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ОглавлениеGrundlagen der Beratung für die Hochschullehre
«Das Spannendste an Beratungen sind für mich immer wieder die Geschichten, welchen ich zuhören darf, die mich anregen und neue Welten eröffnen, in welchen wir (die zu beratende Person mit mir) zusammen Muster zu erkennen versuchen, um Hypothesen zu bilden und daraus Schlüsse zu ziehen.»
Geri Thomann, Prof. Dr. phil, dipl. Supervisor/Organisationsberater, ist Leiter des Zentrums für Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung (ZHE) der Pädagogischen Hochschule Zürich.
Einleitung
Die einen Studierenden sind am Schreiben ihrer Bachelorarbeit oder sind in Projekten engagiert und suchen bei Stolpersteinen Ihren Rat als begleitende Fachperson. Andere beissen sich ihre Zähne an Case Studies aus, sind blockiert und fragen Sie im Unterricht um Ihren Rat; wieder andere leiden unter der Komplexität der Studiengangsorganisation und möchten von Ihnen Orientierungshilfe. Einige zweifeln gar an ihrer Studienwahl und wünschen, mit Ihnen darüber ein Gespräch zu führen. All diesen Phänomenen kann nicht mit reiner Fachexpertise begegnet werden.
Im Kontext der Bologna-Reform nehmen an Fachhochschulen selbstorganisierte Lehr-/Lernformen einen grösseren Platz ein. Zudem kann Lernen im Zuge einer «Ermöglichungsdidaktik» auf Basis eines konstruktivistischen Lernverständnisses lediglich angeregt und begleitet werden. Die Rolle der Dozierenden erweitert sich damit aus lernpsychologischen und strukturellen Gründen und enthält immer mehr begleitende und beratende Aspekte. Die Aktivität liegt dabei vorwiegend bei den Lernenden.
Dadurch eröffnen sich einige Fragen:
Wie sieht ein solches Begleitungs- oder Beratungsverhalten genau aus? Heisst Beraten nur noch «Geschehenlassen»? Wo liegt dabei die Verantwortung der Lehrenden?
Kann man überhaupt zielorientiert beraten, oder ist das dann eher Instruktion?
Verhindern wir durch unsere «lehrende Haltung» wirkliches Lernen – indem wir alle Stolpersteine aus dem Wege räumen?
Ist Beratung im Kontext von Lehre und Studium überhaupt möglich?
Sollen Lehrende als inhaltliche Experten mit ihrem Wissen zurückhalten?
Können wir überhaupt beraten, wenn wir auch noch beurteilen sollen? Ist dann Beratung sozusagen ein «Wolf im Schafspelz»?
Erhalten wir zu wenig Aufmerksamkeit, wenn wir «nur» beratend tätig sind – ganz ohne Publikumsapplaus? Oder erhalten wir gar mehr?
Wollen sich Studierende überhaupt beraten lassen?
Wie strukturieren wir Beratungssituationen, wie unterscheiden sich diese von Instruktionsanlässen?
Wo und wann ist Beratungskompetenz von den Dozierenden gefragt?
Der vorliegende Text versucht, diese Fragen zu beleuchten und, wo möglich, mittels Modellen und Reflexionen den Dozierenden Unterstützung im Alltag zu bieten.
Nach einer Einleitung, die in kurzer Form lernpsychologische und strukturelle Aspekte zum Thema aufzeigt (erstes Kapitel), werden anhand des «Rollenstrausses» von Dozierenden verschiedene Handlungsfelder beschrieben (zweites Kapitel). Zwei davon – Beraten und Begleiten – werden anschliessend näher beleuchtet (drittes und viertes Kapitel). Schliesslich werden drei ausgewählte Spannungsfelder zwischen der Beratung und den anderen Rollen der Dozierenden beschrieben (fünftes Kapitel).
Sie finden im vorliegenden Buch als Anreicherung dieses Texts zwischen den Berichten verschiedene Instrumente für das professionelle Beratungshandwerk (Beratungsphasenplan, Ablauf einer Beratung im Hochschulalltag, Kontraktierung1 von Beratungen, diagnostisches Vorgehen, Interventions-handwerk, Landkarte des Fragens).
Mit «Dozierenden» oder «Lehrenden» sind selbstverständlich auch lehrende wissenschaftliche Mitarbeitende oder Lehrbeauftragte gemeint. Ist die Rede von «Studierenden» oder «Lernenden», sind auch Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Weiterbildungslehrgängen mitgedacht. Schliesslich werden Beratene in der Beratungssprache als «Klienten» bezeichnet und beratene Systeme (einzelne Personen, Teams oder Organisationen) gelegentlich als «Klientensysteme»; diese Begriffe aus der Beratungssprache werden benutzt, um deutlich zu machen, dass mit «Klienten» nicht nur Studierende gemeint sein müssen.
Die sogenannten «Reflexionsfragen» nach den einzelnen Kapiteln sind als Anregung zur Denk- oder Lesepause gedacht.
Prämissen
Lernpsychologische Prämissen
Die Kognitionspsychologie hat einen engen Zusammenhang zwischen kognitivem Strukturaufbau und aktivem Handeln festgestellt. Auch die Gehirnforschung bestätigt, dass durch aktives entdeckendes Lernen Informationen im Gehirn nicht isoliert, sondern in netzwerkartigen Verbindungen gespeichert werden und dadurch leichter situationsgerecht nutzbar werden (vgl. Siebert 2008, S. 65).
