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In der Fremde

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Es erschien Sofia wie eine Unendlichkeit, so lange dauerte ihr Aufenthalt in dem Tankwagen. Es stank nach den Exkrementen der Passagiere, die ihre Geschäfte in aufgestellte Eimer, die hinter einem Vorhang verborgen waren, erledigt hatten. Sofia und die anderen kauerten eng zusammengepfercht auf ihren Bänken, sie konnten nur einmal kurz aufstehen, herumlaufen war unmöglich, so dicht waren die Bänke angebracht und so weckte man eine ganze Reihe von Leuten auf, wenn man zur Toilette musste, was diese stets mit wilden Flüchen quittierten. Aber es konnte eh niemand schlafen, alle dämmerten nur in einer Art Halbschlaf vor sich hin. Der Geruch nach Körperschweiß wurde vom Gestank ihrer Fäkalien überdeckt.

„Wie lange denn noch?“, fragte Alwina manchmal, wohl wissend, dass es niemand wusste und dass ihr Martyrium nicht schneller vorüberging, wenn sie nach dessen Dauer fragte.

Sofia antwortete ihr deshalb auch nicht.

„Hoffentlich kommen wir überhaupt lebend an!“, bemerkte jemand plötzlich aus dem Halbdunkel. „Hoffentlich haben sie eine gute Lüftung eingebaut, damit wir nicht ersticken!“

Sofia und Alwina erwachten schlagartig aus ihrer Lethargie und lauschten und spähten in die Dunkelheit.

„Manchmal bringen sie Arbeiter gar nicht nach Deutschland!“, wusste noch jemand. „Sie lassen die Wagen einfach stehen und die Leute sterben, wenn sie nicht gefunden und von irgendjemandem befreit werden!“

Sofia und Alwina wurde es immer mulmiger zumute und von da an war es ihnen nicht einmal mehr möglich, vor sich im Halbschlaf hinzudämmern. Sie lauschten gespannt auf alle Geräusche, die sie hörten. Dann übermannte sie die Müdigkeit und sie schliefen ein.

Sie wurden aus ihrem Erschöpfungsschlaf gerissen, als der Tankwagen plötzlich anhielt und der Motor abgestellt wurde.

„Wir sind da!“, kommentierte jemand im Wagen und da waren alle hellwach.

Wirklich hörte man nun die Stimmen von mehreren Männern und gleich darauf wurde die Türe geöffnet. Es war Nacht draußen, aber grelles Scheinwerferlicht beleuchtete einen asphaltierten Platz, auf dem der Tankwagen geparkt hatte.

„Alles aussteigen, die Herrschaften!“, rief ein Mann lakonisch auf Deutsch. Sofia verstand ihn zwar nicht, aber da die anderen Passagiere nach draußen drängten, folgte sie ihnen und Alwina, die vor ihr in der Schlange hinausgeschoben wurde.

Gleich darauf standen sie auf einem Platz und Sofia versuchte im grellen Licht mehrerer Scheinwerfer, zu erkennen, wo sie war. Sie standen in einem kleinen Hinterhof, der von mehreren, hohen Gebäuden umgeben war. Es schien ihr, als würde sie von den Mauern der Häuser erdrückt zu werden.

Sie hatte keine Zeit darüber nachzudenken. „Los mitkommen!“, befahl nun ein Mann und sie folgte ihm mit den anderen. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie den Fahrern des Tanklastwagens etwas übergeben wurde, sie nahm an, dass es Geld war und noch während sie über den Hof gingen, stiegen die Männer wieder in ihren Wagen und fuhren davon.

Gleich darauf befand sie sich mit den anderen in einem riesigen Schlafsaal. Ein Mann erklärte ihnen, dass sie auf den Pritschen schlafen mussten, dass sie sich einen Spind an der Wand für ihre Sachen aussuchen mussten und auf jeden Fall abschließen und den Schlüssel gut verwahren sollten, zeigte ihnen den Duschraum und die Toiletten, schließlich eine kleine Kantine.

