Читать книгу Im Zeichen der Zwillinge - Germar Wiehl - Страница 5
Leben wie Gott in Frankreich
ОглавлениеEinige Tage später: Das Telefon läutete.
»Marie aus Maussanne hat angerufen, ob wir im Sommer wieder in die Provence fahren. Sie und Lucien würden gern der Augusthitze entfliehen und am kühleren Atlantik Urlaub machen. Ob wir denn ihre Katzen versorgen könnten«, berichtete Jonas.
»Ja gern, wir wollten doch schon lang wieder in unser französisches Domizil. Ich freu mich schon so auf die Provence, die Katzen und das fantastische Essen«, frohlockte Clara.
»Clara, weißt du was, das bringt mich auf eine Idee!«
»Sag schon.«
»Wir sind dann doch ganz in der Nähe von Joes Haus in St. Remy. Lass uns dort mal nachsehen. Sollte Joe wirklich noch am Leben sein, kriegen wir da vielleicht was raus.«
Die Stimmung der beiden besserte sich schlagartig. Die Hoffnung etwas Neues herauszufinden und die mit der Reise verbundenen Vorbereitungen ließen sie ihren Kummer ein wenig vergessen.
Der Touring stand vollgepackt in der Einfahrt. Für ihre provençalischen Nachbarn hatten sie Spezialitäten aus Bayern eingepackt: einen Kasten Weißbier, im Autokühlschrank Weißwürst, eingefrorene Brezen und den Weißwurstsenf vom Händlmaier für das gemeinsame Essen am Tag nach der Ankunft. Wie immer waren auch zwei Campingstühle und ein kleiner Sonnenschirm für den Badeausflug ans Meer mit an Bord.
Sie starteten schon ganz früh am Morgen, lag doch eine Fahrstrecke von 1000 km vor ihnen. Die Fahrt bis Bregenz verlief reibungslos, der Verkehr durch die Schweiz rollte zügig dahin, bei Lyon gab es den üblichen Stau. Je weiter es nach Süden ging, umso voller wurde die Autoroute du Soleil. Stoßstange an Stoßstange zog die Karawane der Sonne entgegen.
Nach Montélimar gab es für längere Zeit nur noch Stop and Go, wie sich später herausstellte, war ein Auffahrunfall die Ursache. Danach kamen sie wieder besser voran, bis sich bei Orange der Himmel verfinsterte. Ein Gewitterregen prasselte übers Land, die Scheibenwischer wurden den Wassermassen nicht mehr Herr, Sicht gleich Null, jetzt ging nur noch Schritttempo. Nach schier endloser Fahrt ließ der Regenguss nach, die Ausfahrt von Avignon war bald erreicht.
Sie waren froh, die Autobahn endlich verlassen zu können. Schon war die blaue Brücke zu sehen, die für die beiden das Tor zur Provence bedeutete. Von hier führte die Landstraße Richtung St. Andiol, bis Maussanne-les-Alpilles war es nicht mehr weit. Das Gewitter war vorbei, die Wolken verzogen sich, die Straße dampfte und die Abendsonne strahlte provençalisch schön.
Bald waren sie am Ziel. Schon kam die Abzweigung zum kleinen alten Häuschen am Ortsrand. Vor ihnen tauchte ein verwunschenes, etwas verwildertes Gärtchen auf. Rund ums Haus wuchsen rot, rosa und weiß blühende Oleanderbüsche. Ein knorriger Olivenbaum überschattete den Sitzplatz neben dem Eingang. Endlich angekommen! Erschöpft, aber glücklich stiegen sie aus dem Auto. Die leuchtend blau gestrichene Haustür hieß die Ankömmlinge willkommen.
Sie freuten sich auf das in die Jahre gekommene Häuschen, das ihnen die ebenfalls in die Jahre gekommene Tante Berta überlassen hatte. Die Tante schaffte die weite Fahrt nicht mehr und war froh, dass sich jemand um ihr Häuschen kümmerte. Die Tür knarzte, drinnen roch es muffig. Sofort wurden Fenster und Fensterläden geöffnet, die warme, nach dem Gewitter würzig frische Luft strömte ins Haus. Dann nahmen sie den Kühlschrank in Betrieb, zum Glück funktionierte er noch, und räumten die von zu Hause mitgebrachten Flaschen und Lebensmittel ein. Sie luden die Koffer aus, stellten sie ins Schlafzimmer, wo erst noch das Bett frisch bezogen werden musste.