Es wäre ein Widerspruch, unter der Prämisse der Aneignungsperspektive (im Gegensatz zur Vermittlungsperspektive) Lernende als Hauptakteure ihres Lernens zu verstehen und ihnen gleichzeitig die Selbststeuerung ihres Lernens abzusprechen.
Die Motivation steigt mit dem Grad der von den Lernenden wahrgenommenen Selbstbestimmung. Bereitschaft und Wille, sich neue Kenntnisse und Fähigkeiten anzueignen, sind unter anderem mit drei grundlegenden psychologischen Bedürfnissen des Menschen verbunden: sich als autonom und kompetent zu erleben und sich sozial eingebunden zu fühlen.
Lernen ist somit ein konstruktiver, aktiver, selbstgesteuerter und sozialer Prozess, der immer in einer bestimmten Situation stattfindet (vgl. Mandl 2006). Erst in authentischen Situationen wird Wissen für Lernende bedeutungsvoll: Ziele, Inhalte und Lernarrangement sind dann aufeinander abgestimmt, die Lernaufgaben haben einen echten Bezug zur Alltagswelt; Wissenserwerb und Anwendungsmöglichkeiten fallen dadurch nahe zusammen.
Aktives Handeln führt zudem über Reflexion zu effektivem Lernen. Die Metakognitionsforschung (vgl. u. a. Kaiser 2003) zeigt, dass die Qualität des Lernens nachhaltig gefördert wird, wenn Lernende über ihre eigenen Lernaktivitäten und Lernerfahrungen nachdenken und dadurch sich (bzw. ihr Lernen und Arbeiten) besser verstehen und steuern können.
Lernen in diesem Sinne kann von Dozierenden lediglich angeregt, initiiert, begleitet und damit «ermöglicht» (Arnold 2007) werden; tun müssen es die Lernenden selbst. Das heisst jedoch nicht, dass Dozierende zur Passivität verdammt sind: Instruktion und Anleitung sind nach wie vor gelegentlich notwendig, und Beratung und Begleitung beinhalten immer auch Steuerungselemente (siehe auch Brunner in diesem Buch).
Strukturelle Prämissen
Mit der Bologna-Reform im Hochschulwesen wurde die strukturelle Unterscheidung zwischen Präsenzunterricht (Kontaktlektionen), begleitetem Selbststudium und freiem (oder autonomem) Selbststudium geschaffen. Dies warf und wirft die Frage auf, welches denn nun die Rolle von Dozierenden gerade beim begleiteten Selbststudium sei.
Parallel zur Bologna-Deklaration trat die Orientierung nach Kompetenzen und «Learning outcomes» von Studierenden auf den Plan, die wiederum die Implementierung von geeigneten methodischen Ansätzen wie «Problem-based Learning» (siehe Artikel von Evelyn Waser in diesem Buch) u. ä. nach sich zog. Solche Konzepte bedingen andere Handlungskompetenzen von Dozierenden, die häufig mit folgender Redensart umschrieben werden: «from the sage on the stage to the guide on the side».
Damit eröffnen sich neue Handlungsfelder für die Dozierenden, beispielsweise die Beratung und die Begleitung, aber auch einige Spannungsfelder, etwa zwischen organisationaler Strukturreform und der Lernenden-Orientierung, zwischen Formalisierung und Selbstorganisation oder zwischen der Kompetenzorientierung im Studium und dem Bedarf des Arbeitsmarkts.
In einem nächsten Schritt wird der Fokus auf die Rollen der Dozierenden gerichtet resp. auf den «Rollenstrauss», in dem sich die Lehrenden an den Hochschulen täglich bewegen. Die Aussagen beschränken sich dabei auf die Lehrfunktion und auf die Diade «Dozent/in – Studierende» – wohlwissend, dass diese Perspektive die Realität des mehrfachen Leistungsauftrages an Hochschulen vernachlässigt.
Der Rollenstrauss von Dozierenden
Unter dem Begriff «Rolle» werden mehr oder weniger explizite Erwartungen und Ansprüche an Funktionsträger (hier Dozierende) verstanden; Rollen beinhalten jedoch immer auch einen Interpretationsspielraum (Thomann 2013, S. 21 ff.).
Wir skizzieren die einzelnen Handlungsfelder der Lehrenden im Folgenden in Form von Rollen kurz, um danach die beiden Handlungsfelder der Beratung und der Begleitung genauer zu beleuchten.
Abb. 1 «Rollenstrauss» von Dozierenden
Folgende Rollen der Dozierenden lassen sich ausmachen:
Experte/Expertin sein
Ursprünglicher Grund des Auftrags der Lehrenden ist ihre Expertise, das fachspezifische Wissen, das inhaltliche Durchdringenkönnen des «Stoffs» etc.
Lehr-/Lernsituationen planen und gestalten
Präsenzunterricht gestalten (Vorlesungen, Aktivierung von Studierenden, Übungen, Anwendungsaufgaben), Inszenieren von fall- und problembasiertem Lernen, Gestalten von Blended-Learning-Sequenzen, Produzieren und Gestalten von selbsterklärenden Scripts, von interaktiven Lernmaterialien auf einer Lernplattform etc.