„Schrecklich!“, flüsterte Sofia.

„Wieso?“, meinte Alwina. „Zu Hause sind die Sanitäreinrichtungen auch nicht besser.“

Sofia musste zugeben, dass sie Recht hatte.

„Ihr bekommt von uns drei Mahlzeiten am Tag …“

„ … die ihr uns zu Höchstpreisen vom Lohn abzieht!“, murmelte Alwina, die in der Schule Deutsch belegt hatte.

„Wenn ihr mehr zu essen wollt oder mal was anderes, dann müsst ihr es euch an unseren Automaten ziehen!“

„Zu Höchstpreisen, versteht sich!“, wusste Alwina.

Sofia hoffte, dass niemand Alwinas Einwürfe hörte, damit sie nicht schon am Anfang Ärger bekämen.

Aber der Mann war so mit seinen Erklärungen beschäftigt, dass er sonst nichts mitbekam.

„So!“, meinte er schließlich. „Morgen werdet ihr in die Arbeit eingewiesen. Dann wünsche ich euch jetzt eine gute Nacht!“ Damit ließ er die Gruppe alleine.

Die Menschen verteilten sich im Schlafraum, verstauten ihre Sachen in einem der Spinde, suchten sich ein Bett neben ihren Freunden oder Bekannten und legten sich schließlich schlafen. Als alle im Bett waren, löschte jemand das Licht und sie fielen in einen tiefen Ermüdungsschlaf.



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„Ich bring mal schnell den Müll raus!“, sagte Tom, schnappte sich einige der vollen Plastiksäcke, schulterte und schleppte sie durch die Fabrikhalle vorbei an ratternden Maschinen, schwitzenden Arbeitern und stinkenden Schweinekörpern zum Hinterausgang. Er war für die Beseitigung von Tierabfällen verantwortlich. Er suchte sich den Weg vorbei an den hängenden Schweinehälften, den Arbeitstischen und Fließbändern. Gleich darauf war er draußen. Er blieb einen Augenblick stehen, atmete tief durch und genoss die kalte, wenn auch nicht saubere Luft. „Verdammter Gestank!“, schimpfte er.

Er hatte Arbeit im Schlachthof gefunden, aber es fiel ihm schwer, sich an den Lärm und die stickige, stinkende, schwülwarme Luft zu gewöhnen.

Nun trug er die Müllsäcke eine Treppe hinunter in den Hinterhof, wo riesige Container auf den Müll warteten. Er warf die Säcke hinein und hielt einige Minuten inne, wobei er wieder die frische Luft einsog.

„Mach, dass du wieder raufkommst!“, rief plötzlich eine Stimme hinter ihm.

Tom fuhr herum.

Der Schichtführer stand oben an der Treppe und zeigte mit dem Finger auf ihn. „Du bist zum Arbeiten eingestellt, nicht zum faul herumstehen und frische Luftschnappen!“

„Ich, ich bringe doch nur den Müll raus!“, entschuldigte sich Tom, obwohl er wusste, dass der Mann Recht hatte.

„Du musst schon die Säcke voll machen! Du rennst ja dauernd mit halbleeren Säcken runter.“

„Ich soll doch den Müll rausbringen!“, verteidigte sich Tom kleinlaut.

Der Vorarbeiter schüttelte den Kopf. „Quatsch! Du rennst dauernd unter dem Vorwand raus, den Müll runterbringen zu wollen. Aber in Wirklichkeit drückst du dich vor der Arbeit. Du erfüllst nicht das, wofür du bezahlt wirst, Tom! Wenn das so weiter geht, werde ich dich rauswerfen müssen. Dann stehst du ohne Arbeit da. Das willst du doch nicht, oder?“

Tom schüttelte den Kopf und ging die Treppen nach oben zu dem Schichtführer. Er blieb bei ihm stehen. „Kommt nicht wieder vor!“, versprach er.

„Ich fürchte doch!“, wusste der es besser.

