Читать книгу Heimische Heil- und Vitalpilze. Kompakt-Ratgeber - Gerit Fischer - Страница 8
ОглавлениеEthnomykologie – die Kulturgeschichte der Pilze
Die Ethnomykologie ist – wie die Ethnobotanik – ein Teilbereich der Völkerkunde. Die Begriffe stammen aus dem Griechischen: »éthnos« für Volk, »mykes« für Pilz und »logos« für Lehre – also die Lehre vom Pilzwissen der Völker. Das Pilzwissen des Menschen ist älter als die Menschheit selbst. Anders gesagt: Die Menschen haben den kompetenten Umgang mit Pilzen aus ihrer Zeit als Primaten mitgenommen, denn das Pilzwissen der Tiere ist unbestritten. Und warum sollten die frühen Menschen ihr Wissen im Zuge der Menschwerdung vergessen haben?
Das Mycel der Pilze ist mit unserer Kultur eng verflochten, ihre Verwendung durch den Menschen schon seit Urzeiten belegt: Auf der ganzen Welt gibt es Ritzzeichnungen und Höhlenmalereien von Pilzen, z. B. auf den Megalithen im englischen Stonehenge. Pilze wurden vielfältig genutzt: zum Essen, Trinken, Heilen, Feuermachen, Rauchen, Räuchern, Lieben, Färben, Zaubern, Töten, als Mückenschutz und natürlich zu religiösen Zwecken. Es ist gut möglich, dass Pilze den Menschen die Spiritualität erschlossen haben.
Die Menschheit lässt sich klar in Pilzliebhaber und Pilzverächter gliedern. Eindeutig mykophil, also »pilzfreundlich«, sind Italien, Skandinavien, Russland und das Baltikum, als mykophob hingegen gelten England und die USA. Den pilzliebenden Völkern haben wir hinsichtlich der Verwendung von Pilzen einen immensen Erfahrungsschatz zu verdanken.
PILZE UND DAS FEUER
Viele verschiedene Pilze wurden einst zum Feuermachen verwendet, darunter vor allem verholzende wie der Echte Zunderschwamm, der Falsche Zunderschwamm bzw. Gemeine Feuerschwamm, der Rotrandige Baumschwamm, der Flache Lackporling und der Lärchenschwamm, aber auch der Birkenporling sowie Stäublinge und andere Boviste.
Mann im Eis
Er ist einer der berühmtesten Österreicher der Welt: »Ötzi«, ein Wanderer, der in der späten Jungsteinzeit (ca. 3200 Jahre v. Chr.) bei der Überquerung der Ötztaler Alpen ums Leben gekommen ist. Seine Leiche wurde im Gletscher hervorragend konserviert, bis das Eis im Ausnahmesommer 1991 schmolz und er von Bergwanderern entdeckt wurde.
Bei ihm wurden Birkenporlinge und Zunderschwamm gefunden. Ihre Heilwirkung deckt sich mit den Leiden, die an der Mumie festgestellt wurden; er hatte sie also nicht nur als Zunder dabei. Der Fund belegt zweifelsfrei, dass Menschen in Europa schon vor mehr als 5200 Jahren Pilze zu Heilzwecken nutzten. Leider wurde dieses Wissen hier im Westen für lange Zeit vergessen.
Die Pilze der Indianer
Aus Nordamerika liegt ein reicher Fundus an Heilpilzwissen der Ureinwohner vor. Die Ökosysteme der »Americas« (Nord-, Mittel- und Südamerika) sind viel artenreicher als jene Europas, denn dort verlaufen die großen Gebirgszüge in Nord-Süd-Ausrichtung. Während der Klimaverschiebungen im Laufe der Erdgeschichte konnten daher die Arten ungehindert – je nach Bedarf – nach Norden oder Süden ausweichen, während Europas Flora und Fauna nach Norden hin vom Meer und nach Süden hin von den Alpen begrenzt wurde. Bei jeder gröberen Klimaveränderung gingen uns Arten verloren. Unter den Pilzen der Indianer sind einige, die auch in Europa vorkommen, z. B. Zunderschwamm, Rotrandiger Baumschwamm, Schwefelporling, Zinnobertramete.
Pilze im Christentum
Zur Zeit der Hexenverfolgung, als die alte Spiritualität und die neue christliche Religion aufeinanderprallten, wurden Pilze untrennbar mit dem Heidnischen, dem Bösen verbunden. Wörter wie Hexenei und Krötenstuhl (das englische »toadstool« steht für giftige Pilze) zeugen bis heute davon. Kein Wunder, spielten sie doch eine bedeutende Rolle in der angestammten Religion. So wurden Pilze in weiten Teilen Europas fortan dämonisiert und mit dem Finsteren, dem Modrigen, mit Schlangen und Lurchen assoziiert. Und was wäre schon eine Hexensuppe ohne Pilze?
Dennoch finden sich Pilze – mehr oder weniger offensichtlich – in frühen Darstellungen in vielen christlichen Kirchen und Bibelübersetzungen.