Führen
Leiten von Projektgruppen, Anleiten zum Selbststudium, Kontrollieren der Präsenzpflicht, Moderieren von Plenumsveranstaltungen, Führen von Konfliktgesprächen, Umgang mit schwierigen Situationen und Studierenden, Entscheiden bei Promotionsfragen etc.
Begleiten (längerfristig, Projekte, Gruppen- oder Einzelarbeiten)
Längere Begleitaktivitäten (Anleitung, Beratung, Controlling) während des Selbststudiums, Begleiten von Bachelor-/Master-/Diplomarbeiten, Begleiten von Praktika/Projekten, Begleiten von Studierenden während ihrer ganzen Ausbildungszeit etc.
Siehe Kapitel «Begleiten» (S. 22 ff.)
Beraten (kurzfristig, zielorientiert, eher einzelne Studierende)
Einzelne Studierende (oder allenfalls kleine Gruppen von Studierenden) in ihrem Lernprozess zielorientiert und «kontraktiert» beraten, diagnostisch tätig sein (z. B. während Problem-based-Learning-Sequenzen, bei Stolpersteinen in einem Projekt oder in einer schriftlichen Arbeit, bei ungenügenden Leistungen), Beraten von Studierenden bezüglich Organisation des Studiums und beruflicher Ausrichtung etc.
Siehe Kapitel «Was ist Beratung?» (S. 19 ff.)
Beurteilen
Kompetenz- und lernzielorientiert Prüfen, Gestalten von Prüfungssituationen, Formulieren von Prüfungsfragen, Interpretieren und Bewerten von Leistungen, Kommunizieren von Bewertungen etc.
Institution vertreten
Beteiligung an der Entwicklung von Curricula, am Entwerfen von Kompetenzprofilen, an der Konzipierung von Beurteilungskonzepten und an Evaluationen; Kooperation mit dem Kollegium etc.
Gesellschafts-/Staatsvertretung sein
Als gesellschaftlich anerkannte «öffentliche» Expertin oder anerkannter öffentlicher Experte auftreten, als Modell wirken, «arriviert» sein. Türöffnerin oder Türöffner sein für gesellschaftliche Funktionen von Studierenden etc.
Rollenerwartungen der Studierenden an die Dozierenden
Die oben beschriebenen Rollen überschneiden sich selbstverständlich: Beispielsweise existieren Nahtstellen zwischen der Beurteilungs- und der Institutionsvertretungsrolle oder zwischen der Führungs- und der Lehrgestaltungsrolle.
Die Komplexität des Rollenstrausses erhöht sich zudem durch die spezifischen Rollenerwartungen der Studierenden: Die einen erwarten von den Dozierenden reine Expertise, andere möchten klare Führung, wieder andere begnügen sich mit zurückhaltender Begleitung. Weitere verlangen immer wieder individuelle Beratung oder pochen auf klare Beurteilung, einige sehen die dozierende Person als Vertretung der Institution oder als Modell einer gesellschaftlich anerkannten Funktion.
Diese Erwartungshaltungen verschieben sich von Fachgebiet zu Fachgebiet, von Dozent/in zu Dozent/in. Dies bedeutet, dass Dozierende sich dauernd zwischen differierenden Rollenerwartungen bewegen. Sie müssen Prioritäten setzen und Kompromisse zwischen den eigenen Rollenvorlieben und den Rollenerwartungen der Institution und der Studierenden eingehen.
Im fünften Kapitel werden exemplarisch drei ausgewählte Spannungsfelder beschrieben.
Beraten und Begleiten
Wie Sie den Beschreibungen weiter oben entnehmen können, unterscheiden sich Beratung und Begleitung einerseits durch den zeitlichen Aspekt (Begleitung findet in der Regel über eine längere Zeitspanne hinweg), andererseits durch die Quantität der Klienten (Beratung ist eher dialogisch und Face-to-Face-orientiert). Zudem integriert Begleitung immer auch ein Stück «Leitung» (Anleitung, Controlling). Typischerweise werden gerade in Projekt-begleitungen häufig verschiedene Rollen vermischt: Anleitung, Controlling und Beurteilung gehören genauso wie die Beratung zu den Begleitaufgaben in verschiedenen Phasen von Projekten (vgl. auch Johner in diesem Buch, S. 121 ff.). Der Begriff «Betreuung» entspricht am ehesten demjenigen der Begleitung (vgl. Suter in diesem Buch, S. 66 ff.), bezeichnet jedoch eher ein pädagogisches Verhältnis.
Beratung2 in unserem Sinne ist tendenziell symmetrisch orientierte, gemeinsame Arbeit an Fragestellungen oder Problemen. Begleitung hingegen kann als zurückhaltende Führung mit integriertem Beratungsanteil verstanden werden.
Reflexionsfragen Rollenstrauss
Wo und wie bewegen Sie sich alltäglich als Dozentin oder Dozent im sogenannten «Rollenstrauss»?
Welches sind Ihre Vorlieben, welches nicht?
Was erwarten Ihre «Klientinnen und Klienten» (z. B. Studierende) von Ihnen, was erwarten andere Erwartungsträger?
Können Sie dabei Konfliktfelder benennen?
Wie gross ist Ihr Interpretationsspielraum?
Nutzen Sie diesen? Wo?
Wie würden Sie Ihre Rolle als Beraterin oder Berater und als Begleiterin oder Begleiter genau beschreiben, welche Erwartungsträger können Sie benennen? Wo könnten Konfliktfelder auftauchen?
