seinem Vater, Rosalind und Julian, der mittlerweile als Biologe am Rice Institut (später Rice Universität) in Houston, Texas, lehrte und gerade Sommerferien hatte. Julian hatte noch vor der Schottlandreise Trev in der Klinik getroffen. Es hieß, sein Bruder sei allmählich auf dem Weg der Besserung.

Doch dann erhielten die Huxleys die beunruhigende Nachricht, dass Trev am 15. August ganz plötzlich aus der Klinik verschwunden sei. Trotz der ärztlichen Auflage, den Patienten nicht aus den Augen zu lassen, hatte man es ihm gestattet, allein zu einem Spaziergang aufzubrechen. Er war nicht zurückgekehrt, und noch am selben Abend war die Polizei eingeschaltet worden. Sein Vater machte sich auf den Weg nach Surrey und konnte bald vermelden, Trev sei in der Umgebung gesehen worden. Am 22. August erwiderte Aldous: »Wir haben gerade dein Telegramm erhalten, welches ausgesprochen aufmunternd ist.« (Letters, S. 61) Aber alle Hoffnung sollte zunichte gemacht werden, denn einen Tag später wurde Trevs Leichnam in einem Waldstück gefunden. Er hatte sich erhängt. In seiner Jackentasche fand man einen Brief von Nashe, in dem sie ihm ihre Verzweiflung angesichts der unlösbaren Situation schilderte. Trev hatte keinen Ausweg mehr gewusst, hatte seinen Schuldgefühlen und dem Druck seines Verantwortungsbewusstseins nicht mehr standhalten können. Trevenen Huxley wurde nur 24 Jahre alt.

Die Nachricht von seinem Selbstmord erreichte Aldous und Julian in Connel per Telegramm. Die dritte Tragödie innerhalb nur weniger Jahre hatte die Familie ereilt. Für Aldous war der Verlust ähnlich schlimm wie der seiner Mutter, handelte es sich doch bei Trev um denjenigen in seiner Familie, dem er sich am meisten verbunden fühlte und mit dem er in den letzten beiden Jahren so viel Zeit verbracht hatte. Bestürzt zeigte er sich zudem über den bitterbösen Hohn des Schicksals, den er in Trevs Tod zu erkennen glaubte, was seine Einstellung in den kommenden Jahren nachhaltig beeinflussen sollte. Noch aus seinem Feriendomizil schrieb er an Gervas: »Neben dem äußersten Leid des Verlustes bereitet der Zynismus der Situation noch zusätzlichen Schmerz. Es ist genau das Höchste und Beste in Trev – seine Ideale – was ihn in den Tod getrieben hat […]. Trev war nicht stark, aber er hatte den Mut, dem Leben mit Idealen zu begegnen – und seine Ideale waren zu viel für ihn« (Letters, S. 61f.). Das Scheitern des Guten, die fatalen Auswirkungen von Idealismus, Sanftmut und Hingabe nährten in ihm einen zynischen Pessimismus, ließen ihn die Moralität und Sinnhaftigkeit des Lebens anzweifeln und glauben, es gäbe für den Menschen nur die ernüchternde Ebene bloßer Existenz. In dem herausragenden Titelgedicht seiner dritten Sammlung The Defeat of Youth (1918) setzte sich Huxley ausführlich mit Trevs innerem Konflikt in Bezug auf seine »unmögliche« Liebe und der Entzauberung einer romantisch-idealistischen Weltsicht auseinander; später schuf er in der Figur des Brian Foxe in Geblendet in Gaza ein unverhohlenes biografisches Porträt seines Bruders.

Wenige Wochen nach Trevs Tod hielt sich Aldous im September 1914 im Haus seines Vaters in Bayswater auf, wo er ein Zimmer mit Trev geteilt hatte. Von dort schrieb er seiner Bekannten, der gefeierten Konzertviolinistin Jelly d’Aranyi, einen Brief, in dem er seinem Kummer freien Lauf ließ:

»[M]an sollte dankbar und nochmals dankbar sein für all die Jahre, die man mit jemandem verbracht hat, der zu den edelsten und besten Menschen gehörte – aber oh Gott, es ist zuweilen schwer zu ertragen, in diesem Zimmer zu sitzen und vor dem Feuer zu lesen – alleine, und an all die fröhlichen Abende zu denken, an denen wir hier zusammensaßen, und all die Stunden, die ich so gerne wieder hätte, als es ihm besser ging. Es ist vielleicht ein egoistisches Leid, aber oh Jelly, du weißt, was er mir bedeutete.« (Letters, S. 63)

Im Oktober fuhr Aldous zurück nach Oxford, um sein zweites Studienjahr zu absolvieren. Die Stadt und auch die Universität waren wie verwandelt: Am 4. August hatte Großbritannien dem Deutschen Reich den Krieg erklärt, und eine Vielzahl der Studierenden wie auch Lehrenden leistete bereits freiwillig und begeistert Kriegsdienst. Dies betraf mehr als die Hälfte aller Studenten am Balliol College, wo sich nur noch 90 statt der eigentlich 200 undergraduates aufhielten; und die Zahlen sanken stetig. Bei den Dagebliebenen handelte es sich hauptsächlich um ausländische Studierende – vorwiegend Amerikaner –, Freiwillige, die auf ihre baldige Einsatzmöglichkeit warteten, und aus gesundheitlichen Gründen Abgelehnte, zu denen unfreiwillig auch Aldous gehörte. Ein Freund nach dem anderen zog als Soldat in den Krieg, so auch Lewis Gielgud, Gervas Huxley und J. B. S. Haldane, der Bruder von Naomi. Erneut fühlte sich Aldous ausgegrenzt, isoliert und allein.

Da die psychischen Anstrengungen der letzten Monate sich negativ auf sein Sehvermögen ausgewirkt hatten und zudem an der Universität mehr und mehr Unterbringungsmöglichkeiten für Militäreinheiten sowie für Flüchtlinge aus dem von den Deutschen überrannten Belgien benötigt wurden, machten die Haldanes ihm das Angebot, ihn in Cherwell aufzunehmen. Aldous nahm dankend an. Hier konnte er sich in aller Ruhe auf sein Studium konzentrieren, in diesem Jahr insbesondere auf mittelenglische Literatur, die er nur in Teilen schätzte (vornehmlich die Werke Geoffrey Chaucers), und das von ihm ungeliebte Altenglisch, welches ihm schwieriger als Griechisch erschien und dessen Literatur er langweilig fand. Außerdem musste er eine obligatorische Theologieprüfung aus dem letzten Jahr wiederholen, der er sich ebenfalls nur widerwillig unterzog. Auch im zweiten Anlauf im November fiel er durch, doch im Dezember klappte es zu seiner Erleichterung – und der seines Vaters.

Daneben genoss Aldous das Klavierspiel und das Zeichnen, und er widmete sich, seinem unersättlichen, aber physisch anstrengenden Lesehunger folgend, immer stärker seiner großen Vorliebe, der französischen Literatur, allen voran symbolistischen Dichtern wie Mallarmé, Rimbaud, Laforgue und Baudelaire, aber auch Prosaschriftstellern wie Stendhal, Gide, Anatole France oder Marcel Proust. Häufig tauchten jetzt französische Zitate in seinen Briefen auf. Die Haldanes unterhielten einen französischen Konversationskreis, an dem er mit Begeisterung teilnahm. Von seiner Anwesenheit in Cherwell profitierte nach eigenen Angaben insbesondere Naomi, die später unterstrich, dass Aldous sie immer tiefer in die Welt der Literatur eingeführt habe. Er machte sie nicht nur mit den verschiedensten Autoren und Strömungen bekannt, die er während seines Studiums und darüber hinaus rezipierte – seine Unvoreingenommenheit sorgte auch dafür, dass in der Familie noch vorhandene Bastionen viktorianischer Prüderie zu fallen begannen. Durch ihn fingen Naomis Eltern an, die aufklärerische Bedeutung von bislang als »unschicklich« geltenden Texten wie zum Beispiel Henry Fieldings Roman Tom Jones (1749) zu akzeptieren.