An der offen stehenden Haustür klopfte es, die Nachbarn hatten ihre Ankunft bemerkt. Man begrüßte sich herzlich, Küsschen hier, Küsschen da, wie es in der Provence Brauch ist.
»Schön, dass ihr wieder hier seid. Ca va? Wie geht's? Wie war die Fahrt? Kommt doch zu uns rüber, lasst uns mit einem Brut Rosé von Les Baux anstoßen!«
Sie nahmen die Kühltasche mit den bayrischen Spezialitäten mit zum Mas, dem stattlichen Landhaus von Marie und Lucien Legard.
Die Einfahrt zum Nachbaranwesen war gesäumt von hohen Zypressen, umgeben von drei Hektar Olivenhain. Vor dem Eingang spendete eine ausladende Platane Schatten, rings ums Haus standen Terracottatöpfe, bepflanzt mit farbenprächtig blühenden mediterranen Pflanzen. Rosen rankten am Haus, die zusammen mit Lavendel, Rosmarin und Thymian einen betörenden Duft verströmten.
Gern ließen sich Clara und Jonas bei ihren Nachbarn auf dem einladenden Sitzplatz unter der Platane nieder. Laut zirpten die Zikaden ihr provençalisches Lied. Die Sektgläser wurden mit erfrischend prickelndem Rosé Methode Traditionelle gefüllt, einem champagnerartigen Schaumwein wie Crémant, dazu gab es Apéro-Oliven in verschiedenen Geschmacksrichtungen, aromatisiert mit Fenchelsamen, Knoblauch, Chili, Herbes de Provence, dazu Fougasse, ein köstliches provençalisches Gebäck.
Man tauschte sich aus, wollte dies und das wissen, alle redeten durcheinander. Clara und Jonas waren noch nicht ganz in der französischen Sprache angekommen. Das Verstehen ging einigermaßen, doch das Sprechen bereitete noch Schwierigkeiten, es klang holprig, oft stockend und strotzte vor eigentlich doch vermeidbaren Fehlern.
Trotzdem verstanden sich die Paare prächtig und es wurde viel gelacht. In der Abenddämmerung gesellte sich die erste Katze zur fröhlichen Runde. Es war Coco, ein braunes, zierliches, besonders schmusiges Kätzchen. Sofort erkannte sie die Nachbarn wieder, schmiegte sich an ihre Beine und schwups! sprang sie Jonas auf den Schoß.
Clara und Jonas wurden allmählich müde und verabschiedeten sich von den Nachbarn. Noch schnell die Koffer ausgepackt, hundemüde nach der langen Fahrt gingen sie zu Bett, kuschelten sich aneinander und waren bald eingeschlafen.
***
Die Morgensonne erleuchtete das kleine Schlafzimmer, Clara blinzelte kurz und schlief wieder ein. Jetzt traf ein Sonnenstrahl Jonas' Gesicht, er wachte auf, wurde munter und beschloss aufzustehen. Nachdem er sich fertig gemacht hatte, holte er das alte rostige Damenfahrrad aus dem Schuppen und kaufte beim Bäcker ein. Frisch duftende Croissants und ein knuspriges Baguette durften beim Frühstück nicht fehlen. Auch zwei Tartelettes, kleine runde Obsttörtchen, die Clara so gern mochte, brachte er mit.
Inzwischen war seine Frau schon auf, der Kaffee fertig und der Tisch vor dem Haus mit Tante Bertas Blümchengeschirr gedeckt. Kaum saßen sie beim Frühstück, bekamen sie Besuch. Ein rothaariges Kerlchen mit zottigem Fell tauchte auf. Es war Idefix, der Starkater der Nachbarn, den das Paar ganz besonders ins Herz geschlossen hatte. Wenn er erschrak, konnte der kleine Kerl einen Meter senkrecht in die Höhe hüpfen. Außerdem war er blitzschnell und blitzgescheit.
Der erste Urlaubstag ließ sich so richtig gut an. Das Thermometer war schon auf 31 Grad geklettert, der Gesang der Zikaden wurde lauter. Gegen Mittag traf man sich bei den Nachbarn zum Weißwurstessen mit gut gekühltem Weißbier im Schatten der Platane. Der bayrische Imbiss mundete allen, es gab viel zu erzählen, hatten sich die Freunde doch mehr als ein Jahr nicht mehr gesehen. Man erkundigte sich nach den Kindern, berichtete vom Studienabschluss und erfolgreichem Einstieg ins Berufsleben, auch eine Hochzeit war zu vermelden. Schließlich erzählte Jonas mit trauriger Stimme vom Verschwinden seines besten Freundes.
