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Ohnmacht

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1


„Kommst denn du jetzt her?“, lallte Toms Vater, als sie sich in der Diele begegneten. Er hatte sich wie jeden Abend in der Dorfkneipe volllaufen lassen und dann an der Wohnzimmerbar den Rest gegeben. Jetzt wollte er nach oben ins Bett.

Tom blieb entsetzt stehen, als er ihn bemerkte. Wie immer, wenn sein Vater betrunken war, legte sich augenblicklich eine traurige Schwermut auf seine Seele und er konnte seiner Stimmung trotz seiner Empörung keine Luft verschaffen. Er stand nur da und schämte sich.

„Ach, von deinem asiatischen Rumgehampel!“ Der Vater lachte böse. „Macht doch keinen Mann aus dir!“. Er gehörte zu den Menschen, die sich Mut antranken und dann böse wurden. Er ging an Tom vorbei und schnappte nach dem Geländer, um sich festzuhalten. „Mach Platz, du Lusche!“, knurrte er ihn an und lachte wieder. „Mit solchen Weicheiern wie dir werde ich immer noch fertig!“

Tom sah ihm mehr enttäuscht als böse nach. Er schämte sich nur, dass er einen solchen Vater hatte, der sich nicht beherrschen konnte. Er wollte keinen Vater, der sich nicht unter Kontrolle hatte. Er hasste Disziplinlosigkeit. „Du bist doch völlig betrunken!“, entfuhr es ihm und er erschrak über seine Worte. Es war das erste Mal, dass er ihn auf seine Trunksucht ansprach.

Der Vater hielt überrascht inne und starrte Tom entgeistert an. „Ich hör wohl nicht recht. Was hast du da eben gesagt? Hast du gesagt, dass ich betrunken bin?“ Er reckte Tom seinen Kopf entgegen, so dass dieser seinen nach Alkohol stinkenden Atem riechen konnte. „Du willst wohl frech werden. Du hast mich noch nicht betrunken erlebt!“

Jetzt reichte es Tom. „Dass ich nicht lache. Ich habe dich wahrscheinlich schon tausend Mal betrunken erlebt. Genauer: Tausende Male. 365 Tage im Jahr mal 20 Jahre, das sind viele tausend Male betrunken. Was sage ich, betrunken, besoffen meine ich.“

Er trat einen Schritt zurück, richtete sich auf, schnaufte tief durch und schrie den Vater an. „Als du noch Handelsvertreter warst, um nebenbei etwas zu verdienen und übrigens der Mutter den ganzen Hof überlassen hast, wobei sie sich zu Tode gearbeitet hat, bist du jeden Abend besoffen nach Hause gekommen.“

„Sag das nicht noch einmal, sonst …!“ Er drohte Tom mit geballter Faust und glotzte ihn aus bösen Augen an. „Sag das nicht noch einmal!“

Tom beeindruckte das nicht. Er war Taekwondo-Kämpfer und hätte den Vater mit einem einzigen Schlag niederhauen können. „Deine ganze Arbeit bestand darin, dich von einer Kneipe zur nächsten zu hangeln, ein paar Aufträge abzuschließen und dich dann volllaufen zu lassen. Und dann kamst du nach Hause, hast die Mutter terrorisiert und beleidigt, anstatt einmal mit ihr auszugehen oder etwas zu unternehmen.“

„Du elender Hund!“, brüllte der Vater, schlug nach Tom und fiel zu Boden, weil dieser dem Schlag durch einen Schritt nach hinten ausgewichen war.

„„Am Abend wird der Faule fleißig!“ hast du die Mutter dann noch gehänselt, wenn sie, nachdem sie den ganzen Tag auf dem Hof geschuftet und noch die Hausarbeit erledigt hatte, während du dich dann auf die Couch gelegt und deinen Rausch ausgeschlafen hast.“

Der Vater zog sich am Geländer hoch, stand mit offenem Mund da und gaffte dumm. Speichel floss ihm aus dem Mund. „Das wirst du büßen!“, lallte er.

„Und als du mit dem Job aufgehört hast, weil die Mutter es nicht mehr schaffte und nicht mehr konnte und schließlich starb, da war ja ich alt genug, die Arbeit zu machen und da warst du jeden Abend in der Kneipe und hast deine Säuferkarriere fortgesetzt. Meinst du wirklich, ich hätte dich bei einem solchen Leben noch nicht betrunken gesehen. Tag für Tag habe ich dich besoffen gesehen. Aber solange die Mutter noch lebte, durfte man nicht darüber reden, weil sie Angst vor den Konsequenzen hatte, denn eines ist klar, dass du ein mieses Schwein bist.“

Der Vater war völlig baff.

„Und bei solch einem Großmaul wie dir ist es natürlich klar, dass du zwar am Abend einen ganzen Kasten Bier trinkst, aber dann immer noch stocknüchtern bist“, ergänzte Tom ironisch.

„Was fällt dir ein, du dreckiges Miststück!“, brüllte der Vater mit weit aufgerissenen Augen, stürzte auf Tom zu und versuchte, ihn zu packen.

Der trat einen Schritt zur Seite, der Vater griff ins Leere, torkelte und fiel wieder zu Boden. Er versuchte, sich aufzurappeln und fluchte laut. „Verdammt, wenn ich dich kriege, gibt´s wieder mal Prügel. Du hast wohl schon lange keine mehr bekommen.“

„Du bist doch nur ein alter Säufer!“, entfuhr es Tom.

„Willst du frech werden gegen deinen Vater, schämst du dich nicht?“

„Wenn du wüsstest, wie oft ich mich in meinem Leben schon für dich geschämt habe. Für so einen alten Säufer wie dich!“

„Hau ab, du Scheißkerl!“, brüllte der Vater. „Hau ab, bevor ich mich vergesse!“

„Vergesse?“, fragte Tom nachdenklich. „Ich frage mich, ob du dir deiner Person eigentlich überhaupt einmal bewusst warst, du eingebildeter, egoistischer Selbstbetrüger.“

Der Vater saß mit offenem Mund auf dem Boden und glotzte blöd vor sich hin. Er schien Toms Worte gar nicht zu begreifen.

„Ja, das ist die Frage: Ob du jemals Verstand hattest und ihn nur versoffen hast. Oder ob du nie welchen hattest? Oder ob du dich nicht selbst erkennen kannst, weil du so ein toller Hecht bist!“

Sie stierten sich aus bösen Augen an.

„Wie auch immer: Jedenfalls bist du eine Schande für unsere Familie! Du widerst mich nur an“, stammelte Tom leise.

Dann war es totenstill im Raum und sie starrten sich böse an.

Schließlich wandte sich Tom ab und ging traurig und zerstört nach oben in sein Zimmer. Die Scham nahm ihm jeden Lebensmut.

Er musste an seine Mutter denken. Sie war eine große, schlanke Frau, die von einem der kleineren Höfe der Gegend kam. Im Gegensatz zum Vater hatte sie Interesse an allem, bildete sich und wollte etwas erreichen. Aber dann war sie auf seinen Vater hereingefallen, sie wurde schwanger und sie heirateten, weil es damals so war, dass man dann heiratete. Das war der Fehler ihres Lebens.

„Fickfehler! Ich bin ein Fickfehler!“, dachte Tom.

Sie fügte sich in das, was man von ihr erwartete, aber sie kam nicht über das Leben mit diesem dummen, aggressiven, sturen und eigensüchtigen Mann hinweg, vor allem nicht über seine Alkoholsucht. Sie wurde nervenkrank und schließlich nahm sie sich das Leben. Da hatte er sich geschworen, dass er seinen Vater trotz seiner Trauer überleben musste.

Er setzte sich auf sein Bett und weinte.



2


„Wieder nichts, Sofia? Hast du wieder keine Arbeit bekommen?“, fragte die Mutter traurig, als die Zwanzigjährige das Esszimmer betrat. Sie war ein einssiebzig großes, zierliches, schwarzhaariges und braunäugiges Mädchen, sie war keine Schönheit, hatte jedoch ein anziehendes Äußeres und ihre Augen und ihr Gesicht versprühten eine Milde und eine Freude, durch die man auf sie auch in einer Menschenansammlung aufmerksam wurde.

Die Familie Salihi lebte in einem kleinen Dorf. Sie bewohnten ein altes, zerfallendes Holzhaus in einem Straßendorf in der Provinz. Die Familie bestand aus den beiden Eltern sowie fünf Kindern, zwei Jungen und drei Mädchen. Sofia war die älteste. Niemand aus der Familie hatte Arbeit, Sofia hatte seit ihrer abgeschlossenen Lehre als Näherin keine Anstellung bekommen, sie half sich und der Familie mit Gelegenheitsarbeiten. Die Familie lebte und überlebte vor allem durch das, was ihnen ihr Garten und ihr Kleinvieh schenkten.

Sofia setzte sich an den Esszimmertisch, an dem die Familie saß, um das Abendbrot einzunehmen. Gespannt sahen ihre Eltern und ihre Geschwister zu ihr auf.

„Nein, leider habe ich wieder keine Arbeit bekommen“, musste Sofia eingestehen und senkte traurig den Kopf. Sie stand wie ein begossener Pudel vor ihrer Familie.