Der Aufenthalt in Cherwell gab Aldous aber auch wieder die Gelegenheit, sich näher mit den Naturwissenschaften und ihrem spezifischen Ansatz zu beschäftigen. Fast schmerzlich wurde er daran erinnert, welchen Berufswunsch er noch vor vier Jahren gehegt hatte. Mit großem Interesse und der ihm eigenen Aufgeschlossenheit verfolgte er John Haldanes physiologische Studien und Experimente; der Wissenschaftler beeindruckte ihn so nachhaltig, dass er Jahre später zur Vorlage der Figur des Lord Edward Tantamount in Kontrapunkt des Lebens (1928) wurde.

Anfang 1915 verließ auch Aldous’ verehrter Tutor Reginald Tiddy Oxford, um als Soldat in den Krieg zu ziehen. Der neue Tutor, Percy Simpson, richtete das Augenmerk seines Studenten vor allem auf das Elisabethanische Theater. Aldous verspürte jetzt aber verstärkt den Drang, sich über seine Studien hinaus zu engagieren – sei es innerhalb der Universität oder außerhalb. Er fungierte als Sekretär der Essay Society seines Professors Walter Raleigh, trat der Oxford University Socialist Society bei und erklärte sich bereit, rekonvaleszierende Soldaten auf Spaziergängen in Oxford zu begleiten und sie zugleich daran zu hindern, Pubs zu besuchen.

Auch die Teilnahme an meist kurzlebigen Studentenklubs wurde zu einem festen Bestandteil seiner Aktivitäten; diese Klubs blendeten betont die Bedrohlichkeit und Ernsthaftigkeit des Kriegsgeschehens aus und gaben sich dem »Unsinn« des als bedeutungsentleert empfundenen Lebens hin. Hier trat Aldous mit seiner Körpergröße von 1,95 Metern, seinem Faible für gelbe Jerseyhemden, weiße Socken und auffällige Hüte und seiner Belesenheit besonders in Erscheinung. Eine dieser Versammlungen war der Nineties Club, dessen Mitglieder sich in der Nachfolge Walter Paters, Oscar Wildes, Ernest Dowsons und anderer Ästhetizisten ausdrücklich dem Ziel verschrieben, den unmittelbaren Lebensmoment sensualistisch auszukosten und den Reizen der Kunst zu huldigen. Die Gründungsveranstaltung dieses Klubs besuchte auch der amerikanische Student T. S. Eliot, der gerade mit seinem Gedicht »The Love Song of J. Alfred Prufrock« (dt. »J. Alfred Prufrocks Liebesgesang«) für Aufsehen sorgte und in Zukunft zu einem der maßgeblichen Dichter des 20. Jahrhunderts werden sollte. Er kannte Huxley damals nicht, erinnerte sich aber später daran, bei dieser Gelegenheit auf ihn aufmerksam geworden zu sein.

Die Zusammenkünfte in solchen Klubs dienten selbstverständlich auch als Gelegenheit, eigene literarische Produktionen vorzustellen. Aldous sah sich jetzt als Dichter, und sein Schaffen gewann schnell an Umfang. Er modellierte seine Gedichte ganz nach Art der französischen Symbolisten, deren Texte er auch ins Englische übersetzte. Charakteristisch waren bereits sein Einsatz eines außergewöhnlichen Wortschatzes und die Herstellung ungewöhnlicher gedanklicher Assoziationen. Sein erstes Gedicht als junger Erwachsener veröffentlichte er 1915 unter dem Titel »Home-Sickness – From the Town« in der Jahresanthologie Oxford Poetry, die er im folgenden Jahr mit herausgab und für deren Folgebände er bis 1918 regelmäßig Beiträge verfasste. Darüber hinaus bewarb er sich mit einem langen, epischen Gedicht über das vorgegebene Thema »Glastonbury« (die sagenumwobene Kleinstadt in Somerset) um den jährlich an der Universität Oxford ausgeschriebenen Newdigate Prize. Diesen hatten vor ihm schon Matthew Arnold und sein Bruder Julian gewonnen. Sein Vater, dem er einen Entwurf zukommen ließ, warnte ihn davor, dass der seltsame Humor und die beißende Satire, die das Gedicht kennzeichneten, bei den Juroren auf wenig Anklang stoßen könnten. Und Leonard sollte recht behalten: Aldous blieb der Gewinn des traditionsreichen Preises verwehrt – was allerdings auch für die anderen Bewerber galt. Der Preis wurde letztlich in diesem Jahr gar nicht vergeben. Bitterlich beklagte sich Aldous bei seinem Bruder: »Als ob es nicht ganz offensichtlich wäre, dass das Ding absolut ERNST gemeint war« (Letters, S. 81).