Wir fokussieren vorerst auf die Rolle Beraten. Zuerst wird der Begriff definiert, anschliessend werden drei Beratungsmodelle erläutert.
Was ist Beratung?
Definition von Beratung
Eine der bekanntesten und anerkanntesten Definitionen des Begriffs «Beratung» stammt von R. Lippitt (1959, in: Fatzer 2005, S. 56):
«Beratung (…) ist eine allgemeine Bezeichnung für mancherlei Beziehungsformen. Die allgemeine Definition von Beratung (…) hat folgende Voraussetzungen:
Das Beratungsverhältnis ist eine freiwillige Beziehung zwischen einem professionellen Helfer (Berater) und einem hilfsbedürftigen System (Klient).
Der Berater versucht, dem Klienten bei der Lösung laufender oder potenzieller Probleme behilflich zu sein;
die Beziehung wird von beiden Partnern als zeitlich befristet angesehen.
Ausserdem ist der Berater ein ‹Aussenstehender›, d. h. er ist nicht Teil des hierarchischen Machtsystems, in welchem der Klient sich befindet.»
Sie sehen hier schon, dass beratende Tätigkeit in vielen Feldern (zum Beispiel der Lehre) gemäss dieser Definition gar keine Beratung wäre, da die Beziehung in der Regel häufig nicht freiwillig ist, die zeitliche Befristung nur bedingt gilt und Beraterinnen und Berater nicht immer «Aussenstehende» sind, sondern den «Klientinnen und Klienten» gegenüber meistens verschiedene Rollen wahrnehmen.
Diese mögliche Divergenz zeigt Schein auf eine andere Weise mittels folgender Grundmodelle auf:
Drei Grundmodelle der Beratung
ABeratung als Beschaffung von Information und Professionalität, Expertenberatung
Der Klient oder die Klientin weiss,
was das Problem ist;
welche Lösung benötigt wird;
woher die Lösung kommen kann.
Der Berater oder die Beraterin beschafft die benötigten Informationen und erarbeitet die Lösungen.
BBeratung im Rahmen der Arzt-Patienten-Hypothese
Der Klient oder die Klientin leidet unter bestimmten Unzulänglichkeiten oder Problemen, deren Ursachen sowie mögliche Lösungsansätze sind ihm/ihr aber unbekannt.
Der Berater oder die Beraterin übernimmt die Verantwortung für eine richtige Diagnose (Erfassung) des Problems und dessen angemessene Lösung.
Der Klient oder die Klientin ist abhängig vom Beratungsprozess bis zur Lösungsfindung.
CDas Prozess-Beratungs-Modell
Der Klient oder die Klientin hat das Problem und behält während des ganzen Beratungsprozesses die volle Verantwortung dafür.
Der Berater oder die Beraterin hilft der Klientin oder dem Klienten, bestimmte Ereignisse und Vorgänge wahrzunehmen, richtig zu interpretieren und zu verstehen und ihnen angemessen zu begegnen (handeln).
Der Klient oder die Klientin weiss sich selber zu helfen, und die Beraterin oder der Berater vermeidet, von Klientinnen und Klienten in eines der vorangehenden Modelle geleitet zu werden.
nach Schein (2000, S. 25 ff.), modifiziert durch Thomann (2013)
Wenn Sie sich den Berater-Jargon (z. B. «Klientin/Klient») wegdenken, bemerken Sie vielleicht, dass die Zuordnung der eigenen Beratungstätigkeit zu einem der Grundmodelle gar nicht so einfach ist: Mögen Sie Beratung noch so sehr als zurückhaltende und moderierende Prozessberatung verstehen: Wenn Sie beispielsweise als (Fach-)Experte oder (Fach-)Expertin beauftragt sind, werden Sie auch so wahrgenommen. Da wäre zu entscheiden, ob Instruktion nicht grundsätzlich adäquater ist als Beratung.
Die Expertenhypothese des Modells von Schein setzt interessanterweise sehr selbstbewusste und handlungsfähige «Klientinnen und Klienten» voraus. Studierende würden hier genau wissen, was sie benötigen und Sie als Dozentin oder Dozent mit den «richtigen» Fragen kontaktieren (vgl. das fragegeleitete Lerncoaching in Landwehr/Müller 2006, S. 184 ff.).
Die Arzt-Patienten-Hypothese fasziniert vielleicht durch den hohen Machtanteil der Beratenden und käme einem gewissen «Betreuungspotenzial» auf der Seite der Dozierenden und einem «Abhängigkeitsbedürfnis» auf der Seite der Studierenden entgegen; es wäre jedoch verfehlt zu behaupten, Klienten oder Studierende müssten als «Kranke» «geheilt» werden.
Reflexionsfragen «Grundmodelle der Beratung»
Versuchen Sie die drei Grundmodelle zu verstehen und auseinanderzuhalten (auch wenn sie in der Realität ineinanderfliessen). Probieren Sie dann, mittels folgender Fragen an Ihre Beratungserfahrungen anzuschliessen:
Wenn Sie an Beratungssituationen denken (als Beraterin oder Berater und Begleiter oder Begleiterin oder als Klientin oder Klient): In welchem/welchen Grundmodellen bewegten/bewegen Sie sich tendenziell?