Der Vater erhob sich, ging zu ihr hin und nahm sie in den Arm. „Es ist nicht deine schuld!“, wusste er ebenso gut, wie die anderen. „Es ist die Zeit, es ist die Zeit!“

Sofia lehnte ihren Kopf an seine Schulter und fing an, zu weinen. Da kam auch die Mutter zu ihr und drückte sie. „Auch Papa und Luisa haben heute keine Arbeit gefunden.“

Luisa hatte ebenfalls bereits eine Lehre abgeschlossen und seitdem keine entsprechende Arbeitsstelle mehr gefunden. Die beiden jüngeren Geschwister gingen noch zur Schule.

„Auch ich habe heute nichts bekommen!“, versuchte sie der Vater weiter zu trösten. „Es ist einfach eine schlechte Zeit.“

„Aber das geht jetzt schon seit Jahren so, dass niemand von uns Arbeit bekommt!“, schimpfte Sofia plötzlich los und befreite sich aus der Umarmung ihrer Eltern. „Wir rennen den ganzen Tag zum Arbeitsamt oder von einem Betrieb zum anderen und doch bietet uns niemand eine Arbeitsstelle an.“ Sie ging zum Tisch hinüber und zeigte auf die Speisen. „Die ganze Woche gibt es nur Kartoffeln und Gemüse, vielleicht am Sonntag mal Fleisch. Und sonst können wir uns nichts leisten, keine neuen Kleider, nichts, nichts, nichts!“ Sie stampfte wütend auf dem Boden auf.

„Es ist die Zeit, es ist einfach keine gute Zeit!“, wiederholte der Vater.

„Nein!“, meinte Sofia nach einigen Sekunden sachlich, mehr zu sich, als zu ihren Eltern. „Ich glaube, es ist nicht die Zeit. Oder hier ist immer eine schlechte Zeit. Ich glaube, es ist der Ort, das Land.“

„Das Land?“, fragte die Mutter erschrocken. „Was, was willst du damit sagen, Liebes?“

„Ach, ich weiß auch nicht!“, druckste nun Sofia herum, da sie wusste, dass ihre Gedanken ihren Eltern nicht gefallen würden. „Einige meiner Freundinnen haben Arbeit im Ausland gefunden, in Italien oder Deutschland. Sie verdienen gut und senden ihrer Familie jeden Monat viel Geld.“

Nun sahen sie die Eltern entsetzt an. „Wir wollen dein Geld nicht!“; meinte der Vater stolz. „Das kommt gar nicht in Frage, dass ich von dir Geld annehme.“

„Und wir wollen dich bei uns haben. Wir wollen doch zusammenbleiben!“

Sofia sah ihre Eltern liebevoll an. „Das weiß ich alles wohl!“, begann sie langsam wieder. „Und das ist wunderbar, das ist wunderbar, wenn man so geliebt wird. Jeder Mensch will dort leben, wo man so geliebt wird.“

Die Eltern atmeten auf und sahen sie ebenfalls liebevoll an.

„Aber es gibt in diesem Land keine Arbeit für mich!“, fügte sie hinzu. „Und ich kann euch nicht mein ganzes Leben lang auf der Tasche liegen. Ich kann nicht in einem Land leben, wo ich nicht gebraucht werde.“

Sie standen sie sich gegenüber und sahen sich ratlos und gleichzeitig erschrocken an.



3


„Angriff!“, rief der Trainer und trat einen Schritt zurück, um sich aus der Reichweite der beiden Kämpfer zu begeben. Er leitete das Taekwondo-Training in der Turnhalle der Stadt und beobachtete in den letzten Minuten des Trainings die Kämpfer an den verschiedenen Matten, um ihre Technik zu verbessern. Gleich darauf stutze er und runzelte entsetzt die Stirn.

Einer der Kämpfer stürzte sich auf seinen Gegner und streckte ihn mit dem ausgestreckten Bein nieder.

„He, was soll das! Lass den Quatsch!“, rief er im nächsten Moment, sprang zurück auf die Matte, packte den Kämpfer und trat aufgeregt zwischen die Kämpfenden.

„Bist du noch zu retten?“, fragte der am Boden Liegende und hielt sich die blutende Nase. „Bist du noch ganz dicht?“

Der Trainer hatte den Angreifer fest am Arm gepackt und sah ihn verständnislos an. „Was sollte das nun wieder, Tom?“ Er sah ihm zornig in die Augen. „Du weißt genau, dass du den Gegner nicht berühren darfst und greifst ihn trotzdem voll an. Und das ist nicht das erste Mal. Wenn das nochmals vorkommt, werde ich dich rauswerfen müssen.“ Der Trainer sah ihn mit bedauernder Miene an. „Und du bist doch einer der besten. Und das kurz vor den Meisterschaften!“

„Haste Stress mit den Weibern, Tom?“, foppte ihn ein Kämpfer von einer der anderen Matten.

Die Trainierenden hatten natürlich alle mitbekommen, was los war, hatten ihre Kämpfe eingestellt und beobachteten verwundert, was geschah.

„Ach, was!“, rief einer. „Der hat doch keinen Ärger mit Weibern. Da, wo der herkommt, gibt`s gar keine Weiber!“

Alle lachten und sahen ihn hämisch an.

Tom blickte sich mit trauriger Miene um. Dann ging er auf seinen Trainingspartner zu, sah ihn an, reichte ihm die Hand und zog ihn hoch. „Tschuldigung!“, meinte er ehrlich. „Ich versteh auch nicht, was in mich gefahren ist. Das war echt nicht gut von mir. Verzeih mir, Pit!“

Der andere sah ihn noch verärgert an und tastete nochmals seine Nase ab. „Schon gut, ist ja anscheinend nichts gebrochen!“, meinte er dann. „Gibt höchstens ein paar Tage ´ne blaue Nase.“ Er betrachtete die Kampfmatte, die voller Blut war. „Komm!“, meinte er dann. „Lass uns die Sauerei beseitigen und dann geht`s weiter. Ich bin schließlich zum Üben da und nicht, um mich auszuruhen. Das mach ich schon den ganzen Tag am Schreibtisch!“

Alle lachten und nahmen wieder ihr Training auf.

„Danke, Pit!“, meinte Tom und klopfte seinem Partner auf die Schulter.

Der sah ihn nur nachdenklich an.

Dann setzten sie das Training fort.

„Ist wohl wegen deinem Vater?“, wollte Pit später wissen, als sie am Tresen der Vereinskneipe nebeneinander Platz genommen hatten und eine Cola light tranken. „Ich will dich nicht verletzen, aber jeder weiß, dass dein Vater ein Säufer ist. Da versteh ich dich gut. Ginge mir genauso!“

„Es hat natürlich mit meinem Vater zu tun!“, begann Tom und nippte an seinem Glas. „Aber eigentlich mit unserem Hof!“

„Was meinst du?“

„Dass der alte Alkoholiker ist, ist schon schlimm genug. Und dass er sein ganzes Leben ein fauler Hund war, auch. Aber das Schlimmste ist, dass ich zwar die ganze Arbeit machen muss, aber nichts entscheiden darf!“

„Na ja, dein Vater wird wohl fühlen, dass er am Ende seines Lebens ist, wenn er etwas abgibt. Das ist bei allen Alten so. War auch bei meinen Eltern so und geht uns vielleicht nicht anders!“, versuchte Pit ihn zu trösten.

„Mag sein, aber das hat verheerende Konsequenzen.“

„Welcher Art?“

Tom nippte an seinem Glas. „Der Alte widersetzt sich allen Neuerungen. Maschinen, Computer, alles, was andere Höfe haben, fehlt bei uns. Der Hof ist komplett veraltet. So können wir nicht konkurrenzfähig sein. Er entzieht mir, ohne es zu ahnen, die Lebensgrundlage.“

„Verstehe!“, meinte Pit nachdenklich und sah ihn ratlos an.

„Das Schlimmste ist, dass er sich gegen die Trockenlegung der Sümpfe auf unserem Grund wehrt.“ Tom machte eine erklärende Bewegung mit der Hand. „Konkurrenzfähig bist du heute nur, wenn du viel Fläche hast.“

„Dazu hab sogar ich schon was gelesen. Bei den Flächen im Ausland könnt ihr Bauern hier in Deutschland nicht mithalten!“

„So ist es!“ Tom nickte. „Aber wenn wir das Sumpfgelände auf unserem Grund trockenlegen würden, könnten wir unsere Anbaufläche entscheidend vergrößern. Und dann wären wir konkurrenzfähig!“

„Leuchtet ein! Und das sieht dein Alter nicht!“

Tom schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, ob es seine Sturheit ist oder ob er seinen Verstand komplett versoffen hat.“

Sie saßen eine Weile schweigend da.

„So hat das keine Zukunft. Und das will der Alte nicht einsehen!“

„Versteh ich gar nicht! Das kann doch gar nicht sein. Man kann doch mit jedem reden!“

„Nicht mit dem. Mit dem konnte man noch nie reden. Nur sein Wille zählt und es gibt keine Lösung. Was will man da machen?“

Sie nippten an ihren Gläsern und sahen der Kellnerin zu, wie sie die anderen bediente.

„Was du machen kannst?“, meinte Pit schließlich.“Du packst deine Sachen und verschwindest in die Stadt.“

Tom sah ihn skeptisch an. „Das sagst du so leicht. Aber hast du mal dran gedacht, dass ich nur eine Ausbildung als Landwirt habe. Was soll ich da irgendwo in einer anderen Stadt? Da wartet niemand mit `nem tollen Job auf mich, das ist nicht so, wie bei dir.“

„Verstehe!“, meinte Pit, nachdem er Tom wieder eine Weile nachdenklich angesehen hatte. „Na, wenn das so ist!“ Er nippte und dachte nach.