»Stellt euch vor, auch Joes Kater, mit dem er immer spazieren ging, ist spurlos verschwunden«, fügte Clara hinzu.
Entsetzt murmelten Marie und Lucien immer wieder:
»C’est bizarre.«
Man äußerte die Hoffnung, dass Joe samt Kater wieder auftauchen würde. Die anfangs so heitere Stimmung kippte, alle vier saßen nun still da und schauten nachdenklich drein.
Coco, das kleine Schmusekätzchen, streifte vorbei, wurde von allen gestreichelt, zog unternehmungslustig weiter und verschwand im Olivenhain. Clara und Jonas vermissten die anderen Katzen, die sich noch nicht hatten blicken lassen. Ob alle wohlauf seien, wollten sie wissen, waren ihnen doch alle Miezen der Nachbarn ans Herz gewachsen.
»Wie geht es denn Mimí, eurer Prachtkatze?«, fragte Clara.
Mimífanou, genannt Mimí, war die Mutter von Benni. Die zwei grauen Tiger waren unzertrennlich.
»Mimí hatte im Winter einen bösen Unfall«, erzählte Marie. »Eines Nachts kam sie nicht wie gewöhnlich nach Hause. Am Morgen war sie immer noch nicht da. Wir haben uns große Sorgen gemacht, auch Benni war nervös. Mit ihm sind wir durchs Gelände gezogen, haben gesucht und gerufen. Benni ist immer wieder losgelaufen, unter Büschen verschwunden und maunzend, mit hängendem Schwanz zurückgekommen. Traurig gaben wir die Suche auf. Am Nachmittag schleppte sich Mimí schwer verletzt ins Haus. Die Schnauze war zertrümmert, sie blutete aus dem Maul, total erschöpft ließ sie sich auf ihrem Lieblingsplatz im Körbchen neben dem Sofa nieder. Wir sind sofort mit ihr zum Tierarzt. Der meinte, das sei knapp gewesen, aber mit Antibiotikum und liebevoller Pflege würde sie es wohl schaffen. Gott sei Dank, er hatte recht. Was ihr widerfahren war, wissen wir nicht, sie konnte es ja nicht erzählen. Nach einer Weile erholte sie sich, das Schnäuzchen ist seither zwar etwas deformiert, aber unsere Mimí ist wieder ganz die Alte.«
»So ein Glück«, meinte Jonas. »Auf das Doppelpack Mimí und Benni freuen wir uns schon.«
»Schön, dass ihr unsere Miezen wieder betreuen wollt, sie mögen euch wirklich gern«, erwiderte Marie, »aber wir müssen euch etwas gestehen. Jetzt sind es fünf! Im Frühjahr ist noch ein grau-brauner Tiger aufgetaucht. Ein lieber stattlicher Kater, wir haben ihn Sam getauft, weil wir ihn an einem Samstag kennengelernt haben. Er ist unkompliziert und friedlich und verträgt sich gut mit den anderen Vieren.«
»Na, da sind wir aber gespannt auf die Nummer 5. Sam will wohl erst mal bei euch im Mas gefüttert werden, bis er uns besser kennt und sich in unser Häuschen rüber traut.«
»Ihr macht das schon richtig«, war sich Marie sicher, »wir wissen, dass ihr mit Katzen gut umgehen könnt. Da sind wir ganz beruhigt.«
Nun erläuterten die Franzosen ihre Reisepläne an den Atlantik. Nach der drückenden Hitze hier freuten sie sich auf eine kühle Brise und erfrischende Nächte.
»Wie lange bleibt ihr denn am Atlantik?«, erkundigte sich Clara.
»In zwei Wochen kommen wir wieder zurück.«
»Gibt es sonst noch was für uns zu beachten, außer Miezen betreuen und Pflanzen gießen?«
»An der Garagenwand haben wir einen Zitronenbaum gepflanzt. Der braucht alle drei Tage eine große Gießkanne voll Wasser. Und Obst könnt ihr ernten, Nektarinen und Pfirsiche sind schon reif, die Feigen brauchen noch ein bis zwei Wochen«, erklärte Lucien. »Die Marokkaner kommen nächsten Samstag, um die Olivenbäume zu wässern. Wäre nett, wenn ihr ihnen ein paar Wasserflaschen aus dem Kühlschrank hinstellt. Die armen Kerle schuften den ganzen Tag in der Hitze.«
»Na, dann wäre ja alles geklärt. Wir lassen euch jetzt allein, damit ihr packen könnt.«
Nach der Schlüsselübergabe umarmten sich die Freunde, verabschiedeten sich herzlich mit Küsschen und wünschten gute Fahrt und einen schönen Urlaub.