Würden Sie der (provokativen) These zustimmen, dass in sozialen und lehrenden Berufen sozialisierte Menschen häufig im Rahmen der Arzt-Patienten-Hypothese beraten? Weshalb (nicht)?
Ist Prozessberatung überhaupt möglich? Wann und wie?
Verfügen zu Beratende über das Wissen, welches für die von Schein formulierte Expertenberatung notwendig ist?
Welches Modell wäre Ihnen als Beratungsperson am nächsten? Weshalb?
Beratung definieren wir in unserem Zusammenhang als situationsbezogene und spezifische Hilfestellung bei der Analyse und bei der Lösung von Problemen oder bei auftauchenden komplexen Fragestellungen – wobei Beratung immer auch dialogisches und gemeinsames Denken und Handeln beinhaltet. Eine solche Beratung bezieht sich zudem auf ein professionelles Handlungsmodell (obwohl auch Laien effizient beraten können). Professionelle Beratung zeichnet sich also durch bestimmte Beratungskompetenzen der Beratungsperson sowie durch deutliche Abgrenzung der Beratung von alltäglichen Situationen aus.
Das Schwergewicht der Beratungskompetenz liegt bei Formen der Expertenberatung im jeweilig spezifischen Fachwissen, bei Formen der Prozessberatung in Kenntnissen von sozialwissenschaftlichen Theorien und Verfahren.
Zum professionellen Beratungshandeln gehören die Berücksichtigung von spezifischen Prozessphasen, eine adäquate Kontraktierung, die sorgfältige gemeinsame Diagnose sowie angepasste Interventionen – zum Beispiel durch die Wahl von adäquaten Fragen.
Sie finden dazu in diesem Buch verteilt ausgewählte Instrumente:
Instrument 1: | Fünf Phasen der Beratung (S. 33) |
Instrument 2: | Ablauf einer Beratung im Hochschulalltag (S. 50) |
Instrument 3: | Der Beratungskontrakt (S. 62) |
Instrument 4: | Diagnose in der Beratung (S. 101) |
Instrument 5: | Landkarte des Fragens (S. 105) |
Instrument 6: | Gesprächsführung (S. 125) |
Instrument 7: | Intervision – Vorgehensmodell und Checkliste Contracting (S. 148 & S. 150) |
Begleiten: Steuerung innerhalb des Kontinuums «Beratung – Instruktion – Führung»
Wir beschäftigen uns im Folgenden mit der Begleitungsrolle, die sich von der Beratungsrolle unterscheidet, indem sie Führungshandeln integriert.
Innerhalb der zu begleitenden Projektphasen «Initiieren – Realisieren – Präsentieren – Evaluieren» beispielsweise (siehe Text von Roger Johner, S. 109 ff.) ist die Anleitung zu Beginn eine Führungsaufgabe, während im Zuge der Realisierung Beratung gefordert ist.
Lernen begleiten
Im Zusammenhang mit Lernbegleitungsaktivitäten stehen folgende Aufgaben im Vordergrund:
Die «äussere» Lernorganisation gestalten («Kontraktierung»): Gruppenbildung, Klärung der Aufgaben; Transparenz der Anforderungen und Ziele, Klären der Rahmenbedingungen; Information über die Lernmaterialien/Scripts, Lernphasen definieren, Standortgespräche vereinbaren.
Die «innere» Lernorganisation anleiten: Mögliche Vorgehensweisen zur Verfügung stellen, Planungshilfen geben, Optionen des Scheiterns prüfen.
Lerngruppen und einzelne Lernende beobachten, Lernschwierigkeiten rechtzeitig erkennen und benennen, mit den Lernenden Lösungen entwickeln.
Steuerung zunehmend weglassen, die Lernenden ihre Lernwege alleine gehen lassen, Zurückhaltung üben bei Kontaktnahmen.
Lernergebnisse mit den Lernenden evaluieren, sowohl ergebnisbezogen wie auch prozessbezogen; evtl. auch beurteilen.
Diese Aufgaben beinhalten verschiedene direktive und non-direktive Interventionsformen, die flexibel und situationsadäquat eingesetzt werden. Es wird dabei deutlich, dass hier nicht nur Beratungs-, sondern auch Führungsund Beurteilungskompetenzen notwendig sind. Mit anderen Worten: Es geht dabei um eine flexible Rollengestaltung und um ein situationsgerechtes «Management» von Lernprozessen.
Eine Darstellung aus der Beratungsliteratur (nach Lippitt und Lippitt 1995, S. 56) lässt sich auf die Tätigkeit von Dozierenden übertragen. Sie ist hilfreich, um sich innerhalb der verschiedenen Rollengestaltungsmöglichkeiten zwischen Führung und Beratung bewusst und transparent zu bewegen. Ziel ist es dabei immer, sich nach links zu bewegen (siehe Grafik, S. 24), um die Selbstorganisation der «Klientinnen und Klienten» (sprich Lernenden) zu fördern; bei Bedarf ist es jedoch legitim, ja notwendig, sich punktuell und temporär (wieder) nach rechts zu bewegen, ohne dadurch in eine «Arzt-Patienten-Beziehung» abzugleiten. Diese Bewegungstendenz nach links und die notwendigen «Abstecher» nach rechts benötigen eine Form der grundsätzlichen Rollentransparenz im Rahmen einer Kontraktierung, zum Beispiel: «Ich werde mir erlauben – auch wenn ich Sie tendenziell eher berate –, Ihnen bei begründeter Notwendigkeit auch Wissen zu vermitteln». Auch braucht es eine deutliche Rollentransparenz bei «Kategorienwechseln«, welche die tendenzielle Bewegung nach links immer einbezieht, etwa: «Ich möchte Ihnen jetzt etwas Wichtiges zeigen, was Sie schliesslich in Ihrer selbstständigen Arbeit weiterbringen soll», oder: «Ich helfe Ihnen gerne über diese Klippe hinweg, erwarte jedoch, dass Sie danach Ihren Weg möglichst selbstständig weitergehen». So verdeutlicht die dozierende Person ihre Erwartung, dass die Lernenden auf ihren eigenen Füssen stehen sollen.