Nachdem im Juni 1915 auch das zweite Studienjahr erfolgreich, wenn auch weit weniger fröhlich und sorglos als das erste, absolviert worden war, reiste Aldous Ende des Monats wieder nach Connel, um mit seiner Familie dort Urlaub zu machen. Überschattet wurde der Aufenthalt zweifelsohne von den düsteren Erinnerungen an den Sommer des vergangenen Jahres sowie von der allgegenwärtigen Angst um die im Krieg kämpfenden Freunde. Aber die majestätische Stille der schottischen Landschaft wirkte überaus beruhigend auf ihn, wie er in einem außergewöhnlichen Brief an Jelly d’Aranyi zum Ausdruck brachte. Die Umgebung »hilft, den Gedanken daran, dass gerade die Freunde getötet werden, in eine ruhige Art von ergebener Traurigkeit abzumildern«. Sie vermöge demjenigen, der sich ganz auf sie einlässt, sogar ein überragendes Einheitsgefühl zu vermitteln: »Man hat das gewaltige Gefühl, wenn man in dieser bezaubernden Landschaft ist, dass man Teil einer größeren Seele ist, die alles umfasst.« Jedoch folgt die grenzenlose Ernüchterung gleich im Anschluss: »Aber wenn ich dann wieder in der ganzen Erbärmlichkeit des Stadtlebens ankomme, fühle ich genauso deutlich, dass es unmöglich ist, diese großartige Einheit zu erkennen.« Der deutlichen Faszination von mystisch-religiösen Ganzheitsvorstellungen stehen bei Huxley der alltägliche Zweifel und die gewohnte Distanzierung gegenüber, und es deutet sich in diesen Zeilen an, was er später bezüglich seiner frühen Weltanschauung äußerte:

»Ich habe mich seit meinem Studium für die Mystik interessiert. Einige Zeit war das Interesse vorwiegend negativer Art; das heißt, ich las eine ganze Menge westlicher und östlicher Schriften, immer mit großem Interesse, aber immer mit dem Ziel, sie zu ›entlarven‹. Später wurde das Interesse positiv.« (zit. in Clark, S. 168)

Metaphysische Systementwürfe zu »entlarven« bedeutete für Huxley, sie auf ihren irrationalen und momenthaften Ursprung zurückzuführen und daraufhin als einseitiges Wunschdenken einzustufen. So weit habe die wissenschaftliche Entzauberung der Welt den Menschen auf sich selbst zurückgeworfen. Dass dennoch die grundsätzliche Sehnsucht nach einem allumfassenden Zusammenhang gleichsam von Beginn an mitschwang, bestätigt ein weiterer Abschnitt dieses bemerkenswerten Briefes, in dem Huxley die Hoffnung äußert,

»dass wir letztendlich das gesamte gegenwärtige Chaos in ein einziges Prinzip verarbeiten werden, welches ein Absolutum sein wird – das aber gegenwärtig nur potenziell da ist und dessen Natur wir nur sehr vage erahnen können.« (Letters, S. 73)

Am 26. Juli des Jahres wurde Aldous 21 Jahre alt und damit volljährig, musste aber bei seiner Geburtstagsfeier auf etliche Freunde verzichten. Den Sommer verbrachte er mit Vater und Stiefmutter in London sowie in »Prior’s Field«, wo der Familie für diesen Aufenthalt ein Teil der großzügigen Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt wurde. Hier wimmelte es nur so von Erinnerungen an Julia, die Aldous wenig später veranlassten, sich erneut in einem Brief Jelly d’Aranyi anzuvertrauen:

»Du hast meine Mutter nie kennen gelernt – ich wünschte, du hättest, denn sie war eine wunderbare Frau: Trev ähnelte ihr am meisten. Ich habe gerade noch einmal gelesen, was sie mir geschrieben hat, kurz bevor sie starb. Die letzten Worte ihres Briefes waren: »Sei anderen gegenüber nicht zu kritisch« und »gib viel Liebe« – und mir ist immer klarer geworden, wie weise dieser Rat war. Er ist eine Warnung vor einem recht eingebildeten, egoistischen Zug meiner selbst und eine ganze Lebensphilosophie.« (Letters, S. 83)

Zu diesem Zeitpunkt befand sich Aldous bereits wieder in Oxford, um sich seinem dritten und letzten Studienjahr zu widmen. Außerdem plante er, für einen groß angelegten Essay zu dem Thema »Die Entwicklung der politischen Satire in England von der Restauration bis zur Revolution« zu forschen. Mit dieser perfekt auf ihn zugeschnittenen Arbeit wollte er sich um den für 1916 ausgeschriebenen Stanhope Historical Essay Prize bewerben.