Tom sah ihn fragend an. „Wie meinen Sie das?“

„Du kommst mit den Arbeitsbedingungen nicht so gut klar, stimmt´s?“

Tom nickte mit einem Anflug von Traurigkeit.

„Du kommst doch vom Bauernhof, da habt ihr sicher auch geschlachtet. Da musst du doch die Schlachterei gewöhnt sein. Das kann dir nichts ausmachen, dachte ich“, meinte der Schichtleiter.

„Nein, nein, das ist es nicht“, bestätigte Tom. „Aber ich komme vom Land und habe mein Leben lang draußen verbracht. Und nun das hier: Der Gestank und die Hitze und man darf kein Fenster öffnen. Und dann noch alles zusammen. Da muss ich mich erst noch dran gewöhnen“, erklärte er mit gesenktem Kopf. Dann sah er den Schichtführer schnell an. „Aber ich werde mich schon dran gewöhnen!“, versprach er.

„Da bin ich mir nicht so sicher!“, entgegnete der Mann.

„Doch bestimmt!“, versicherte Tom. „Ich bin jung und gesund. Das schaffe ich schon!“

„Das glaube ich dir gerne!“ Er sah Tom kritisch an. „Ich frage mich, ob du es wirklich willst!“

Tom nickte, weil er wusste, dass der Mann Recht hatte. „Ich werde es versuchen, bestimmt!“

„Ja!“, meinte der Mann nachdenklich.

„Ich brauche das Geld!“

Der Schichtführer schwieg kurz und überlegte, warum sich dieser starke und kluge Junge das antat. „Eine Chance bekommst du noch, Tom!“ Er sah ihn nachdenklich an. „Sonst muss ich dich entlassen. Auch wenn ich dich verstehe.“

„Danke, Chef!“, meinte Tom und eilte zurück an die ungeliebte Arbeit.



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„Du musst schon schneller arbeiten!“, rief die Aufseherin Sofia zu und sah sie mit strengem Blick an. „Und ordentlicher! Das ist alles zu unsauber verarbeitet, alles zu ungenau. Das ist einfach nicht brauchbar, damit kann man nichts anfangen!“

Sofia saß an einer Nähmaschine und sah verlegen und auch verängstigt zu ihr auf.

„Du hast doch wie alle andern eine genaue Einweisung erhalten, oder warst du da etwa krank?“

„Ich nicht krank!“, rief Sofia in gebrochenem Deutsch.

„Ach, die Neuen, die verstehen doch gar nichts!“, rief die Aufseherin ärgerlich. „Da gibt man euch die beste Einweisung, die man sich vorstellen kann und dann habt ihr doch nichts kapiert, weil ihr die Sprache nicht versteht.“ Sie hielt inne und sah Sofia wieder streng an.

„Nicht krank!“, wiederholte Sofia, obwohl sie ahnte, dass sie damit gar nicht das Problem traf, das die Aufseherin ansprach.

Diese trat an die Nähmaschine heran, riss den Stoff heraus und hielt ihn Sofia hin. „Ungenau, unsauber, unbrauchbar! Du musst dir schon mehr Mühe geben! Du musst schon genauer arbeiten!“

Sofia verstand und nickte ängstlich.

„Du bist hier nicht in Albanien, sondern in Deutschland. Da musst du genau und sauber arbeiten, hörst du?“ Sie begann, alles was Sofia genäht hatte, wieder aufzutrennen.

Sofia nickte und schlug die Augen verlegen nieder.

Da sah sie die Aufseherin mit einem bedauernden Blick an. Dann drückte sie ihren Kopf mit ihrer Hand nach oben und lächelte sie an. „Na komm, ich werde dir nochmals zeigen, wie es geht. Du bist ja erst seit wenigen Tagen da. Ich kann es zwar nicht so gut, wie der Mann, der es euch erklärt hat. Das war nämlich ein echter Modeprofi. Aber vielleicht hilft ja ein bisschen Einzelunterricht!“ Sie zog sie von ihrem Stuhl herunter und setzte sich selbst an die Nähmaschine. „Schau, so geht das!“

Sofia stand aufmerksam daneben.