Begleitung: Das Kontinuum von Aktivitäten der Dozierenden zwischen Führung und Beratung
Abb. 2 Mögliche Rollen von Dozierenden zwischen Führung, Expertise und Beratung (verändert nach: Lippitt/Lippitt 1995, S. 56)
Reflexionsfragen «Kontinuum Führung – Instruktion – Beratung»
Erinnern Sie sich an Beispiele von Begleitungsaktivitäten im Hochschulalltag (bei Projekten, bei schriftlichen Arbeiten, beim Selbststudium):
Kann ich gut die Kontrolle abgeben? Wo gelingt mir das besser, wo schlechter?
Wann und bei welchen Themen bin ich unsicher, ob ich Führung übernehmen, Expertise zur Verfügung stellen oder mich besser zurückhalten soll?
In welchen Beratungssituationen gebietet mir mein Verantwortungsgefühl, meine Zurückhaltung aufzugeben; wann fühle ich mich dafür verantwortlich, dass die Lernenden ihren Lernprozess selber steuern?
Wann stelle ich mein Wissen zur Verfügung, wann wechsle ich von der Rolle der Beratungsperson in diejenige des Experten/der Expertin?
In welchen Situationen führe ich den Prozess, mische mich aber inhaltlich nicht ein?
In welchen Situationen gebe ich die zurückhaltende Beratungshaltung auf und interveniere?
Wie verhalte ich mich gegenüber Lernenden, die dauernd meinen Rat beanspruchen?
Ausgewählte Spannungsfelder
Schon zu Beginn dieses Textes wurde erwähnt, dass im Praxisalltag gelegentlich unklar ist, in welcher Rolle Dozierende agieren sollen. Solche Dilemmata sind unumgänglich; einige solcher Spannungsfelder und der mögliche Umgang mit diesen werden im Folgenden skizziert. Dabei wird das dritte Spannungsfeld «Beraten versus Beurteilen» vertieft behandelt.
Spannungsfeld 1: «Führen versus Beraten»
«Mich zum richtigen Zeitpunkt zurückzunehmen zugunsten der Aktivierung studentischen Lernens, den Studierenden nicht gleich beim ersten Stolperstein den richtigen Input zu geben, ihnen die Problemlösung zuzutrauen, fällt mir immer noch schwer. Und wenn mir dies gelingt, warte ich wiederum manchmal viel zu lange mit einer notwendigen Intervention.»
Dozentin Höhere Fachschule aus einem Lernbericht
Abb. 3 «Rollenstrauss» von Dozierenden – Spannungsfeld 1
Lehrende sind in der Regel so sozialisiert, dass sie den Lernenden (gerne) Stolpersteine aus dem Weg räumen; damit legitimieren sie nicht selten ihre Funktion. Dabei bedenken sie zu wenig, dass die Lernenden auch durch Misserfolge ihre Kompetenz erweitern. Dies gelingt aber nur, wenn die Lehrenden sich mit Interventionen zurückhalten. Gleichzeitig ist es jedoch notwendig, bei zu starker Irritation der Lernenden die Steuerung des Lernprozesses zu beeinflussen, Hinweise zu geben, Rahmen zu schaffen – eben Führung zu übernehmen (oder in der Rolle des Experten/der Expertin zu agieren). Eine solche adäquate Pendelbewegung (siehe auch Grafik S. 24) zwischen Führung und Beratung gehört zur den anspruchsvollsten und spannendsten Ansprüchen an die Tätigkeit der Dozierenden.
Dieses Spannungsfeld ist gerade im Rahmen der Formen von selbstorganisiertem oder problemorientiertem Lernen äusserst wirksam.
Spannungsfeld 2: «Experte oder Expertin sein und Institution vertreten versus Begleiten und Beraten»
«Manchmal habe ich das Gefühl, dass mein wissenschaftlicher Anspruch mich zum ‹Träger› von fachlichen Standards meiner Organisation, aber auch der ‹professional community› macht und dass dieser Umstand mir mehr Verantwortung überträgt, als ich in der pädagogischen Beziehung zu Studierenden wahrhaben möchte.»