Naomi Haldane hatte in der Zwischenzeit freiwillig eine Tätigkeit als Krankenschwester in einem Londoner Hospital angenommen, war jedoch an Scharlach erkrankt und musste sich nun zu Hause erholen. Aldous hielt es für das Beste, sich aus Cherwell zurückzuziehen und wieder ein Zimmer am Balliol College zu bewohnen. Er fühlte sich dort wohl, musste aber feststellen, dass die Zahl der Studierenden und Lehrenden in Oxford weiter drastisch abgenommen hatte: »Die langen Verlustlisten der letzten Wochen waren absolut schrecklich – so viele Namen, die ich kannte« (Letters, S. 83). Engere Freundschaft schloss er jetzt mit exzentrischen Figuren wie Russell Green, der später einer der Herausgeber der Zeitschrift Coterie wurde, in der auch Huxley veröffentlichen sollte, und Tommy Earp, der, obwohl um einiges älter, noch immer ein undergraduate war, weil er permanent an der obligatorischen Theologieprüfung scheiterte. Aldous kannte die beiden bereits aus der Socialist Society und anderen Zirkeln. Vor allem mit Earp schmiedete er den Plan, ein neues Literaturmagazin ins Leben zu rufen, die Palatine Review, deren erste Ausgabe im Februar 1916 erschien. In diesem schmalen und heute außerordentlich raren Band, dem bis 1917 noch vier weitere folgten, präsentierte Huxley unter anderem sein wichtiges Gedicht »Mole« (»Maulwurf«), in dem es um den (metaphorischen) Gegensatz von Blindheit und Sehen geht. »Mole« beeindruckte den Herausgeber der Wochenzeitschrift The Nation, H. W. Massingham, derart, dass er Huxley um die Zusendung anderer selbst verfasster Gedichte bat.

Man traf sich auch wieder in Studentenklubs, um eigene Dichtung vorzustellen, über Literatur und Kunst zu diskutieren oder ganz einfach Spaß zu haben. Ein neuer, von Aldous mitgegründeter Klub nannte sich »Die Bewohner von Thule«, dessen erklärtes Ziel in der »Verbreitung von Unsinn und Zeitverschwendung« (Letters, S. 84) bestand. Unter dem Pseudonym »Aloysius Whalebelly« publizierte Aldous in der Oxforder Studentenzeitschrift The Varsity einen Text mit dem Titel »Thule«, in dem er sich über die deutsche Tradition akribischen philologischen Arbeitens lustig machte. Das eigene literarische Schaffen und die Treffen mit Gleichgesinnten wurden für ihn nun zu einem immer wichtigeren Ausgleich zu seinem Studium, welches er zunehmend als anstrengend und quälend empfand. Fortwährend musste er sich zu einem nicht geringen Teil mit altenglischen Texten und der entsprechenden Grammatik auseinandersetzen, was ihm weiterhin schwerfiel. Wie einige Notizen in einem der wenigen erhaltenen Tagebücher belegen, kam jetzt noch erschwerend hinzu, dass er den Vorlesungen seines Professors Walter Raleigh, die einen wenig inspirierten Eindruck auf ihn machten, kaum noch etwas abgewinnen konnte: Sie »werden immer schlechter. Er zeigt keinerlei Anstrengung, seine Verachtung für sein Publikum zu verbergen. […] Er ist ein altes Monster« (zit. in Bradshaw, S. 216). Dabei war sich Aldous gleichzeitig der bedrohlichen Gewissheit bewusst, dass er im kommenden Juni seine Abschlussprüfungen zu absolvieren hatte und dass die Erwartungen an ihn beträchtlich waren.

Aldous Huxley

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