Die Aufseherin führte ihr ganz langsam vor, wie sie es machen sollte und sah bei jedem Arbeitsschritt zu ihr, um sich zu vergewissern, ob sie aufpasste und es verstanden hatte.

Sofia beobachtete sie genau und nickte jedes Mal, als sie zu ihr zur Kontrolle hochsah.

Schließlich übergab die Aufseherin die Nähmaschine wieder an sie und Sofia setzte sich an die Arbeit.

„Na also! Das ist ja schon viel besser, das ist ja schon brauchbar. Weiter so!“, beurteilte die Aufseherin nun ihre Arbeit und klopfte ihr auf die Schulter.

Sofia sah sie dankbar an, dann arbeitete sie weiter.


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„Wo, wo bin ich?“, stammelte Tom und sah sich verwirrt um.

„Du dich kurz schlafen gelegt, du Weichei!“, rief ein Mann und lachte laut auf. „Du schnell wieder an Arbeit, du Faulpelz!“

Tom erkannte die Stimme des Mannes, mit dem er an einer Maschine arbeitete und die Schweinehälften weiter zerlegte. Sein Name war Nicolai und er kam, wie die meisten der Arbeiter, aus Rumänien.

„Am besten du gehst wieder an die Arbeit!“, wies ihn ein anderer Mann zurecht.

Wie durch einen Schleier erkannte Tom den Schichtleiter vor sich und dahinter einige Schlachter.

„Aber Faulpelz muss auch kommen!“, warf Nicolai in gebrochenem Deutsch ein. „Ich mache schon ganze Zeit Arbeit von dem Kerl mit!“

„Verschwinde!“, wies ihn der Schichtleiter nochmals zurecht.

Tom war inzwischen wieder klar im Kopf. Er erkannte, dass er auf dem Boden lag, bemerkte die Blicke der Arbeiter und sprang deshalb schnell auf. Wieder wurde ihm kurz schwindelig.

„Was, was war los?“

„Du bist wohl ohnmächtig geworden und hingeflogen!“, erklärte der Schichtarbeiter.

„Verdammt, verdammt!“, ärgerte sich Tom. Er begriff, dass er wohl die Produktion durch seine Ohnmacht behindert hatte. „Kommt nicht wieder vor!“, versicherte er und wollte an die Maschine.

„Sollte es nicht, sonst bist du hier raus.“

„Kommt nicht wieder vor!“, versicherte Tom.

„Ich bin mir nicht so sicher!“, schätzte der Schichtleiter. „Geh mal zum Arzt und lass es abklären!“

„Tue ich!“, versprach Tom und wollte an ihm vorbei.

„Ich weiß, du brauchst das Geld!“, erklärte ihm der Schichtleiter. „Aber ganz ehrlich: Du kostest uns Geld. Das kann ich nicht mehr lange so zulassen!“

„Verstehe!“, meinte Tom und ging an die Arbeit.



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„Sieh nur, wie viel Geld ich im ersten Monat verdient habe!“, rief Sofia freudig aus, setzte sich auf Alwinas Schlafpritsche, die wie die ihre im großen Schlafraum der Organisation stand und zeigte ihr die Scheine.

„Ja, es ist viel Geld, aber wenn sie uns nicht einen großen Batzen für das Essen, Trinken, Wasser, Strom und dieses komfortable Bett …!“ Sie zeigte mit leicht verärgertem Blick auf ihr Notbett. „… abgezogen hätten, wäre es noch um einiges mehr!“

Sofia dachte nach. „Natürlich, da hast du Recht. Ich habe es auch nachgerechnet. Das Essen und die Unterkunft sind wirklich schlecht. Und sie haben dafür viel Geld berechnet. Das stimmt schon. Aber es bleibt doch noch eine schöne Summe übrig. Ich habe jedenfalls viel mehr verdient, als ich dies in Albanien hätte tun können. Ich kann meiner Familie tatsächlich eine schöne Stange Geld schicken. Es ist so, wie versprochen. Ich kann meine Familie so unterstützen, dass sie es viel besser hat als vorher. Es ist alles so eingetreten, wie versprochen! Und die Arbeit ist sicher. Man braucht uns hier. Niemand wirft uns raus, solange wir unsere Arbeit erfüllen.“