„Tut die Nase noch weh?“, wollte Tom wissen.

Pit befühlte sie nochmals und lachte. „Mach dir mal da keine Sorgen! Das wird schon wieder. Aber reagiere dich beim nächsten Mal erst zuhause an deinem Trainingsgestell ab, bevor du dir wieder einen von uns vornimmst!“

„Abgemacht!“

Sie stießen mit den Gläsern an und lachten.



4


„Hier, hier ist die Annonce, die ich aus der Zeitung ausgeschnitten habe!“, rief Alwina und schwenkte einen kleinen Zettel durch die Luft. „Ich wusste doch, dass ich ihn aufgehoben habe. Und wo war er? Da wo er hingehört. In der obersten Schublade.“ Sie sprang von ihrem Stuhl auf, eilte hinüber zum Sofa in ihrem Zimmer, setzte sich neben Sofia und hielt ihr das Papier hin.

Sofia nahm den Zettel und las laut vor. „Näherinnen in Deutschland gesucht. Beste Arbeitsbedingungen und Lohn. Und die Telefonnummer.“

„Genau, genau!“, rief Alwina begeistert. „Beste Arbeitsbedingungen und Lohn. Was willst du mehr? Und eine Arbeit in unserem Beruf!“ Sie zeigte energisch mit ihrem Zeigefinger auf den Boden. „Hier braucht uns doch niemand. Aber dort, dort wollen sie uns haben. Und deswegen, nichts wie hin!“

Sofia sah sie nachdenklich an. „Ich, ich kann nicht so recht an die Sache glauben. Es klingt für mich gar zu gut!“

„Wie bitte? Wie bitte? Es klingt zu gut?“ Alwina konnte es nicht fassen. „Soll es etwa schlecht klingen?“ Sie sprang auf und hob wieder den Zeigefinger. „Deshalb will ich doch da hin: Weil es so gut klingt!“

Sie sahen sich einen Moment schweigend und verständnislos an.

„Ich, ich verstehe dich nicht, Sofia!“, rief Alwina dann aus. „Ich biete dir eine Chance aus diesem Mist hier herauszukommen und anstatt, dass du dich freust, machst du eine Trauermiene und zerstörst auch noch meine gute Laune und meine Hoffnungen!“ Sie fasste sich ärgerlich an den Kopf.

„Entschuldige, das tut mir ehrlich leid!“, begann Sofia vorsichtig. „Es ist halt nur …“

„Was, was ist nur?“ Alwina sah sie herausfordernd an.

„Na ja, wie ich schon sagte!“, begann sie und sah Alwina prüfend an. „Es klingt alles so toll.“ Sie atmete tief durch. „Aber man hat auch schon Anderes gehört!“

„Anderes, was meinst du?“ Alwina runzelte gespannt die Stirn.

„Man hat schon oft gehört, dass Mädchen tolle Arbeitsstellen angeboten wurden und am Schluss landeten sie in der Prostitution und arbeiteten praktisch umsonst. Wenn sie Glück hatten, wurden sie dann irgendwann völlig kaputt wieder nach Hause geschickt. Wenn nicht, was weiß ich, was dann mit ihnen geschah?“

„Ach das, jetzt verstehe ich dich!“, rief nun Alwina scheinbar gleichgültig aus, wurde dann aber ernst. „Ja, ja, da hast du natürlich Recht, das ist schon oft geschehen!“

„Du weißt davon?“

„Klar, jeder weiß das!“, betonte Alwina. „Und stell dir vor, aus diesem Grund habe ich die Sache hier genau geprüft.“

„Geprüft?“

„Ich habe mich nach Mädchen erkundigt, die genau auf diese Annonce geantwortet haben und jetzt in Deutschland bei dieser Firma arbeiten.“

„Echt?“

„Aber sicher!“ Alwina nickte selbstsicher. „Ich kann dir Namen und Adressen nennen und dir ein Gespräch mit den Eltern dieser Mädchen, die auf diese Annonce geantwortet haben, vermitteln. Die Leute sind alle begeistert. Gute Arbeit im Beruf als Näherin, gute Arbeitsbedingungen, gute Löhne. Die Mädchen schicken jeden Monat ordentliches Geld nach Hause. Glaub mir, da ist alles in Ordnung. Wer arbeiten will, der ist hier völlig richtig!“

Sofia war baff. „Ja, dann!“, überlegte sie. „Dann ist das ja vielleicht doch der Ausweg aus unserer Not.“

„Das ist er sicher, das kannst du mir glauben!“, versicherte Alwina. „Ich jedenfalls werde mir diese Chance nicht entgehen lassen. Und ich wollte dich als meine beste Freundin nicht hier versauern lassen.“

„Lieb von dir!“, strahlte Sofia Alwina dankbar an.

„Ich habe morgen früh um zehn Uhr einen Termin mit dem Vermittler im Kaffee Halici. Kommst du mit?“

„Klar komme ich mit, was denn sonst!“, Sofia sprang auf.

„Check ein!“, meinte Alwina und die beiden Mädchen schlugen vor Aufregung und Glück die Hände zusammen.



5


„Hast du schon wieder gesoffen oder was?“, fragte Tom beschämt, als er die Küche betrat und seinen Vater zusammengesackt am Küchentisch sitzen sah, vor ihm standen einige Bierflaschen.

Der Vater hob schwerfällig den Kopf und sah ihn aus glasigen Augen dumm starrend an. „Wenn schon, was geht´s dich an? Und was interessiert`s dich, wo dich sonst nichts interessiert?“ Er warf ihm einen bösen Blick zu.

Tom sah ihn vorwurfsvoll an. „Ist eben kein schöner Anblick, wenn man seinen Vater besoffen sieht. Beschämend eben, einfach beschämend!“

Sie starrten sich eine Weile wütend an.

„Du bist der gleiche Schwächling wie dein Großvater einer war!“ Er nahm die Flasche und lachte. „Der war auch ein Schwächling.“

„Du kannst mir nichts weismachen. Großvater war ein Ehrenmann, ein Vorzeigemensch in jeder Beziehung! Unsere Familie war hoch geachtet in unserem Dorf, so war das damals!“

„Ein Schwächling, sage ich!“, schrie ihn der Vater an. „Immer krank war er und immer nur am Jammern!“

„Aber unsere Familie war geachtet. Großvater wusste sich zu benehmen. Du hast mit deinem Benehmen den Ruf unserer Familie im Dorf komplett ruiniert!“

„Halt dein freches Maul, du ungezogener Bengel!“ Er stand auf, um Tom zu drohen, denn er wusste, dass er ihn nicht mehr schlagen konnte, so wie früher, als er noch ein Junge war. Aber er sackte eh vor Schwäche wieder in sich zusammen.

„Und du bist schuld, dass Mutter sich das Leben nahm!“, bohrte Tom weiter, weniger um den Vater zu provozieren, als aus aufkeimendem Zorn.

„Halt jetzt dein ungezogenes Maul!“, lallte der Vater wieder. „Was fällt dir ein? Ich, ich …!“ Aber weiter kam er wieder nicht, dann rutschte sein Kopf von seiner Faust, mit der er diesen abgestützt hatte, herunter und knallte auf den Tisch. Ein leiser Laut des Schmerzes, dann stützte er sich wieder ab, zog sich am Tisch hoch und stand auf.

„Deine Sauferei ist schuld, dass Mutter sich erhängt hat!“

Er hatte sie in der Scheune gefunden, als er im Teenageralter war. Er wusste, dass er diesen Anblick nie vergessen würde. Und er wusste, wer an allem schuld war. Zorn durchfuhr ihn gegen diesen dumpfen, rücksichtlosen Egoisten.

„Oh!“, brummte der Alte nur, taumelte zum Treppengeländer, an dem er sich schnell festhielt, um nicht hinzufallen. Er beachtete Tom gar nicht und zog sich nach oben.

„Du Schwein!“, rief ihm Tom angeekelt hinter her. „Du versoffenes Schwein!“

Der Alte reagierte nur mit einer abfälligen Handbewegung.

Eine wohlbekannte Ohnmacht überfiel Tom, die Ohnmacht, im Recht zu sein, alles richtig machen zu wollen, das Richtige tun und leben zu wollen und nicht zu können, weil dieses versoffene Schwein im Weg stand und es verhinderte.

An der Kehre blickte ihn der Vater an und grinste frech, so als ob er sagen wollte: „Schau! Was du auch willst, es wird doch nicht gemacht!“

In Tom brodelte es, diese Frechheit, Dummheit und Sturheit dort und diese Ohnmacht bei ihm.

„Verflucht!“, entfuhr es ihm. „Ich könnte dich …!“

Tom stürzte zornig nach draußen in den Hof, damit er nicht aus lauter Wut eine Dummheit beging. Von dem Streit völlig außer Atem blieb er stehen und holte tief Luft. „Weg hier, nur weg hier, sonst bring ich den Kerl um!“, murmelte er.

Er lief hinüber zu dem Schuppen, in dem seine Geländemaschine stand. Er schob sie aus der Halle, trat energisch das Pedal durch, ließ den Motor aufheulen und brauste dann davon.



6


„Wie bitte, du willst nach Deutschland auswandern?“, rief Adrian laut, sprang auf und sah Sofia entgeistert an. „Das, das kannst du doch nicht machen, du kannst mich doch nicht allein lassen!“

Sofia senkte traurig ihren Kopf und starrte zu Boden. Im nächsten Moment flossen ihr die Tränen über das Gesicht.