Jonas und Clara zogen sich in ihr Gärtchen zurück. Am Sitzplatz vor dem Haus ließen sie sich im Schatten des knorrigen Olivenbaums nieder, freuten sich über die üppig blühenden Oleanderbüsche, den Duft von Lavendel und Thymian, den laut anschwellenden Gesang der Zikaden. Gemeinsam schmiedeten sie Pläne für die nächsten Tage.
Da platzte der Klingelton von Jonas' Handy in die nachmittägliche Ruhe des ersten Urlaubstages.
»Jonas Winter ... ja hallo Herr Dr. Bader ... ja, Sonne pur, über 30 Grad ... nein, sprechen Sie mit Frau Lechner, sie hat alle schon fertigen Kapitel für die Technologiebroschüre ... ja, etwa Ende September könnte ich den vollständigen Entwurf im Vorstand präsentieren ...«
Clara wandte sich ab und ging nach draußen. Sie wusste, dass derartige dienstliche Gespräche mit Jonas' Chef meist länger dauerten und in der Regel schlechte Laune bei ihrem Mann hervorriefen, zumal er im Urlaub seine Ruhe haben wollte. Ein paar Minuten später kam Jonas in den Garten und schaute in der Tat etwas griesgrämig drein.
»Kann die Firma ITaNS nicht mal eine Woche auf dich verzichten!? Was ist los?«, entrüstete sich Clara.
»Gut, diesmal verstehe ich seinen Anruf, das mit der Technologiebroschüre war nur ein Vorwand. Der eigentliche Grund hängt mit Joes Verschwinden zusammen.«
»Wieso, das ist doch schon fast zehn Jahre her, als Joe noch für ITaNS gearbeitet hat.«
»Die Kripo war bei Bader und wollte alles mögliche über Joes frühere Tätigkeit wissen. Die stochern jetzt in seiner Zeit in Florida rum, als Patricia 2003 bei einem Autounfall ums Leben kam. Bader fragte, was ich von dieser ominösen Erfindung wüsste, die Joe und seine Mitarbeiter in Arbeit hatten, die aber dann nie zum Patent angemeldet wurde, weil die Unterlagen verschwunden sind.«
»Und weißt du davon, hast du dem Bader was gesagt?«
»Klar weiß ich das, es war furchtbar und ziemlich verzwickt. Als ich 2004 auf einem meiner Business Trips Joe in Miami besucht habe, hat er mir alles über diese Erfindung und die katastrophalen Folgen erzählt.«
»Ja, ich erinnere mich, Joe hat wegen Patricias Tod die Firma verlassen. Aber von einer folgenschweren Erfindung hast du mir damals nichts erzählt. Wieso denn die Geheimniskrämerei? Warum weiß ich davon nichts? Seit Tagen sorgen wir uns um Joe und grübeln über sein Verschwinden und du legst die Karten nicht offen auf den Tisch. Wo bleibt da das Vertrauen? Mich lässt du im Unklaren, aber der Bader bekommt Informationen, die du mir verschweigst!«, regte sich Clara auf.
»Dem Bader habe ich nichts erzählt, was er nicht schon wusste«, sagte Jonas trotzig. »Und die Details dieser Erfindung sowie ihre Auswirkungen sind überhaupt nur Security-Spezialisten zu erklären. Dazu zählst du ja wohl nicht Clara, oder?«
»Der technische Kram interessiert mich herzlich wenig. Aber offensichtlich hat Joe dir etwas anvertraut, was mit dem Unfall zu tun hat. Vermutlich hatte er irgendeinen Verdacht und ist dann selber in Gefahr geraten. Pass nur auf, dass du da nicht auch noch reingezogen wirst! Einsame Wölfe leben gefährlich!«
***
Am nächsten Morgen zeigte sich die Provence wieder von ihrer besten Seite. Die Sonne strahlte, kein Wölkchen trübte den tiefblauen Himmel, die Temperatur war noch angenehm frisch. Clara kümmerte sich um das Frühstück, während Jonas zum Nachbaranwesen ging, um die Katzen zu versorgen. Ganz in der Früh waren die Nachbarn schon abgereist.