„Nur wenn wir krank werden, dann wirst du ganz schnell mit dem nächsten Tanklastwagen nach Hause geschickt. Und für unsere Rente wird auch nicht gesorgt. Ist halt alles illegal hier!“

„Sonst würden wir keine Arbeit bekommen, Alwina. Wir kriegen die Arbeit doch nur, weil sie die Waren mit uns billiger produzieren können. Du solltest nicht alles so schlecht sehen! Dann fällt es dir hier auch leichter.“

„Das ist wahr, ja!“, bestätigte Alwina.

„Meine Eltern legen in Albanien sogar noch etwas Geld für mich auf`s Sparbuch, so dass ich nach ein paar Jahren etwas Geld gespart habe und heiraten kann. Es ist alles so, wie ich es mir erträumt habe. Oder es kommt noch alles so!“ Sofia sah sie freudestrahlend an.

„Und in der Zwischenzeit leben wir hier eingepfercht wie Tiere unter schlechtesten Bedingungen!“

Sofia schüttelte den Kopf. „Ach, das geht doch auch. Das ist eben eine Unterkunft für Arbeiter. Da ist doch manche Wohnung zuhause schlechter. Und die hast du dein ganzes Leben. Das hier machst du doch nur ein paar Jahre!“

„Na ja, es sind meine Jugendjahre, weißt du?“, maulte Alwina weiter, aber schon leiser und nachdenklicher.

„Es wird vorübergehen und wir werden Geld haben, viel Geld für unsere Verhältnisse!“

Alwina nickte und sah Sofia dankbar an. Dann fiel ihr Blick hinaus auf den Hof, wo in der Abendsonne einige Frauen vorübergingen. „Die haben es gut!“, meinte sie. „Die machen wirklich Geld!“

Sofia folgte ihrem Blick und sah ebenfalls hinaus. „Das sind wohl Deutsche? Die gehen jetzt nach Hause.“

Alwina nickte.

„Was meinst du damit, dass die viel Geld machen? Die arbeiten wohl richtig und nicht schwarz, also mit Krankenversicherung und Rentenversicherung?“

„Nein!“, schüttelte Alwina den Kopf und verzog verbittert ihr Gesicht. „Die da draußen, die kassieren doppelt ab!“

„Doppelt?“

„Ja!“, meinte Alwina. „Die sind eigentlich alle arbeitslos. Die kriegen also zum einen Sozialhilfe vom Staat und ihre Wohnung und alles wird extra bezahlt. Und natürlich sind die auch kranken- und rentenversichert. Alles bestens vom Staat erledigt. Und zum Dank dafür arbeiten sie hier noch schwarz, kriegen das Geld ohne Abzüge und bescheißen den Staat ordentlich. Glaub mir, die haben am Monatsende eine ganz andere Summe als wir auf dem Konto. So läuft die Sache hier in diesem Land!“

„Verstehe, die bekommen Sozialhilfe und Lohn, machen sozusagen einen doppelten Gewinn!“

„Wenn´s reicht!“, erklärte Alwina weiter. „Denn trotz des vielen Geldes, wollen sie alles billig kaufen. Und deswegen müssen wir ihr Zeugs ohne Sozialleistungen, ohne Urlaub oder Wochenende, ohne Sicherheitsvorkehrungen und unter schlechten Arbeitsbedingungen so billig wie möglich herstellen. Das geschieht entweder irgendwo in der Welt oder eben hier. Verstehst du? Die kriegen viel Kohle und kaufen dann auch noch billig ein. Deswegen haben die so viel!“

Sofia sah nachdenklich und mit zunehmend neidischem Blick auf die Frauen, die gerade durch das Hoftor verschwanden.