Sie hatten einen schönen Abend in ihrem Zimmer geplant und saßen auf dem Sofa.

„Ich, ich dachte du liebst mich?“, fragte er verzweifelt. „Ich dachte, wir wollen heiraten. Ich dachte, wir zwei würden für immer zusammenbleiben. Ich wollte Kinder von dir, ich wollte eine Familie mit dir gründen!“ Er stand ratlos vor ihr.

Auf dem Boden hatte sich bereits ein kleiner See aus Sofias Tränen gebildet. Sie schluchzte, rang nach Fassung, atmete tief durch, spürte einen tiefen Schmerz in ihrem Herzen, wusste, dass sie ihn überwinden musste. „Das ist doch alles noch möglich, Adrian!“, begann sie mit leiser, aber hoffnungsvoller Stimme. „Ich habe doch nicht gesagt, dass ich dich verlasse. Ich habe doch nicht gesagt, dass es aus ist zwischen uns beiden. Ich liebe dich, darauf kannst du dich verlassen!“ Nun sah sie zu ihm hoch, stand auf und sah ihm tief in die Augen. „Ich liebe dich, glaub mir bitte, ich liebe dich und ich wünsche mir auch alles das, wovon du gesprochen hast, eine Familie und Kinder und das nur mit dir.“

„Na also!“, meinte er etwas beruhigter. „Dann wird alles so geschehen und alles gut werden, wenn du hier bleibst. Du bleibst doch hier?“

Von einem zum nächsten Moment war ihr Herz wieder voller Trauer. Sie begriff, dass er sie nicht verstand und dass sie es ihm doch beibringen musste. „Nein!“, flüsterte sie leise und legte zärtlich die Arme um ihn. „Ich bleibe nicht hier. Ich werde nach Deutschland gehen, weil es nur dort Arbeit in meinem Beruf für mich gibt und weil ich dort gut verdiene!“

Es wurde ihm klar, dass sie es ernst meinte. Er stieß sie verärgert zurück, wandte sich von ihr ab. „Ach, Unsinn! Du findest auch hier Arbeit, wenn du nur lange genug suchst!“

„Ich habe lange genug gesucht, Adrian, das weißt du.“ Sie holte Luft, um weitersprechen zu können. „Ich habe vor drei Jahren meine Lehre beendet und seitdem suche ich nach Arbeit, das weißt du genau!“

„Dann suchst du eben noch drei Jahre, aber du wirst Arbeit finden, das schwöre ich dir!“ Er sah sie mit blitzenden Augen an.

„Falls wir nicht vorher verhungern, nachdem wir schon nicht gelebt, sondern grade so existiert haben. Nein, nein, nein! Es geht mir und meiner Familie wirklich schlecht. Es muss etwas geschehen.“ Sie nickte, weil sie ihre Entscheidung getroffen hatte. „Ich werde gehen, das ist sicher!“

„Wenn du gehst, wird es aus sein zwischen uns!“, vermutete er. „Du wirst dort arbeiten, du wirst jemanden kennenlernen, du wirst dich dort verlieben und nie wieder zurückkommen!“

„Dann komm doch einfach mit!“, schlug sie ihm vor. „In der Annonce werden auch Männer für die verschiedensten Arbeiten gesucht. Die brauchen dort junge Leute, die arbeiten wollen, weil sie selbst nur noch alte Leute haben!“, rief sie begeistert über ihre Idee aus.

Er winkte ab. „Ach, ich glaube nicht an diese Träume. Lieber habe ich hier meine Arbeit und meine Familie und meine Freunde sicher, auch wenn ich nicht so viel Geld habe, als dass ich mich auf etwas einlasse, dass vielleicht in einer Katastrophe endet. Nein, nein, nein, ich gehe nirgendwohin und du, du bleibst ebenfalls hier!“ Er stellte sich bestimmend vor sie hin. „Du bleibst hier, damit das klar ist!“

Sie sah ihn eine Weile nachdenklich an. „Ich habe die Papiere mit dem Vermittler bereits unterzeichnet. Der Vertrag ist gültig. Ich werde am ersten des neuen Monats in Deutschland mit der Arbeit beginnen!“

Er fuhr überrascht zurück und sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. „Dann, leb wohl!“, zischte er außer sich vor Zorn und stürzte aus ihrem Zimmer.

7


Tom raste mit viel zu hoher Geschwindigkeit durch die Straßen der Stadt. Das war ein sicheres Zeichen dafür, dass er sich geärgert hatte.

„Wollen wir heute Abend etwas unternehmen?“, hatte er Anne, seine Freundin, per SMS gefragt.

Aber die hatte abgesagt. „Habe heute Abend leider keine Zeit. Muss noch für die Prüfung arbeiten!“

Er hatte dann versucht, mit ihr auf dem Handy zu sprechen, da er sich damit nicht abfinden wollte. Aber sie war nicht erreichbar gewesen.

„Verdammt noch mal, was soll das?“, hatte er wütend gemurmelt. Denn in letzter Zeit hatte sie kaum noch etwas mit ihm unternommen. Immer hatte sie eine Ausrede gehabt und oft war sie nicht erreichbar gewesen.

Da schwang er sich auf seine Bultaco und war in die Stadt gerast, ohne richtig zu wissen, was er da wollte. Er hasste die Stadt mit den vielen Menschen, die er zunehmend als Feinde betrachtete. Eigentlich war die Stadt gar nicht sein Ziel gewesen, aber irgendwann endet jede Landstraße in einer Stadt.

Er brauste durch die Straßen, um seine Wut loszuwerden, aber er steigerte sich nur noch mehr hinein, so wie es seine Art war. Er versuchte sich an die Entspannungstechniken aus dem Taekwondo-Training zu erinnern, aber es gelang ihm dieses Mal nicht, sich zu beruhigen.

Plötzlich hielt er an einem Restaurant an, es war irgendein Restaurant, es hätte auch jedes andere sein können. Er parkte die Trialmaschine und sah sich um.

„Vorsicht!“, sagte er zu sich selbst. Er erinnerte sich an die Ereignisse der letzten Wochen. Mehrmals hatten seine Besuche in Kneipen in Auseinandersetzungen geendet, so aggressiv war er vor Zorn. Er wusste, dass er außer sich vor Wut und Schmerz und Ohnmacht war und es gelang ihm nicht, zu sich zu finden, wieder er selbst zu werden – auch nicht mit den Entspannungstechniken.

„Vorsicht!“, meinte er laut zu sich. Aber dann nahm er den Helm ab und trat ein. „Ich werde nur eine Kleinigkeit trinken und ich werde keinen Streit haben“, murmelte er zu sich selbst. Er nahm sich den Restaurantbesuch als Training vor. „Ich werde mich unter Kontrolle haben!“, beschloss er. „Ich werde mich nicht provozieren lassen oder ärgern, ich werde einfach friedlich eine Cola light trinken und werde mich über nichts ärgern und durch nichts provozieren lassen!“

Er erinnerte sich an verschiedene Situationen, die ihn in letzter Zeit aus der Bahn geworfen hatten. „Heute nicht!“, sagte er zu sich selbst.

Dann nickte er entschlossen und trat ein. Er ging zum Tresen und bestellte sich ein Cola light. Der Wirt gab ihm das Getränk. Tom setzte sich an die Theke und nippte an seinem Getränk. Dann sah er sich im Lokal um. Plötzlich zuckte er zusammen. Er traute seinen Augen nicht.

„Anne!“, murmelte er überrascht vor sich hin.

Er konnte es nicht fassen. An einem der Tische ganz weit hinten im Lokal saß Anne mit einem Mann, den er nicht erkennen konnte, weil er mit dem Rücken zu ihm saß,

Er stand auf. „Anne!“, knurrte er nun hilflos. Und er bemerkte nicht, dass er schon wieder außer sich war, denn dies war nun wieder eine Situation, auf die er nicht vorbereitet war, eine Situation, die nicht in seinem möglichen Ereignisfenster mit enthalten gewesen war.

„Das kann doch nicht wahr sein!“, murmelte er. „Anne!“

Roboterhaft taumelte er zu dem Tisch, an dem die beiden saßen. Gleich darauf war er bei ihnen.

Anne hatte ihn bereits nach wenigen Metern erkannt und erschrak. Der Mann, der bei ihr saß, bemerkte es. „Ist was?“, fragte er besorgt.

Dann war Tom bei ihnen. „Anne!“, brummelte er verzweifelt. „Was machst du hier? Du hast gesagt, du musst für die Prüfung lernen!“

„Ich, ich, ich hatte vergessen, dass ich mit Mike verabredet war!“, stammelte sie verlegen.

Der Mann, der bei Anne saß, drehte sich um.

Tom erkannte Mike Sellers, den Sohn des größten Bauern im ganzen Umland. Die Sellers verfügten nicht nur über den flächenmäßig größten Hof, sie hatten auch in allen Bereichen auf Modernität gesetzt: Sie kontrollierten alles von der Produktion bis zur Vermarktung, hatten eigene Bioläden in den nahegelegenen Städten und setzten dabei auch in allen Bereichen auf die neueste Technik. Sie machten alles so, wie Tom es gerne gehabt hätte, waren seinem Hof haushoch überlegen. Auch das gab Tom einen Stich ins Herz.

„Hallo, Tom!“, meinte Mike Sellers höflich und gelassen, mit der Gelassenheit und Höflichkeit derer eben, die sich alle leisten können, die alles bestens in ihrem Leben eingerichtet haben.