Als Jonas das schwere eiserne Tor aufschloss, lief ihm schon Mimí, das grau getigerte Kätzchen entgegen. Sogleich sprang auch Sohn Benni herbei, hochbeinig, dunkel getigert. Zutraulich rieb er seinen Katerkopf an Jonas' Bein. Zu dritt marschierten sie die Auffahrt zum Mas entlang. Voraus Mimí, gefolgt von Benni, steuerten sie zielstrebig auf den Eingang zu. Während Jonas die Tür aufsperrte, waren die Tiger durch die Katzenklappe ins Haus geschlüpft.
Erwartungsvoll standen die beiden schon in der Küche. Blitzblank geschleckt waren die Tellerchen, in einer Schüssel gab es noch Brekki. In der Ecke hatte Marie stapelweise Kartons mit Katzenfutter bereitgestellt. Jonas füllte alle Fressnäpfe, über die sich Mimí und Benni gleich hermachten. Aus dem Salon tauchte Idefix auf, verdrängte Mutter und Sohn. Benni machte bereitwillig Platz, Mimí fauchte, der Macho schleckte kurz und trollte sich dann wieder. So war er halt, der Chef. Jetzt klapperte die Katzenklappe, eine hungrige Coco leckte ein volles Tellerchen leer. Zufriedene satte Katzen putzten sich, ließen sich gern von Jonas streicheln, nur Nummer 5, der neue Kater war nicht da.
Nach dem Frühstück wurde Jonas nun langsam ungeduldig: »Bitte lass uns zuallererst nach St. Remy fahren und nach Joes Haus schauen. Wenn dann noch Zeit bleibt, können wir auf dem Rückweg Wein holen und auf dem Markt in Eygalières einkaufen.«
Als sie losfuhren, war es richtig heiß geworden, das Thermometer im Touring zeigte schon über 30 Grad. Sie öffneten das Schiebedach, ließen die Scheiben herunter, der Fahrtwind umschmeichelte die Urlauber, die die kurvige Fahrt auf engen Nebenstraßen durch die hügelige, von hellen Felsen durchzogene Landschaft der Alpilles, der Alpenkette des Parc Naturel Régional des Alpilles genossen. Die Sonne strahlte vom azurblauen Himmel. Silbergrün glänzten die Olivenbäume im Sonnenlicht, mit Weinreben bedeckte sanfte Hügel wechselten sich ab mit der wilden Garrigue, einer Strauchregion, bewachsen mit würzig duftenden Kräutern und niedrigen Sträuchern, die genügsam auf dem steinigen Boden gedeihen. Durchs offene Schiebedach erklang das unermüdliche Zirpen der Zikaden.
Im quirligen St. Remy lag Joes Haus am Stadtrand in absolut ruhiger Lage. Jonas stellte schnell fest, dass alles abgesperrt und geschlossen war, auch sämtliche Fensterläden. Mehrmaliges Klingeln blieb unbeantwortet, leider auch beim Nachbarn, der offensichtlich verreist war. Enttäuscht fuhren die beiden wieder fort und erledigten die Weineinkäufe.
Nach zahlreichen Aufenthalten in der Provence, die ihnen inzwischen zur zweiten Heimat geworden war, hatten sie einige Lieblingswinzer auserkoren, deren Weine sie besonders schätzten. Während Jonas eher den Roten bevorzugte, liebte Clara die provençalischen Roséweine, die man in der Provence schon seit alters her produziert und gern kühl getrunken hat, lange bevor sie in der übrigen Welt in Mode gekommen sind. In der Erzeugung von Roséweinen sind die provençalischen Winzer weltweit Spitzenreiter.
Heute war das Ziel Mas St. Bernard, ein Weingut in der Nähe von Maussanne, malerisch gelegen unter dem trutzigen Massiv von Les Baux, dem leider viel zu bekannten und von Touristen überlaufenen Ort mit engen Gässchen, der als eines der Plus Beaux Villages de France gilt, als eines der schönsten Dörfer Frankreichs. Die imposante Burgruine aus dem 11. Jahrhundert liegt auf einem Hochplateau, das 200 m steil aus der Hügelkette der Alpilles emporragt. Von dort oben bietet sich ein grandioser Ausblick übers Land, soweit die Touristenmassen dies im Hochsommer überhaupt zulassen.