„Und ihre Arbeit ist auch nicht besser als unsere!“, wusste Alwina noch.

Sofia nickte. „Ja, das habe ich auch schon bemerkt!“



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„Welches Schwein von euch war denn grade als letzter auf der Toilette?“, fragte Tom ärgerlich, als er den Gemeinschaftsraum der Baracke betrat, in der die Arbeiter des Schlachthofs untergebracht waren.

Die anderen Arbeiter, die am Tisch saßen und Karten spielten, hielten inne und sahen ihn böse an.

„Es genügt nicht nur abzudrücken!“, knurrte Tom wütend. „Man sollte auch mal ´ne Bürste benutzen, damit es nicht wie im Schweinestall aussieht!“

Zu Toms Überraschung brachen die Arbeiter am Tisch in ein Lachen aus. „Das Scheißhaus putzt immer der, der als letzter hier ankommt. Das ist die Regel. Das war schon in der Armee so. Und der letzte, der hier angekommen ist, bist im Moment du. Also mach dich an deine Arbeit, du Klugscheißer!“, belehrte ihn Kolos, der seinem Namen alle Ehre machte und außer riesigen Muskeln auch noch über und über tätowiert war.

„Was hast du gesagt, „Klugscheißer“, das passt ja wie die Faust aufs Auge!“, kommentierte ein hagerer, glotzäugiger Typ, der Georgi hieß.

Die Männer hielten sich die Bäuche vor Lachen.

„Dann gibt es eine neue Regel!“, fuhr Tom die Arbeiter an. „Jeder macht seinen Scheiß selbst weg. Das nennt man Verursacherprinzip.“

Die Arbeiter verstummten sofort und sahen ihn böse an.

„Warum lacht ihr nicht? Das mit dem Scheiß war doch auch ein passendes Wortspiel!“

Eine Sekunde war es totenstill im Raum und die Leute starrten Tom mit grimmiger Miene an.

„Es gibt keine neue Regel!“, brummte Nicolai dann in die Stille. „Die alte Regel gilt schon immer und sie bleibt. Also geh an deine Arbeit und mach das Loch sauber!“

Tom ließ sich nicht beirren. „Wer von euch war der letzte auf dem Klo? Na los, ihr Feiglinge, ich will wissen, wer als Letzter auf dem Klo war!“

Es wurde wieder totenstill im Raum.

Dann stand Kolos auf. „Ich war der letzte vor dir, Junge. Und jetzt befehle ich dir, das Scheißhaus sauber zu machen, weil ich gleich nochmal muss und dann ein sauberes Klo haben will. Klar?“

Die Anderen nickten zustimmend und sahen Tom schmunzelnd an.

Tom ließ sich jedoch nicht einschüchtern. „Und ich erwarte, dass du jetzt sofort deinen Scheiß wegmachst, weil ich auch mal muss!“

Den Arbeitern klappte die Kinnlade vor Sprachlosigkeit nach unten.

„Und beeil dich, Junge!“, knurrte Tom. „Ich muss nämlich dringend!“

Kolos Gesichtsausdruck verfinsterte sich. Er stülpte sich die Ärmel nach hinten. „Ich glaub, dir geht´s zu gut. Ich glaub, du brauchst mal ´ne Abreibung.“

„Schade!“, meinte Tom ganz ruhig. „Und ich hoffte schon, du machst dich fertig für ´s Putzen.“

Jetzt rastete Kolos aus, so wie es Tom erwartet hatte.

„Dir zeig ich´s, du Hund!“, brüllte Kolos und stürzte nach vorn auf Tom zu.

Der wich nur geschickt aus und stellte Kolos ein Bein, so dass dieser mit dem Körper gegen die Barackenwand krachte.

Die Arbeiter raunten vor Überraschung, weil sie Kolos Kraft und Kampfesstärke schon erlebt hatten.