Tom sah ihn immer noch hilflos an. Er konnte ihm nicht einmal böse sein. Er machte alles richtig und Tom wusste, dass er es genauso gemacht hätte.

„Anne, was machst du hier? Du hast meine Verabredung abgesagt, weil du auf die Prüfung lernen musstest!“ Mit ihr war er böse. Er hatte ihr alles gegeben, was er hatte und alles versprochen, was er versprechen konnte.

„Tom!“, meinte sie verlegen. „Mach jetzt bitte keine Szene!“

„Szene?“ Er fiel aus allen Wolken. „Szene?“, wiederholte er und überlegte, ob das das richtige Wort war. Dann schüttelte er sich und kam zu sich.

„Du verweigerst meine Einladung, belügst mich und gehst dann mit dem Jungen aus, der den größten und besten Hof in der Gegend hat. Wie niederträchtig kann man denn noch sein?“

Er sah sie mit tiefer Verachtung an.

„Ich war mit meinen Vorbereitungen schneller fertig als ich dachte und Mike hat mich spontan eingeladen!“

„Du lügst, wenn du den Mund aufmachst!“

„Bitte, mach jetzt keine Szene!“, wiederholte sie.

„Szene!“, wiederholte er ebenfalls, erschüttert, weil er spürte, dass dieses oberflächliche Wort der Tiefe seiner Gefühle nicht entsprach.

„Ich geh mal zur Toilette!“, meinte nun Mike. „Ich denke, ihr beiden habt etwas miteinander zu bereden!“, sagte er in dem Ton, wie es Leute sagen, die alles richtig machen und alles richtig eingerichtet haben. Dann verschwand er.

„Szene?“, wiederholte Tom. „Warum sollte ich eine Szene machen? Wozu?“ Er dachte nach. „Du hast dich doch schon entschieden: Du hast dich für die guten Verhältnisse entschieden, eine weise Entscheidung. Was würde da ein Szene noch helfen?“

Sie widersprach nicht.

Sie sahen sich eine Weile in die Augen, dann ging er, weil er in ihren Augen gelesen hatte, dass sie sich tatsächlich entschieden hatte.



8


„Du trinkst?“, fragte Carl Jaspers, ein Freund Toms aus der Schulzeit, überrascht. „Ich dachte du trinkst keinen Alkohol, wegen deines Sports!“

„Da, da, dachte ich auch!“, lallte Tom lakonisch, nippte an seinem Cola-Asbach und glotzte stumpf vor sich hin.

„Hast ja schon ganz schön getankt, was?“

„Voll!“, brummte Tom verzweifelt.

Carl setzte sich zu ihm und bestellte eine Cola. „Ohne Asbach!“, knurrte er. „Ich muss noch fahren! Vielleicht auch noch Tom!“

„Witzig!“, antwortete Tom aggressiv, aber er wusste, dass Carl ein echter Freund war.

„Wegen Anne oder wegen deinem Vater?“, wollte Carl wissen und tat einen Schluck aus der Cola.

„Wegen beiden!“

„Denkt nur an sich, die Kleine, was? Weiber sind so!“, wusste Carl aus eigener Erfahrung.

Tom nickte.

Carl sah ihn traurig an. „Und mit dem Alten auch nichts zu machen, was?“ Er kannte die Problematik und das aggressive, dumme, sture und unbelehrbare Verhalten des Mannes. Er hatte ihn selbst schon so erlebt.

„Blöder, sturer Hund!“, kommentierte Tom.

„Dumm für dich!“

„Dumm?“ Tom schüttelte den Kopf. „Der Kerl ruiniert meine Existenz, meine Zukunft, meine Liebe, eigentlich mein ganzes Leben, nur wegen seiner Dummheit und seiner Sturheit. Und das nennt sich Vater und Familie!“

„Hab´s kapiert!“, meinte Carl. „Die Sturheit und die Dummheit von dem Alten bringt dich um deine Existenz und um deine Flamme.“

„Genauso ist es!“, begann Tom wieder. „Alle Ämter wollen die Informationen über unseren Hof übers Internet und mit computergestützten Listen. Alle Steuerungen auf dem Hof könnten über PCs laufen. Aber der Alte weigert sich, stellt sich einfach gegen alles. Wir brauchen moderne Maschinen für alle Arbeiten, weil wir mit Handarbeit nicht mehr nachkommen. Früher hattest du zehn Knechte und Mägde, heute will er, dass ich die Arbeit alleine schaffe. Der Kerl macht den Hof und mich kaputt!“

„Dein Vater begreift gar nicht, dass er mit seiner Haltung gerade das zerstört, was er vielleicht erhalten wollte“, sinnierte Carl.

„Ja! Ich glaube, dazu ist er auch zu dumm!“, rief Tom . „Und seine Liebe sowieso nicht!“

„Versteh ich gut!“ Carl tat wieder einen Schluck. „Musst halt warten!“

„Weißt du, wie lange ich schon warte?“

„Ich weiß!“

„Der Typ ist Alkoholiker, halbdement, ein Dummkopf und ein Schwein und er darf mein Leben ruinieren. Bis ich am Zuge bin, ist alles kaputt. Und das soll Recht sein?“

Carl war Rechtsanwalt von Beruf. „Da kannst du nichts machen. So lange er dir nichts überschrieben hat, gehört alles ihm und er kann damit machen, was er will. Wenn er tot ist, musst du schauen, was noch da ist, sonst kannst du nichts machen!“

„Und das soll Recht sein. Einer ruiniert alles und alle sehen zu?“

„Ist leider so!“

Tom überlegte. „Wie viel Jahre kriege ich, wenn ich ihn umbringe?“

Carl fuhr zurück. „Ohoho?“, rief er überrascht. „Das ist stark!“ Er lachte.

Aber Tom sah ihn ernst an. „Wie viel Jahre kriege ich, wenn ich ihn umbringe?“

„Lass den Unsinn!“

„Wieviel?“

„Mein Gott, du meinst es ja ernst!“

„Wieviel?“

„Na ja, du hast ja einen Vorsatz: Das heißt lebenslänglich, also mindestens 15 Jahre und dann wird geprüft, ob man dich wieder auf die Menschheit loslassen kann!“

„Das ist zu lang!“

„Na, Gott sei Dank!“

„Wie ist es, wenn ich ihn im Streit erschlage. Ich meine, dann ist es ja kein Vorsatz mehr, also kein Mord, Totschlag, glaube ich!“

Carl nickte. „Tom, bitte komm zur Besinnung!“

„Wie viele Jahre?“

„Vielleicht sieben, bei guter Führung weniger!“

„Na bitte, das ist schon besser. So lange muss ich eh noch warten, denke ich!“

„Tom, lass den Quatsch!“

„Und wenn ich es wie Notwehr aussehen lasse!“

„Du, als Taekwondoler und Notwehr gegen einen alten Mann?“

Tom sackte in sich zusammen.

„Lass den Unsinn!“, flehte Carl ihn an. „Das bringt alles nichts. Und du musst damit leben, dass du deinen Vater umgebracht hast.“

„Was heißt, musst damit leben? Darauf wäre ich stolz!“

Carl schüttelte den Kopf. „Was hältst du davon, wenn wir noch ein bisschen bei mir abfeiern und du bei mir übernachtest?“

Tom war zu betrunken, um Carls eigentliche Absicht zu erraten, nämlich, dass er Tom nicht in diesem Zustand mit seinem Vater zusammenstoßen lassen wollte.

„Gute Idee!“, meinte er und lächelte. „Feiern wir noch ein bisschen!“

Sie verließen das Lokal.

„Vielleicht käme dann auch Anne zu mir zurück, wenn mir endlich der Hof gehörte!“, überlegte er, als er in Carls Wagen stieg.



9


Auch am nächsten Tag war Tom aus Liebeskummer und aus Verzweiflung über das Verhalten seines Vaters von zuhause in die Dorfkneipe geflüchtet und hatte mehr getrunken als er wollte, jedenfalls mehr, als er vertrug. Nun saß er zusammengekauert am Tresen und starrte in sein Bierglas.

„Sieh an, wen haben wir denn da?“

Tom hörte eine Stimme neben sich und drehte sich danach um. Er erkannte Piet Stevens, einen Bauernsohn, der seinen Hof in der Nähe von Tom hatte. Tom schwieg und wandte sich wieder seinem Glas zu.

Er und Piet verstanden sich nicht nur nicht, es bestand eine alte Fehde zwischen den beiden Familien, niemand wusste mehr genau warum, es war um Land gegangen. Allerdings wussten noch alle, dass Toms Familie den Streit verloren hatte. Dieser Stachel saß noch heute tief und die Stevens vergaßen in keiner Generation, diese Wunde stets aufs Neue aufzureißen.

„Man schaue sich das an: Unser lieber Tom bei einem Glas Bier!“ Stevens ließ nicht locker und machte weiter Späße auf Toms Kosten. Er war mit einigen Freunden da, die Tom umringten und die sich ebenso auf seine Kosten amüsierten, wie die übrigen Gäste, die grinsend zu ihnen herüber sahen. „Sollte unser Tom doch ganz nach seinem Vater kommen. Man dachte, unser lieber Tom rührt keinen Alkohol an, aber da setzen sich doch wohl die Gene durch!“

Tom spürte Ärger in sich aufkommen, aber er fühlte sich schwach und Piet war ihm heute auch gleich. Also fiel er hilflos in sich zusammen. „Verpiss dich!“, meinte er nur und winkte ab.