Nach dem Einkauf beim Winzer ging die Fahrt weiter nach Eygalières. Wie immer am Markttag war der Parkplatz am Ortseingang rappelvoll. Die Stände reihen sich entlang der Hauptstraße durch den Ort, das Angebot an Produits Regionaux, regionalen Erzeugnissen, ist groß und wegen der Qualität und Auswahl bei den Einheimischen ebenso beliebt wie bei den zahlreichen gut situierten Ausländern, die sich hier in der Gegend angesiedelt haben. Auch Touristen schätzen das Ambiente des kleinen, aber feinen Marktes. Die malerisch dekorierten Marktstände mit den verführerischen Düften der Provence locken Käufer wie Schaulustige gleichermaßen an. Wer hier einkaufen will, braucht Zeit.
Beim Käsemann mit der riesigen Auswahl an französischen Köstlichkeiten stehen immer viele Kunden an, die nicht nur gut beraten und bedient werden wollen, sondern dabei auch ein Schwätzchen und Späßchen zu schätzen wissen. Das gehört in der Provence einfach dazu. Einkaufen ist hier kein notwendiges Übel, sondern Genuss mit allen Sinnen. Clara und Jonas hatten die Qual der Wahl. Sie entschieden sich für Chèvre, einen cremigen Ziegenweichkäse, St. Marcellin, einen würzigen Rohmilchkäse, sowie Cantal, einen deftigen Hartkäse.
»Jetzt brauchen wir nur noch ein Baguette«, freute sich Jonas, »dann können wir heute Abend leben wie Gott in Frankreich.«
Sie schlenderten vorbei am Gewürzstand, sogen all die betörenden Düfte ein, hier vermischten sich provençalische mit orientalischen Duftnoten.
Ihr nächstes Ziel war der Gemüsestand, frisch und farbenfroh türmten sich die Produkte der provençalischen Gärten vor ihnen auf. Clara war begeistert vom reichlichen Angebot an reifen Früchten, Gemüse aller Art, Tomaten, reif und prall, von grün über gelb bis knallrot, ein Formen- und Sortenreichtum, den es nur hier in der Provence gibt.
Nachdem sie ihren Einkaufskorb mit Obst, Gemüse, Tomaten und Kräutern gut gefüllt hatten, zogen sie beschwingt weiter zum Lachsmann. Meist stehen vier bis sechs Leute geduldig an dem kleinen Stand am Ende des Marktes an. Hier gibt es Lachs von allerbester Qualität und Frische. Der Lachsmann, ein uriger Typ aus Marseille, immer freundlich und gut gelaunt, ist ein richtiges Showtalent. Mit witzigen Sprüchen, Geschichten aus seinem Leben und Gesangseinlagen verkürzt er den Kunden die Wartezeit. Mit einer Stunde Anstehen muss man schon rechnen. Doch das lohnt sich, vor allem wenn man im Urlaub alle Zeit der Welt hat.
Hier gibt es feinsten Räucherlachs, zart und hauchdünn geschnitten. Eine besondere Delikatesse ist das Carpaccio vom frischen Lachs. Die Scheiben sind so dünn, dass sie fast schon transparent sind. Zu Hause mit einem Spritzer Zitrone, etwas Fleur de Sel, dem handverlesenen Meersalz aus der Camargue und dem ausgezeichneten Olivenöl von Les Baux mariniert, mit frischem Baguette serviert, ist es ein Hochgenuss par excellance. Einfach, aber allerbeste Zutaten, dazu einen gut gekühlten erfrischenden Rosé, was gibt es Besseres?
Die Stammkunden wissen, dass sich hier das Anstehen lohnt. Jeder kauft große Mengen fürs Wochenende ein. Der Lachsmann holt einen ganzen Lachs nach dem anderen aus den großen mit Eiswürfeln gefüllten Behältern, zerlegt die stattlichen Fische fachgerecht und sorgfältig, keine einzige Gräte bleibt in den Tranchen zurück. Das braucht Zeit, während der die wartenden Kunden miteinander ins Gespräch kommen, Rezepte austauschen und sich die Zeit mit Small Talk vertreiben, bis sie endlich an der Reihe sind. Mit Vergnügen beobachteten Jonas und Clara das Treiben auf dem Markt und am Stand, versuchten, sich hin und wieder ins Gespräch einzumischen, was allerdings schwierig war, weil der provençalische Dialekt schwer zu verstehen ist.
Trotzdem begegnete man den Fremden freundlich und honorierte, dass sie sich bemühten, Französisch zu sprechen. Die Leute wollten wissen, woher sie kämen und nachdem sie erzählten, dass sie aus München seien, stießen sie allseits auf positive Resonanz.