VON HEXEN UND ELFEN
Diese auffälligen Formationen in der Wiese (→ Abbildung, Seite 15) sind von mystischer Faszination. Auch wenn man vielleicht Respekt davor hatte, wurden sie früher nicht verteufelt. Sie galten als magische Spielwiese der Naturgeister, der Elfen und Feen. Erst später wurden sie bösen Hexen und Zauberern zugeschrieben, denen sie angeblich als Schutzwall für ihre satanischen Beschwörungen dienten.
»Elfenbänke« sind flache Baumpilze, auf denen sich dann und wann Elfen »ausruhen«.
ZITAT
»Die auf lebenden und gefällten Bäumen wachsenden Pilze sind ziemlich geeignet, für den Genuss und bisweilen auch für die Medizin.«
Hildegard von Bingen, 12. Jh. n. Chr.
»Fliegen« dank Pilz
Zu rituellen Zwecken wurden Fliegenpilze in Nord- und Osteuropa den Rentieren verabreicht (oder vom Schamanen selbst gegessen), um daraufhin den Urin aufzufangen. Darin sind nämlich die halluzinogenen Substanzen aufgereinigt (die giftigen Komponenten wurden vom Organismus bereits verarbeitet). Allerdings wurde beobachtet, dass Rentiere die Pilze sogar selbst suchen. Heute wird jedoch das Vergiftungspotenzial der Fliegenpilze oft unterschätzt. Eine Fliegenpilzvergiftung ist zwar nicht lebensbedrohlich, doch können Vergiftungssymptome von Magenkrämpfen bis Lähmungen auftreten. Das Verschwimmen der eigenen körperlichen Grenzen wird je nach Veranlagung als pure Seligkeit oder als Horrortrip erlebt. Wer psychisch labil ist, muss mit einer bleibenden Psychose oder Angststörung rechnen. Um solche Nebenwirkungen sicher zu vermeiden, müsste das Gift so niedrig dosiert werden, dass auch die Rauschwirkung kaum wahrnehmbar ist. »Wer vom Fliegenpilz isst, der wird verrückt, er tanzt, singt, fliegt und vergisst«, sagt
Friedrich Georg Jünger in seinem Gedicht »Fliegenpilze«. Tatsächlich ist der Fliegenpilz-Rausch ein Delirium, an das man hinterher keine Erinnerung hat.
Pilze in Asien
Die Kulturen des Fernen Ostens sind in ihrer Pilzverehrung wohl unerreicht. Namen wie »Pilz der Götter«, »Pilz des ewigen Lebens« oder »Pilz des Blumenhimmels« zeigen dies deutlich. Manche Pilze wurden sogar in Silber aufgewogen. Auch alte chinesische Weisheiten (Quelle unbekannt) sprechen von einer ausgeprägten Mykophilie:
Sie haben keine Knospen, Blätter, noch Blüten.
Und dennoch haben sie Früchte.
Köstliche Nahrung, gar Medizin.
Eine Vollendung der Natur.
Oder:
Pilze kommen aus der Essenz der Berge und Täler, Wolken und Regen, aus den vier Jahreszeiten, den fünf Elementen, Yin und Yang und Tag und Nacht hervor. Pilze wachsen nur dann, wenn die Herrscher zum Volk und Land gerecht und gut sind. Sie sind kostbar, schwer zu finden und von einem Geheimnis umhüllt.
In der Traditionellen Chinesischen Medizin wird das detaillierte Wissen über den therapeutischen Einsatz von Pilzen seit über 4000 Jahren kultiviert. In Korea, Japan und China ist die Verwendung der Medizinalpilze fester Bestandteil der ärztlichen Kunst.
Pilze in der westlichen Medizin
Während die alten Medizintraditionen weltweit auch Großpilze einsetzen, nutzt die moderne westliche Medizin bis dato nur mikroskopische Pilze. Aus ihnen werden isolierte Wirkstoffe gewonnen, wie z. B. Penicillin und Lovastatin aus verschiedenen Schimmelpilzen. Doch entstehen fast täglich neue Studien, die die biochemischen klinischen Eigenschaften der traditionellen Vitalpilze nach westlichen Maßstäben genau analysieren. So entdeckt man auch hierzulande – nach jahrtausendelanger Unterbrechung – das Heilpotenzial der Großpilze.
Back to the roots
Junge Erwachsene wissen immer weniger über Pilze, ihnen fehlen Naturerfahrung und Naturbezug. Gleichzeitig ist eine sehr lebendige Do-it-yourself-Bewegung zu beobachten, und »altes Wissen« ist wieder gefragt. Bei all den hochkomplexen, undurchschaubaren Technologien, die wir täglich nutzen, kann Nachvollziehbarkeit sehr wohltuend sein. Einfache Anwendungen mit wenigen elementaren Zutaten, mit denen man sich sogar selbst versorgen kann, haben einen besonderen Reiz. Man ist auf keinen Händler angewiesen und wird so vom Konsumenten zum Produzenten. Und plötzlich tun sich Möglichkeiten auf, die der Handel gar nicht bietet, wir finden vielleicht sogar Zugang zu einem Know-how, das seit unseren Groß- und Urgroßeltern nicht mehr angewendet wurde.