„Oh, oh, oh, welch schlimmes Wort!“, rief nun Piet gekünstelt empört. Er drehte sich zu seinen Freunden und den anderen Gästen um. „Und das aus dem Mund eines so feinen und disziplinierten Menschen wie Tom.“ Er wandte sich wieder Tom zu und beugte sich zu ihm herunter. „Oder sollten wir uns in dir getäuscht haben?“

„Warum lässt du mich nicht einfach in Ruhe und gehst nach Hause zu deinen Schweinen. Da gehörst du hin!“, brummte Tom und nahm einen Schluck aus seinem Glas. „Zu denen passt du!“

Obwohl Piet den Streit begonnen hatte, zuckte er zusammen und man sah ihm an, dass er sich provoziert fühlte. „Da gehörst du vielleicht hin, du besoffenes Schwein!“, zischte er nun böse.

Tom sah ihn noch immer gleichgültig an. „Lass mich doch einfach in Ruhe, Piet!“, begann er langsam. „Warum feierst du nicht mit deinen Freunden und lässt mich in Ruhe. Ich habe keine Lust auf eine Unterhaltung mit so einer Schnarchnase wie dir!“ Tom dachte, dass die Unterhaltung damit beendet wäre und wandte sich an den Wirt. „Noch ein Bier, Hein!“

Da hatte er sich jedoch getäuscht. Obwohl Piet die Provokationen begonnen hatte, brodelte es in ihm mehr und mehr.

Einer seiner Begleiter trat auf ihn zu. „Lass den doch!“, meinte er. „Der hat doch schon genug. Tom hat Recht: Lass uns lieber feiern!“

Doch Piet warf ihm einen bösen Blick zu und schob ihn beiseite. Er überlegte krampfhaft, wie er Tom treffen konnte. „So ganz allein heute, Tom!“, begann er nach einer Weile wieder. „Bist doch sonst nicht allein!“

Er sah zu seinen Freunden, die nun wieder über beide Backen grinsten.

Tom hörte nur mit halbem Ohr hin und nahm einen Schluck.

„Warst doch in letzter Zeit immer mit Anne vom Krügerhof zusammen.“ Piet ging grinsend in der Kneipe auf und ab. „Man hat dich doch immer mit Anne gesehen. Da war doch was zwischen euch!“

Tom horchte nun auf und sah Piet ärgerlich an. „Warum lässt du mich nicht einfach in Ruhe, du Schwachkopf?“

Piet gab keine Ruhe. Er spürte instinktiv, dass er ein Thema gefunden hatte, mit dem er Tom erreichen und verletzen konnte.

„Ich wundere mich nur, warum Anne doch angeblich deine Freundin ist, dein einziger Freund heute Abend aber nur ein Glas Bier ist und …!“ Er machte eine Pause, in der es totenstill im Raum geworden war und sich auch die Mienen der Anwesenden versteinert hatten. „… und deine Anne mit dem Sohn des größten Bauern in der Gegend in der Disco abhängt. Da kommen wir nämlich gerade her.“

Tom sah ihn nun mehr enttäuscht als provoziert an.

„Saßen eng umschlungen auf einem Sofa im Halbdunkel der Disco, die beiden. Keine Ahnung, was die da gemacht haben?“ Er grinste immer noch sein breites, böses Grinsen.

Die anderen Gäste sahen gespannt zu, was geschah.

„Würde mich nicht wundern, wenn Mike ihr alles gezeigt hat, dort im Halbdunkel!“

Tom stand auf und stellte sich wankend vor Piet hin. Er schwieg jedoch, denn in ihm hatte sich eine tiefe Trauer breit gemacht. Er legte einen Geldschein auf den Tresen. „Stimmt so!“, meinte er und wandte sich zum Gehen.

Piet erkannte, dass es ihm noch nicht gelungen war, ihn zu provozieren. Plötzlich hielt er Tom am Arm fest und sah ihn böse an. „Mädchen entscheiden sich wohl nicht für solche Loser wie dich!“

„Lass mich los!“, lallte Tom hilflos und streifte die Hand von seinem Arm.

„Die Mädchen aus dieser Gegend entscheiden sich für Jungens mit großen Höfen und nicht so Klitschen wie eurer!“

Tom versuchte, an Piet vorbeizukommen, aber der packte ihn wieder am Arm.

„Mädchen aus dieser Gegend entscheiden sich nicht für Typen aus Säuferfamilien, sondern für anständige Menschen!“

Tom fühlte einen Stich im Herzen, reagierte jedoch noch immer nicht auf die Provokationen des Mannes. Er wollte nur weg von hier, wollte irgendwohin, wo er allein sein und trauern konnte, torkelte an Piet vorbei in Richtung Eingang.

Da stellte Piet ihm ein Bein und Tom fiel hin.

Alle lachten.

„Da muss wohl einer noch laufen lernen!“, kommentierte Piet wiehernd.

Tom versuchte aufzustehen, aber da gab ihm Piet einen Tritt in den Hintern, so dass er wieder zu Boden ging.

Schallendes Gelächter erfüllte den Raum.

Da kam Tom zu sich. Er vergaß seinen Schmerz, begriff die Situation, atmete tief durch, versuchte den Alkohol zu bekämpfen und sich zu konzentrieren. Er fühlte, wie er seinen Körper und seinen Geist unter Kontrolle bekam. Plötzlich schnellte er hoch und stand mit eingeknickten Knien in der Pferdstellung vor Piet.

Dieser schätzte die Situation völlig falsch ein. „Na, wohl noch etwas wacklig auf den Beinen!“; kommentierte er Toms Stellung, ohne zu ahnen, dass es sich dabei sowohl um eine sichere Verteidigungs- als auch eine gefährliche Angriffsposition handelte.

„Soll ich dir unter die Arme greifen?“, fragte Piet scheinheilig und näherte sich Tom, um ihn nochmals umzustoßen. „Du siehst so aus, als ob du gestützt werden müsstest!“

Wieder lachten die Anwesenden.

Es war für Tom ein Leichtes, den Angriff des Mannes mit einem Olgul-makki mit einer Hand abzuwehren.

Piet stutzte. „Willst wohl frech werden, du Null?“, fragte er ärgerlich. Er bemerkte nicht, dass es still im Raum geworden war, denn viele kannten Toms Taekwondo-Fähigkeiten. Piet dachte nicht daran und wollte Tom weiter provozieren. „Warte, ich zeig´s dir, du Lümmel!“, rief er wütend aus und wollte sich auf Tom stürzen.

Dieser wich mit einem Sprung zur Seite aus und verpasste nun seinerseits Piet einen Tritt in den Hintern, so dass dieser gegen den Tresen flog.

Es war totenstill in der Kneipe.

Piet raffte sich außer sich vor Wut auf, wandte sich Tom zu und sah ihn böse an. „Na warte! Jetzt bekommst du´s von mir knüppeldick!“ Damit stürzte er nach vorne und wollte nach Tom schlagen.

Ein leichter Mom-tong ap-chagi, ein Tritt in den Bauch, genügte, um Piet durch den Raum an die Wand zu schleudern.

Piet begriff immer noch nicht, dass er besser aufhörte und mit Tom nicht fertig werden würde. Er zog sich wieder hoch und stürzte sich wie wild auf Tom.

Dieser konterte mit einem Miro-chagi, einem geschobenen Tritt, auf Piets Nase.

Piet flog wie ein gefällter Baum nach hinten und krachte hart auf den Boden. Er hielt sich die Nase, die schrecklich blutete. „Du, du hast mir die Nase gebrochen. Das wird ein Nachspiel haben. Ich zeige dich wegen Körperverletzung an!“, bellte er Tom an.

„Ich denke, ihr Taekwondo-Kämpfer dürft eure Techniken nicht im Alltag einsetzen!“, fragte einer von Piets Freunden.

„Das war ganz schön mies von dir!“, meinte ein Anderer. „Das war ganz schön hinterrücks!“

„Ich, ich zeige dich an!“, schrie Piet wütend und versuchte, sich die Nase zu richten. „Ich zeige dich wegen Körperverletzung an!“

„Und wir sind Zeugen!“, knurrte einer von Piets Freunden.

Tom sagte nichts. Er sah in die von Wut verzerrten Gesichter der Männer. Da wandte er sich um und verließ die Kneipe.



10


„Ich muss mit dir reden, Vater!“, flehte Tom und tippte ihn am Oberarm, damit er ihn registrierte.

Dieser saß wie meistens am Abend betrunken am Küchentisch und da er schon sehr betrunken war, hatte er seinen Kopf bereits auf seine Arme gelegt. Leere Bierflaschen lagen auf dem Tisch, einige waren schon auf den Boden gerollt. Manchmal schlief der Vater hier seinen Rausch aus und schleppte sich erst in den frühen Morgenstunden ins Bett. Manchmal saß er auch da und hatte sich Klein oder sogar Groß in die Hose gemacht.

Tom hatte vorsichtig an ihm gerochen und festgestellt, dass es noch nicht so weit war. An der Anzahl der Flaschen wusste er, wie betrunken sein Vater war und entschied, dass er noch ansprechbar war. „Ich muss mit dir reden, Vater!“, versuchte er es nochmals, aber dieses Mal packte er den Kopf des Vaters und hob ihn hoch, so dass er ihm ins Gesicht sehen und mit ihm sprechen konnte.