»O là là, Munich, la Fête de la Bière.«
Nachdem sie ihren Lachs im wahrsten Sinn des Wortes erstanden hatten, kauften sie noch beim Bäcker ein.
»Jetzt aber nichts wie nach Hause, damit der Lachs noch vor der Mittagshitze frisch in den Kühlschrank kommt«, drängte Jonas.
»Ja, aber ich möchte noch eine Postkarte für Tante Berta, und La Provence, die Zeitung mit den neuesten Nachrichten aus der Gegend. Und dann brauchen wir noch eine Süddeutsche, könnte ja sein, dass die Polizei inzwischen mehr über Joes Verschwinden herausgefunden hat.«
Sie parkten das Auto vor Tante Bertas Häuschen, brachten die Einkäufe zum Eingang, wo Idefix schon auf der Bank auf sie wartete. Der kleine Fuchs interessierte sich für die Tüte mit dem Lachs und folgte ihnen in die Küche.
»Treues Katerchen«, lobte ihn Clara und servierte eine Portion Katzenfutter. »Jetzt geh ich aber gleich zum Mas und kümmere mich um die anderen Katzen. Bin gespannt, ob der neue Kater endlich auftaucht.«
Im Salon schlummerten Mimí und Benni aneinander gekuschelt auf dem Sofa. Sam ließ sich nicht blicken. Clara lief ins Freie, rief, lockte und wartete. Schließlich setzte sie sich auf die schattige Bank unter der Platane. Jetzt bewegte sich etwas im Olivenhain, kam langsam näher, blieb dann in sicherer Entfernung stehen. Eine große Katze! Oder ein Kater? Hoffentlich war es Sam. Das Tier bewegte sich langsam aufs Haus zu. Das musste Sam sein, stattlich und graubraun getigert. Da tauchte Coco auf, die beiden liefen aufeinander zu und stupsten sich mit den Näschen an, freundliche Begrüßung nach Katzenart. Das Kätzchen tänzelte voraus, der Kater folgte, und schwups! schlüpfte die Kleine durch die Katzenklappe, der Kater hinterher. Das konnte nur Sam sein. Jetzt galt es mit dem Kater Freundschaft zu schließen. Da, wie jeder weiß, die Liebe durch den Magen geht, folgte Clara den beiden in die Küche.
Coco hatte sich schon über einen Fressnapf hergemacht, Sam stand abwartend daneben. Schnell füllte Clara ein extra Tellerchen und servierte es dem Kater. Zögerlich kam er näher. Beruhigend redete Clara auf das Tier ein, streichelte ihm zart über das Köpfchen. Der Kater hielt kurz inne, schaute Clara mit seinen großen Kateraugen an und begann zu fressen.
Bald war das Tellerchen leer und der Kater satt. Er trottete ins Wohnzimmer und putzte sich. Clara ließ sich im Sessel nieder und beobachtete. Immer wieder possierlich, so eine Katzenwäsche. Ganz kurz streifte er Claras Beine, dann hüpfte er aufs Sofa, wo Mimí und Benni friedlich dösten und legte sich neben Benni. Clara stand langsam auf, ging zur Couch, streichelte zuerst Mutter und Sohn, die gleich schnurrten, strich dann dem Kater behutsam über den Rücken, der ließ es geschehen, auch Streicheleinheiten nahm er gern entgegen, und bald schnurrte auch Nr. 5, der neue Kater.
Nach einem ausgiebigen Mittagessen mit exzellentem Lachs und anderen Köstlichkeiten vom Markt war es Zeit für die Zeitungslektüre. Clara schaute sich erst die Wetterprognose für die nächsten Tage an, die wie fast immer in der Provence viel Sonne und Hitze versprach und war dann gespannt auf die Neuigkeiten aus der Region Salon-de-Provence. Ganz besonders interessierte sie, welche Ortschaft zurzeit en Fête war. Jedes kleine Dorf versteht es hier, sein ganz spezielles Fest auf traditionelle Weise zu feiern.
Jonas blätterte in der SZ, fand einen kurzen Bericht über Joe Moser, neue Erkenntnisse über den Fall gab es nicht, allerdings wurde berichtet, dass die Polizei die Suche nach dem Vermissten eingestellt hat.
»So eine Sauerei! Stell dir vor, die haben die Suche nach Joe eingestellt«, schimpfte Jonas.