Hochschuldozentin aus einem Lernbericht
Abb. 4 «Rollenstrauss» von Dozierenden – Spannungsfeld 2
Dozierende tragen die Verantwortung, Menschen in ihrem Wissen, Können und ihren Werthaltungen auf die beruflichen Anforderungen vorzubereiten. Diese Ansprüche der Praxis gestalten die Zielvorgaben des Lernens. Gleichzeitig tragen Dozierende als Experten und Expertinnen auf ihrem Gebiet die Verantwortung gegenüber professionellen Standards in der Praxis (sowie in der Ausbildung). Mit ihrer Sicht auf das «Danach» sind Dozierende somit in der Pflicht, dieses nicht nur als feste Konstante zu betrachten, auf die es die Studierenden vorzubereiten gilt, sondern durch die Kompetenzentwicklung der Studierenden auch auf die Praxis einzuwirken. Sie sind somit quasi Qualitätsträger.
Dozierende sind dadurch auch zur Forderung, nicht nur zur Förderung der Lernenden aufgerufen. Auch wenn durch die lebendige Beziehung zwischen Lernenden und Lehrenden eine «Quasi-Kollegialität» entsteht.
Spannungsfeld 3: «Beraten versus Beurteilen»
«Studierende in ihren Lernprozessen und bei ihren Arbeiten zu begleiten und sie schliesslich zu beurteilen, ist für mich eine grosse Herausforderung – manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich mich dabei eigentlich selbst beurteile.»
Hochschuldozent aus einem Lernbericht
Abb. 5 «Rollenstrauss» von Dozierenden – Spannungsfeld 3
Lehrende begleiten und beraten Lernende in ihrem Lernen, und sie beurteilen den Lernerfolg. In Praxisprojekten oder schriftlichen Arbeiten werden Studierende beraten und schliesslich beurteilt. Die Institution unterstützt und berät die Studierenden und erteilt ihnen zum Schluss ein Diplom – oder nicht.
Dies widerspiegelt einen der grössten alltäglichen Rollenkonflikte von Lehrenden: Der pädagogisch orientierten Begleitung folgt in der Regel die summative Beurteilung von Leistungen, einer scheinbar symmetrischen Beziehung kann der asymmetrische Bruch folgen. Die Nähe der begleitenden formativen Beurteilung wird durch die Distanz der summativen Beurteilung infrage gestellt, Enttäuschungen können auf beiden Seiten entstehen. Gelegentlich wird innerhalb der Institution die Beurteilungsfunktion personell von der Begleitungsfunktion getrennt. Nicht selten verlagert sich dann die vormals intrapersonelle Spannung in eine institutionelle (Beurteilende werden von Studierenden mit höherem Status versehen etc.).
Im Zuge der Modularisierung von Studiengängen und der damit zunehmenden Anzahl von Kompetenzüberprüfungen erhalten solche Spannungen eine ganz neue Dimension.
Schliesslich ist zu beachten, dass sich Lernbegleitungs- und Beratungsformen im institutionellen (Bildungs-)Kontext erheblich von frei gewählter Beratung unterscheiden. Das verunmöglicht sie nicht, heisst jedoch, dass die Beratenden ihre Rolle in der Institution und gegenüber den Lernenden klären und die Grenzen und Möglichkeiten solcher Rollenkombinationen erkennen müssen.
Dies bedingt eine Klärung der Rahmenbedingungen (Kontraktierung) und eine immer wiederkehrende Rollentransparenz («ich argumentiere jetzt aus der Sicht der Beurteilungsperson»).
Was irritiert immer wieder an der Rollenkombination «Beraten – Beurteilen»?
Die Sorge, dass die Beratungsbeziehung durch die Beurteilungsfunktion gefährdet werde.
Die Befürchtung, dass die erwartete Beurteilung das Vertrauen der Lernenden in den Lehrenden verunmögliche.
Der Wunsch, in einen gleichberechtigten Dialog einzutreten, in der Beurteilungsfunktion jedoch unverhofft zum «mächtigen Experten» zu werden.
Die Kriterien der Beurteilung und ihre Folgen nach einem gelungenen Beratungsprozess nicht zu berücksichtigen oder zu akzeptieren.
Es nicht zu wagen, aufgrund der «mitschwingenden» Beurteilungsfunktion eine partiell symmetrische Beratungsbeziehung einzugehen.
Sich nach einem Beratungsprozess nicht mehr für objektiv und unvoreingenommen in der Beurteilung zu halten.
Offensichtlich schafft Beraten Nähe und Beurteilen Distanz.
Und doch existiert Gemeinsames: Jede Wahrnehmung enthält Urteilsprozesse. Was wir sehen, filtern und interpretieren wir bzw. setzen wir in einen Sinnzusammenhang. «Diagnose» machen wir Dozierende bei Beurteilungen, aber auch in Beratungen.
Von Beraterinnen und Beratern wird zu Recht erwartet, dass sie eine hohe Orientierungskompetenz und Problemlösefähigkeit besitzen sowie über diagnostische Fähigkeiten verfügen. Sie müssen zudem in der Lage sein, den Beratungsprozess zu steuern und den Entwicklungsprozess der Beratenen anzuregen. Dazu ist ein hohes Mass an Urteilsfähigkeit gefordert.
Handlungsmöglichkeiten im Dilemma «Beraten – Beurteilen»
In vielen Organisationen wird – wie weiter oben erwähnt – darauf geachtet, dass diese Funktionen personell getrennt werden. Wo dies nicht möglich ist, kann darauf geachtet werden, dass Beurteilungssituationen klar als solche definiert sind und sich vom übrigen Lerngeschehen möglichst unterscheiden.