Tatsächlich öffnete der Vater die Augen und stierte Tom an. „Was´n, was´n los?“, lallte er langsam und leise. „Kannst du deinen Vater nicht schlafen lassen, du Saukerl!“

„Vater, hör mir doch bitte mal zu!“, flehte Tom.

Der wollte seinen Kopf wieder auf seine Arme sinken lassen, aber Tom ließ ihn nicht los. Der Vater versuchte kurz, sich aus Toms Griff zu befreien, drehte seinen Kopf hin und her, gab aber schnell auf, als er merkte, dass ihm Tom keine Chance ließ. „Was willst du von mir?“, lallte er wieder und versuchte, die Augen offen zu halten. „Saukerl!“

Tom hielt sich nicht mit einer langen Vorrede auf, da er befürchtete, der Vater würde wieder einschlafen und könnte ihm dann nicht mehr zuhören. „Wir müssen die Sümpfe trocken legen, Vater! Wir müssen endlich die Sümpfe trocken legen!“, erklärte er.

„Quatsch!“, rief der Vater. „Lass mich mit dem Scheiß in Ruhe! Gar nichts machen wir.“ Wieder versuchte er sich aus Toms Griff zu befreien, dann schlug er mit der einen Faust nach ihm, aber Tom kannte ihn und war von seinem Taekwondo-Training Angriffe gewöhnt, so dass es für ihn ein Leichtes war, ihm auszuweichen. Sein Vater begriff, dass er keine Chance gegen ihn hatte und gab auf. So saß er einfach nur da und wartete darauf, dass ihn Tom losließ und er wieder schlafen konnte.

„Wir müssen endlich die Sümpfe trocken legen!“, schrie ihn Tom nun flehend an. „Wir müssen unsere Anbaufläche entscheidend erweitern, sonst sind wir nicht konkurrenzfähig und müssen aufgeben!“

„Unsinn!“, erwiderte der Vater langsam. „Kostet doch alles zu viel!“

„Wir müssen entscheidend expandieren, Vater!“, versicherte Tom weiter. „Du weißt, dass wir sonst nicht mehr existieren können.“ Er holte Luft, weil er seinem Vater nochmals alles erklären wollte, obwohl er wusste, dass es sinnlos war. „Wir befinden uns in einer weltweiten Konkurrenzsituation. Der Weltmarkt bestimmt die Preise. Die Verbraucher fragen nicht danach, woher die Ware kommt, sie wollen alles nur möglichst billig. Geiz ist geil. Und wir können nicht so günstig produzieren, wie die Großfarmen in anderen Ländern. In Südamerika, in Amerika, in Australien, überall auf der Welt gibt es Farmen, die hundert Mal so groß sind wie unsere. Da können wir vielleicht nicht mal mithalten, wenn wir vergrößern!“

„Na also. Ist doch eh alles sinnlos. Was willst du dann?“, meinte der Vater.

„Aber wenn wir es nicht versuchen, können wir aufgeben!“

„Wenn schon!“

„Aber es geht um meinen Arbeitsplatz. Und um mein Erbe!“

„Du willst also, dass ich sterbe! Sieh an!“ Er öffnete die Augen und sah Tom böse an.

„Quatsch!“, rief der laut auf, obwohl er sich schon oft den Tod des Vaters gewünscht hatte. „Ich möchte alles erhalten. Meine Arbeitsstelle, den Hof, das ist doch auch dein Lebenswerk und das deiner Vorfahren!“

Der Vater sah ihn fragend an. „Ich glaub dir kein Wort!“, meinte er dann. „Lass mich jetzt schlafen!“

Wieder versuchte er, seinen Kopf auf die Arme zu legen, aber Tom ließ nicht locker. „Wir müssen die Sümpfe trockenlegen, dann können wir unsere Anbaufläche entscheidend vergrößern. Zusätzlich bauen wir einen Stall für tausend Schweine, die wir von unserer eigenen Fläche versorgen können. Dann haben wir eine Chance. Wenigstens für die nächste Generation. Was dann kommen wird, weiß eh niemand!“

„Wozu das alles?“, fragte der Vater nun fast mit nüchterner Stimme. „Es ist doch eh alles umsonst!“

„Für dich vielleicht, aber nicht für mich. Denk doch auch mal an mich!“

Der Vater sah ihn fragend an und schwieg.

„Ich habe hier ein Prospekt mit Pumpen, mit denen ich die Sümpfe trockenlegen kann. Ich brauche zehntausend Euro. Bist du bereit, das Geld zu investieren? Bezahlst du die Rechnung, wenn ich die Geräte bestelle?“

Der Vater grinste ihn frech an. „Ich investiere nur noch in das!“, erklärte er, deutete auf die Bierflasche und nahm einen Schluck daraus. „Ich investiere in sonst gar nichts.“ Er grinste Tom weiter an. „Du musst schon warten, bis ich tot bin, damit du an mein Geld kommst. Und das kann noch dauern. Ich will hundert Jahre alt werden, wie mein Großvater!“

„Der hat aber nicht so gesoffen wie du!“, konterte Tom.

„Willst du frech werden, du Saukerl!“, brüllte der Vater Tom an und Geifer spritzte ihm ins Gesicht. Wieder versuchte er, Tom zu schlagen, aber wieder war es ein Leichtes für ihn, dem Schlag auszuweichen.

Tom sah ein, dass es sinnlos war. Da ließ er seinen Vater los und dessen Kopf plumpste auf seine Arme.

Er murmelte noch kurz etwas Unverständliches, dann war er eingeschlafen.

Tom saß nachdenklich da und betrachtete ihn noch eine Weile.



11


„Auf Wiedersehn, Mama, ich muss jetzt gehen, der Bus kommt schon!“

Sofia deutete die Straße hinunter, wo ein Bus in Richtung der Bushaltestelle, die gleich neben Sofias Elternhaus war, fuhr.

„Musst du denn wirklich, Sofia?“, fragte der Vater. „Wir schaffen es doch auch so, meinst du nicht?“ Er sah sie traurig und hilflos an.

„Ach, Papa, das haben wir doch schon tausend Mal besprochen!“, erwiderte Sofia. „Niemand von uns hat Arbeit, wir haben kaum genug zu essen, geschweige denn, dass wir uns sonst etwas leisten können. Wir haben nicht einmal genug Geld, um unser Haus in Stand zu halten.“ Sie zeigte auf das Dach, durch das es bei starkem Regen bis in die Zimmer regnete.

„Ja, ja, das haben wir nicht!“, bestätigte der Vater und senkte enttäuscht den Kopf. „Ich kann nicht für meine Familie sorgen und kann ihr nicht einmal ein ordentliches Heim bieten!“

Sofia nahm ihren Vater in den Arm und drückte ihn. „Papa, bitte, so habe ich es doch nicht gemeint!“

„Ich weiß“, bestätigte der Vater. „Aber es tut trotzdem weh!“

Sie gab ihm einen dicken Kuss. „Ich werde in Deutschland Arbeit finden, ich schicke euch viel Geld, ihr könnt gut leben und alles in Ordnung bringen, ich spare auch ordentlich etwas und sobald ihr hier für mich eine Arbeit gefunden habt, komme ich zurück. Das ist doch ein guter Plan. Ich gehe doch nicht für immer!“, rief sie lachend, obwohl auch sie den Tränen nahe war.

„Ja“, meinte die Mutter leise. „Hoffentlich kommst du bald wieder!“

„Versprochen!“, meinte Sofia. „Aber ich muss jetzt gehen!“

Der Bus passierte gerade die kleine Gruppe vor Sofias Elternhaus und hielt mit quietschenden Reifen auf der gegenüberliegenden Straßenseite an.

Sofia drückte und küsste nochmals alle, die Mutter, den Vater, die Geschwister. Dann sah sie sie noch einmal lange an, so als wollte sie sicherstellen, dass sie dieses Bild niemals vergessen würde. Die Mutter fing an, zu weinen. Da wusste Sofia, dass es Zeit war, sich loszureißen, sonst würde sie es nicht schaffen, zu gehen. Ohne weiteres Wort rannte sie über die Straße, war im nächsten Moment eingestiegen und suchte sich einen Fensterplatz, damit sie ihrer Familie nochmals winken konnte.

Dann fuhr der Bus ab.



12


„Hallo, Tom!“, rief der Postbote und hielt sein Postauto neben der Wiese an, auf der Tom gerade Bogenschießen übte und rief ihn durch die geöffnete Fensterscheibe zu sich.

Das Bogenschießen war neben dem Taekwondo und dem Motorradfahren Toms drittes großes Hobby. Gerne wäre er auch geflogen, aber er wusste, dass er niemals das Geld dafür haben würde.

„Hallo, Freddy!“, begrüßte Tom den Postboten, unterbrach sein Training und ging zu ihm hin. Sie kannten sich schon lange und waren Freunde.

„Heute mal nicht Taekwondo?“

„Es gibt auch noch was Anderes!“, lächelte Tom.

„Aber im Taekwondo hast du dir schon einen Namen gemacht!“, erinnerte der Postbote Tom. „Bezirksmeister und dritter auf Landesebene, das ist schon was.“ Er hob beratend die Hände. „Ich würde schauen, dass ich mich da noch verbessere. Vielleicht wirst du ja noch ein ganz Großer. Hier auf dem Hof kannst du es eh zu nichts bringen. Dein Alter lässt doch alles verfallen!“

Tom verzog verärgert die Miene und schwieg.