Kolos lag im Eck und fluchte. Dann zog er sich langsam an der Garderobe hoch. „Na warte! Jetzt gibt´s Prügel!“

„Spar dir deine Kraft für das Kloputzen!“, riet ihm Tom. „Das musst du auf jeden Fall putzen.“ Er wandte sich an die Arbeiter. „Und das gilt von jetzt ab auch für euch!“

Nun sprangen auch die Arbeiter auf. „Spinnst du?“, schrie Nicolai ihn an. „Für wen hältst du dich?“

„Ja, für wen?“, fragte ein anderer Arbeiter.

„Los, der braucht ´ne Abreibung! Die kann er haben! Zeigen wir es ihm!“, befahl Nicolai und einige Männer stürzten sich auf ihn.

Gleichzeitig griff ihn Kolos von hinten an.

Aber Tom hatte mit all dem gerechnet, hatte solche Situationen oft genug geübt. Er trat einen Schritt zur Seite und Kolos und die Arbeiter stießen zusammen, fielen gegenseitig über ihre Füße und purzelten zu Boden, wo sie einen Moment hilflos und wütend fluchend herumzappelten.

„Ich gebe euch eine letzte Chance!“, meinte Tom. „Kolos geht Kloputzen und ihr setzt euch wieder an den Tisch und gebt Frieden! Sonst geht es euch dreckig!“

„Spinnt der?“, meinte Kolos ungläubig. „Los, schnappt ihn!“

Damit rappelten sie sich auf und wollten sich wieder auf Tom stürzen.

Doch der handelte entschlossen. Mit einem blitzschnellen Aufwärtskick brach er Kolos die Nase.

Der fiel nach hinten und blieb mit blutiger Nase wimmernd im Eck liegen.

Nicolai stürzte sich als Nächster auf Tom, aber ein Fußtritt auf das Knie genügte, um auch ihn außer Gefecht zu setzen. Er fiel zu Boden und blieb ebenfalls jammernd liegen.

Der Andere hielt überrascht inne.

„Setzt dich wieder hin und gib Frieden, sonst geht es dir wie denen!“

Der Arbeiter setze sich wieder an den Tisch.

„Die Regel hat sich geändert!“, begann Tom wieder. „Jeder macht seinen Scheiß selbst sauber, klar?“

Die Arbeiter nickten.

Da ging die Türe der Baracke auf.

„Was ist denn hier los? Was macht ihr denn für einen Krach?“

Wagner, der Schichtleiter der Firma, stand da und besah sich fassungslos die Szene.

„Nichts, nichts!“, meinte Nicolai, zog sich mit schmerzverzerrtem Gesicht am Tisch hoch und setzte sich.

„Das sehe ich!“

Auch Kolos stand auf, hielt sich ein Taschentuch vor die blutige Nase und setzte sich an den Tisch. „Ja, alles in Ordnung!“, meinte er.

„Das sehe ich!“, wiederholte Wagner. „Ihr wisst, dass ihr fliegt, wenn es Ärger gibt!“

„Den Ärger gibt es erst, seit der da ist!“ Nicolai deutete auf Tom.

Wagner sah ihn kritisch an. „Du schon wieder! Das habe ich mir gleich gedacht, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Für so was habe ich einen Riecher. Und bei dir riecht man den Ärger!“

„Wenn Sie meinen?“

„Ja, das meine ich!“, sagte Wagner böse. „Und ich meine, dass du jetzt schleunigst deinen Kram packst und verschwindest. Denn Typen, die einmal Ärger machen, die machen es immer wieder. Und wir wollen hier keinen Ärger!“

„Ist OK!“, erwiderte Tom. „In den hier Schweinestall passe ich eh nicht!“

Wagner sah ihn böse an. „Du kannst von Glück sagen, dass ich dich nicht wegen Körperverletzung anzeige, aber wir wollen hier keinen Ärger!“

„Sie meinen, Sie wollen nicht, dass die Polizei mitbekommt, wie viele Arbeiter hier schwarz beschäftigt werden! Wahrscheinlich alle illegal ins Land geschleust und hier schwarz beschäftigt. Also Vorsicht mit Drohungen!“

Wagner wusste, dass er Recht hatte. „Verschwinde, aber dalli!“ Wagner zischte ihn böse an und stürzte dann aus der Baracke.