Weitere Möglichkeiten:
Rollentransparenz, Kommunikation des eigenen Umgangs mit widersprüchlichen Rollen seitens der oder des Dozierenden (im Rahmen von transparenten Vorgehensweisen und Vereinbarungen),
die Förderung des beidseitigen Interesses, die Ausbildungssituation als Lerngelegenheit mit vielen Rückmeldungen zu nutzen,
Beratungssituationen nicht als «Wolf im Schafspelz» missbrauchen,
Beratungen oder Beratungsphasen als solche kontraktieren und darin gemeinsam an Diagnose, Problemdefinierung und Problemlösung arbeiten,
klar mitgeteilte und diskutierte (evtl. ausgehandelte) Lernziele und Erfolgskriterien,
einsichtige und transparente Beurteilungen,
Selbst- und Fremdbeurteilungen im Verlauf des Studiums,
Sorgfalt und Wertschätzung beim Beurteilen von Leistungen,
als unsinnig erkannte Beurteilungsverfahren und -kriterien ändern.
Im folgenden Abschnitt finden Sie verschiedene Begriffspaare im Umkreis der Thematik «Beraten – Beurteilen».
Sie, liebe Leserin, lieber Leser, sind – davon gehe ich aus – in einer Berufsrolle tätig, in der Sie sich für Ihren eigenen Weg im handelnden Umgang mit den Dilemmata zwischen Beurteilen und Beraten entscheiden müssen.
Reflexionsfragen Dilemmata zwischen «Beraten und Beurteilen»
Wählen Sie aus der folgenden Tabelle drei Begriffspaare aus, die Sie im Alltag in der Lehre als Widerspruch erfahren.
Wie gehen Sie damit um?
Gibt es diesbezüglich «einfachere» und «schwierigere» Situationen? Welche?
Welches sind für Sie gelungene Wege, mit dem Dilemma umzugehen?
Abb. 6 Nach Thomann 2013, S. 199
Schlussgedanken
Für die Kompetenzentwicklung von Dozierenden erachte ich folgende Punkte als wesentlich: Das alltägliche Rollenmanagement, das Aushalten von Widersprüchlichkeiten zwischen differierenden Rollenvorgaben und deren Austarieren, das Transparentmachen von Rollenwechseln, das Steuern des eigenen Verhaltens in Dimensionen und die Reflexion durch immer wieder notwendige Standortbestimmungen.
Die Spannungen im weiter oben beschriebenen Rollenstrauss zeugen von Lebendigkeit und Dynamik, von Auseinandersetzungen zugunsten der Lernprozesse der Studierenden wie auch der Lehrenden. Wobei es zugegebenermassen eine anspruchsvolle Aufgabe ist, die Balance zwischen Lern- und Lehraktivität immer wieder neu herzustellen und die sich laufend verändernden Lerngewohnheiten der Lernenden dabei zu berücksichtigen.
Ich erachte eine solche Aufgabe als sehr attraktiv und durchaus auch als ein wenig waghalsig.
Attraktiv daran ist gerade die Möglichkeit, als Dozent/in auch beratend tätig zu sein, sich gemeinsam mit einer Studentin/einem Studenten (oder einer Gruppe von Studierenden) «auf den Weg» zu machen, gemeinsam Mustererkennung zu betreiben.
Beraten innerhalb der Lehrfunktion ist möglich, notwendig, wirksam und bereichernd. Aber nicht immer, nicht überall und nicht irgendwie. Wenn beraten wird, soll dies zu bestimmten Zeitpunkten und in einer professionellen Art und Weise geschehen. Dazu soll Ihnen dieser Text und die mit ihm in Zusammenhang stehenden «Instrumente», wie auch die weiteren Beiträge in diesem Buch, Anregung bieten. Ein waghalsiges Unternehmen ist dies allemal, weil Lernprozesse nie linear verlaufen und gelegentlich für Überraschungen sorgen.
Literatur
Arnold, R. (2007). Ich lerne, also bin ich – eine systematische konstruktivistische Didaktik. Heidelberg: Carl-Auer-Verlag.
Fatzer, G. (Hrsg.) (2005). Supervision und Beratung. Köln: Edition Humanistische Psychologie.
Fröhlich Luini, E. & Thomann, G. (2004). Supervision und Organisationsberatung im Bildungsbereich. Bern: hep verlag.
Kaiser, A. (Hrsg.) (2003). Selbstlernkompetenz – Metakognitive Grundlagen selbstregulierten Lernens und ihre Umsetzung. München: Luchterhand.
Landwehr, N. & Müller, E. (2008). Begleitetes Selbststudium. Bern: hep verlag.
Lippitt, G. & Lippitt, R. (1995). Beratung als Prozess. Leonberg: Rosenberger Fachverlag.
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1Der Kontrakt ist eine auf freiwilliger Basis ausgehandelte Vereinbarung zum gewünschten Beratungsziel, zu Pflichten und Rechten beider «Parteien», zur Arbeitsweise und zu Rahmenbedingungen. Der Kontrakt ist sozusagen der verbindliche Abschluss der Auftragserteilung.
2Absichtlich wird hier aus Gründen der höheren Trennschärfe zu anderen Rollen «Beratung» als Überbegriff verwendet, nicht etwa «Coaching»; Coaching zeichnet sich u. a. durch hohe Zielorientierung sowie durch mögliche integrierte Instruktionsanlässe aus (vgl. Fröhlich Luini/Thomann 2004).