Der Postbote bemerkte es. „Tschuldigung, wollte dich nicht beleidigen, Tom. Ich denke, du weißt, dass ich es gut mit dir meine!“

Tom nickte. „Das schon, Freddy.“ Er machte eine kleine Pause. „Tut halt verdammt weh, was du sagst, auch wenn´s wahr ist!“ Er begann die Post zu öffnen.

„Tja, die Wahrheit tut manchmal verdammt weh!“, überlegte der Postbote. „Da fragt man sich, ob es besser ist, wenn man sie nicht weiß oder hört!“, sinnierte er. „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß!“

„Verdammt, verdammt, verdammt!“, schimpfte Tom plötzlich laut und stampfte auf den Boden.

„Was Unangenehmes?“

„Das kannst du laut sagen!“, rief er enttäuscht aus. „Nur Unangenehmes!“

„Na ja, da fahr ich mal lieber weiter!“, meinte der Postbote. „Geht mich ja nichts an.“

„Kannst du ruhig hören!“, rief Tom wütend. „Hier, das ist eine Absage von der Bank. Die geben mir keinen Kredit, obwohl sie genau wissen, dass mein Alter genug Kohle hätte, um den Hof zu sanieren und die Sümpfe, du weißt ja, mein eigentlicher Plan …!“

„Ja, du und deine Sümpfe!“ Alle im Dorf wussten Bescheid.

Tom sah ihn kurz böse an, begriff aber, dass er wie alle anderen auch Recht hatte. „Ja, jedenfalls gibt mir die Bank keinen Kredit für das Projekt, obwohl mein Vater zehntausende von Euros bei ihr hat!“

„Dein Vater ist dein Vater und du bist du. Wer weiß, wie der sein Geld noch verschleudert, so wie der säuft. Das sind keine Sicherheiten. Und du bist ein armer Schlucker und hast nichts.“

„Danke!“, meinte Tom lakonisch, wusste aber, dass Freddy Recht hatte.

„Bitte!“, konterte der ebenfalls trocken.

„Und der andere Brief ist auch nicht besser!“, fuhr er Tom fort.

„Schlimmer kann´s doch gar nicht kommen!“, schätzte der Postbote.

„Denkste!“, schimpfte Tom nun ratlos. „Post vom Staatsanwalt. Ich hab `ne Anzeige wegen Körperverletzung am Hals. Wegen der Schlägerei in der Kneipe. Da geht es mir sicher an den Kragen. Dass mich das Schwein provoziert hat, interessiert doch keinen!“ Er sackte in sich zusammen.

„Du hättest den Kerl halt auch nicht zusammenschlagen dürfen!“, wusste Freddy. „Das ist in unserem Land verboten!“

„Danke für den Sozialkundeunterricht!“

„Obwohl ich auch manchmal der Meinung bin, dass es manchem gut täte, wenn er mal eine auf´s Maul bekäme!“, versuchte er, ihn aufzurichten.

„Das hilft mir überhaupt nicht!“, wusste Tom. „Ich werde verurteilt werden und wenn ich Pech habe, komme ich in den Knast.“ Er dachte nach. „Ich komme sicher in den Knast. Wenn der Richter hört, dass ich Kampfsport mache, dann bin ich sicher im Knast. Das ist Grundvoraussetzung bei Kampfsportlern, dass man sich nicht hinreißen lässt oder Vorteil aus seinem Können zieht. Da habe ich keine Chance. Ich bin so sicher wie das Amen in der Kirche im Knast!“ Er stand mit gesenktem Kopf vor Freddy. „Am besten wäre es, ich würde abhauen!“

„Gute Idee!“, meinte Freddy. „Und stell dir vor, da hab ich was für dich!“

Tom horchte auf.

Freddy hielt ihm einen Zeitungsausschnitt hin. „Die suchen Arbeiter in der Stadt. Die Bezahlung ist gar nicht so übel. Ich hab selbst schon darüber nachgedacht, ob ich`s mache. Aber du weißt ja, ich muss mich um meine Mutter kümmern!“

Tom nahm hilflos den Zeitungsausschnitt und las ihn. „Danke, Freddy!“, meinte er dann. „Ich denke drüber nach!“

Dann verabschiedeten sie sich, Freddy fuhr davon und Tom blieb noch eine Weile ratlos stehen.



13


Alwina und Sofia stiegen aus dem Bus aus und sahen sich um. Alwina zog den Zettel mit der Adresse aus der Tasche und las. „Wir müssen dahin!“, meinte sie dann und zeigte in die Richtung. „Nach ungefähr hundert Metern geht es dann rechts hinein. Da ist das Reisebüro und da muss unser Bus losfahren. Mal sehen, was da auf uns zukommt!“, grinste sie Sofia an.

„Sicher nichts Gutes!“, meinte Sofia ängstlich.

Alwina lachte. „Natürlich befürchtest du wieder das Schlimmste, du alte Pessimistin!“

„Ich bin keine Pessimistin!“, empörte sich Sofia.

Alwina sah sie nachdenklich an. „Nein, wahrscheinlich nicht!“, nickte sie. „Aber, man muss dich kennen, um dich zu verstehen.“

„Das ist bei dir nicht anders!“, rief Sofia ärgerlich.

„Wahrscheinlich!“, lachte da Alwina laut los. „Los, machen wir, dass wir unseren Bus kriegen!“ Damit lief sie in Richtung des Reisebüros und Sofia folgte ihr.

Gleich darauf waren sie an der Ecke und bogen in einen Hof. Dort blieben sie mit offenem Mund stehen. „Was, was ist denn das?“, entfuhr es Alwina.

Vor ihnen lag ein schmutziger, enger Hinterhof, umgeben von grauen, zerfallenden Häusern. Bei einigen waren die Fensterscheiben eingeschlagen. In der Mitte des Hofs stand ein Tanklastwagen, davor warteten einige Personen in einer Schlange, die von einem Mann in Richtung des Wagens dirigiert wurden.

„Wollt ihr auch mit?“, fragte die beiden Mädchen ein Mann, der am Eingang des Hofes an einem kleinen Tischchen saß, auf dem eine geöffnete Geldkassette stand.

„Was, was ist denn das?“, fragte nun Sofia halblaut.

Alwina sah sie grinsend an und deutete auf den Mann. „Das ist wohl unser Reisebüro.“ Dann zeigte sie auf den Tanklastwagen. „Und das ist wohl unser Bus.“

„Wie bitte?“ Sofia war sprachlos.

„Wollt ihr nun mit oder nicht?“, knurrte der Mann sie an.

„Wir wollen mit!“, entschied Alwina schnell, bevor es sich Sofia anders überlegen konnte und trat an das Tischchen.

Der Mann nannte den Preis und Alwina bezahlte.

Danach kam Sofia dran.

Der Mann machte den beiden einen Stempel auf die Hand. „Stellt euch jetzt in der Schlange an.“

Die beiden Mädchen stellten sich an und waren schließlich an der Reihe.

„In der Annonce war von einem Bus die Rede, nicht von einem Tanklastwagen“, beschwerte sie sich vorsichtig.

„Keine Angst!“, meinte der Mann, der sie durch eine kleine Öffnung im Tanklastwagen hineinschleuste. „Der Wagen ist innen ganz komfortabel ausgebaut. Bisher haben alle überlebt!“, lachte er. „Glaub ich jedenfalls.“

„In der Annonce war von einer Busreise die Rede!“, ließ Sofia nicht locker.

„Bist du so naiv oder tust du nur so?“, fragte der Mann ehrlich überrascht. „Du machst hier nicht Urlaub, sondern du reist illegal nach Deutschland ein und willst dort illegal bleiben, um dir eine goldene Nase zu verdienen. Meinst du, wir können das in die Annonce schreiben. Aber das muss dir doch Alex am Telefon alles erklärt haben?“

„Na ja, wenn man zwischen den Zeilen lesen oder besser zwischen den Worten hören kann, dann konnte man das verstehen, das ist wahr“, gab Alwina zu.

„Illegal?“, fragte Sofia entsetzt. „Ich will nichts Illegales machen. Warum ist denn das illegal?“

„Das ist illegal, weil du als Nicht-EU-Bürger nicht in Deutschland arbeiten darfst. So einfach ist das!“

„Aber, aber ich dachte, die Deutschen brauchen uns!“, rief sie empört aus.

„Das tun sie auch!“, wusste der Mann. „Sie brauchen billige und leistungswillige Arbeitskräfte, weil sie selbst zu hohe Löhne haben und nur noch feiern und nicht arbeiten wollen. Und sie haben auch viel zu wenig eigenen Nachwuchs und der will auch nichts arbeiten. Klar, die brauchen dich schon. Aber offiziell wollen sie dich nicht haben, denn dann kostest du genauso viel wie die Deutschen und dann rentiert sich die Sache nicht mehr!“

„Das ist ja kriminell!“, rief Sofia empört aus.

Bei dem Wort „kriminell“ zuckte der Mann zusammen. „Wollt ihr jetzt mit oder nicht?“, brummte er plötzlich böse.

„Ja, natürlich!“, meinte Alwina schnell und schob Sofia durch eine kleine Öffnung in das Innere des Tanklastwagens. Gleich darauf befanden sie sich in einem von einer Glühbirne schwach beleuchteten, stinkenden und völlig überfüllten Raum und setzten sich auf eine der Holzbankreihen, die den ganzen Tanklastwagen ausfüllten. Wenige Minuten später ging die Fahrt los.



Die Sümpfe

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