Tom ging schweigend zu seinem Spind und packte seine Sachen. Gleich darauf war er auf der Straße.



20


Tom schlich deprimiert durch die von grellen Schaufensterlichtern beleuchtete Stadt und überlegte, was er jetzt tun sollte.

„Haste mal ´n Euro für mich?“

Tom sah auf. Vor ihm saß einer von vielen Pennern, die noch die letzten Abendkunden abgreifen wollten. Er betrachtete den Mann genau. Lange, verzottelte, ungewaschene Haare, dicke Backen, überwuchert von einem Krausbart, verschwitzt, verdreckt, eklig, so wie auch die ganze löchrige, schmutzige, speckige Kleidung. Schmutz im Schmutz der Großstadt. Neben ihm saß ein ebenso dicker Mops, davor lag eine Mütze, die noch leer zu sein schien. „Oder er nimmt schnell alles wieder raus!“, wusste Tom.“

„Hab selber nichts!“, meinte Tom und zog das Futter aus seinen Hosentaschen.

„Irgendwo findest du schon noch was!“, meinte der Penner.

„Ich weiß nicht mal, wo ich schlafen soll.“ Er überlegte. „Ist vielleicht in deiner Bleibe ein Plätzchen frei?“

„Unten am Fluss, unter der Brücke. Da ist noch genügend Platz!“

Tom dankte kopfschüttelnd für den Vorschlag, ging weiter und passierte die anderen Bettler.

„Was für ein Schmutz!“, dachte er wieder, blieb stehen und betrachtete die Straße. Überall lag alles voller Papiertüten, Zigarettenschachteln, Kaugummis, Getränkebechern und so weiter. „Was für eine eklige Gegend!“ Die Waren aus den Hochglanzschaufenstern der Kaufhäuser spiegelten sich in den Pfützen auf dem Asphalt, denn es hatte geregnet. Tom musste an die grünen Wiesen seines Hofes denken. Und dann erinnerte er sich auch an den dummen, sturen, versoffenen Vater, der alles kaputt gemacht hatte.

Er ging weiter. Plötzlich wurde eine Türe neben ihm aufgerissen, ein Mann sprang heraus und übergab sich direkt neben ihm. Das Erbrochene spritzte bis auf seine Schuhe. Er wandte sich angeekelt ab, konnte jedoch noch durch die zugleitende Eingangstür der Bar, aus der der Mann gekommen war, erkennen, wie drinnen der Alkohol wohl in Strömen floss.

Tom stolperte weiter, wischte seine Schuhe an einer Litfaßsäule ab, nicht ohne von Passanten darauf angesprochen zu werden. „Einfach mal das dumme Maul halten!“, fuhr es ihm durch den Kopf, aber er schwieg, weil er wieder an seine grünen Felder denken musste.

Er strauchelte weiter, erkannte, dass er das Rotlichtmilieu erreicht hatte.

Ein Mann stand splitternackt in einem Schaufenster und hielt sich nur ein Feigenblatt vor sein Geschlechtsteil. Als Tom vorüberging, tat er das Feigenblatt weg.

Tom fuhr erschrocken zurück.

Da lachte der Mann schallend.

Tom ging weiter. Ständig wurde er von Männern aufgefordert, mit hineinzukommen. Er war froh, als er endlich das Milieu hinter sich gelassen hatte. „Was für ein Schmutz!“, dachte er.

Aber nun war er in einer der Vorstädte angekommen. Hier spendeten nur die Straßenlaternen fahles Licht. Er ging weiter, wusste nicht, was er tun sollte, schließlich kam er an einem Lokal vorbei, aus dem es gut roch. Er spürte großen Hunger. Er hatte noch nicht zu Abend gegessen. Er holte sein letztes Geld heraus und stellte fest, dass es für ein gutes Abendessen reichte. Dann ging er hinein.



Die Sümpfe

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