»Das kann doch nicht wahr sein! Nach so kurzer Zeit können die doch nicht einfach aufgeben«, empörte sich Clara. Schweigsam saßen sie da, die Stimmung blieb gedrückt.
»Lass uns einen Spaziergang machen«, schlug Clara vor.
Nachdenklich liefen sie durch die Olivengärten. Joe ging ihnen nicht aus dem Kopf. Vielleicht war er gar nicht tot. Wenn er vermisst war, könnte es doch noch Hoffnung geben.
Kurz vor ihrem Häuschen kam ihnen Coco entgegen, sprang an Jonas' Bein hoch und wollte begrüßt werden.
«Gut, dass wir die Katzen haben. Etwas Ablenkung können wir jetzt nach dem schrecklichen Ereignis zu Hause wirklich brauchen«, seufzte Clara.
Das Abendessen mit dem schönen Käse vom Markt wollte nicht so recht munden. Jeder war mit seinen Gedanken bei Joe und grübelte vor sich hin. Zu vorgerückter Stunde hatte der Wein seine Wirkung getan, die beiden wurden etwas entspannter. Jonas gähnte, man beschloss schlafen zu gehen. Doch an Schlaf war in dieser Nacht lange nicht zu denken, unruhig wälzten sie sich hin und her, Tante Bertas altes Bettgestell knarzte. Immer wieder nahmen sie sich gegenseitig in den Arm, schmiegten sich aneinander, bis sie allmählich eng umschlungen einschliefen.
***
Wieder präsentierte sich die Provence mit einem wunderschönen, wolkenlosen Tag, an dem die klare Sonne die Farben der Oleander, Platanen, Zypressen, Oliven- und Feigenbäume so zauberhaft erscheinen ließ, wie Cezanne das meisterhaft auf seinen Landschaftsbildern zum Ausdruck gebracht hat.
Clara und Jonas verbrachten den Vormittag im Garten, der Lesestoff neigte sich dem Ende zu.
»Wir könnten schauen, ob wir im Ort eine deutsche Zeitung bekommen. Vielleicht wird was Neues über Joes Verschwinden berichtet.«
Im Tabac ergatterten sie eine FAZ und die letzte Süddeutsche und ließen sich im Café am Brunnen unter den Platanen nieder. Jonas bestellte ein Pression, ein Bier vom Fass, Clara ein Glas Weißwein.
Auf der Straße vor dem Brunnen parkte ein alter roter BMW.
»Schau mal, da steht so ein alter BMW wie unserer. Der war im reifen Alter von einundzwanzig Jahren nicht mehr durch den TÜV gekommen. Weißt du noch, wie der Ossi aus Dresden vom Motor begeistert war?«
»Klar«, erinnerte sich Jonas, »der hat uns das Auto mit Kusshand abgekauft. Am Rost hat er sich überhaupt nicht gestört. Er war überzeugt, dass er in Sachsen leicht durch den TÜV kommt und ist stolz mit unserem BMW abgefahren.«
»Schade, dass der TÜV bei uns so pingelig ist«, bedauerte Clara, »war so ein zuverlässiges Auto. Ich hätte es gern noch behalten. Der alte Rote hier fährt ja auch noch, vielleicht ist der TÜV in Frankreich großzügiger als bei uns.«
Jonas blätterte gerade in der SZ, da machte ihn Clara auf zwei Männer aufmerksam, die sich dem alten BMW näherten. Jonas war perplex.
»Das gibt's doch nicht. Das ist doch Joe!?«
»Das kann nicht sein! Joe würde nie so ein altes Auto fahren. Er hatte immer nur die Premium Klasse.«
Jonas sprang auf und lief auf den BMW zu. Die zwei Männer erschraken sichtlich.
»Joe!«, rief Jonas.
Der Mann an der Fahrertür fluchte: »Merde!«, starrte Jonas feindselig an, stieß »Casse-toi!« aus, »Hau ab!« sprang ins Auto, ebenso der Beifahrer, ein kräftiger großer Mann mittleren Alters, gab Gas und brauste davon.
Auf dem Nummernschild erkannten sie die Ziffern 6 und 8, wie sie später im Internet recherchierten, war es eine Nummer aus dem Elsass.
»Was war jetzt das?«, fragte Clara ihren Mann, der ziemlich verdattert war.
»Das begreif ich auch nicht. Sah aus wie Joe, aber das war nicht Joe! Er würde sich niemals so rüpelhaft benehmen. Ich stehe vor einem Rätsel.«
»Könnte es Max gewesen sein?«
»Nie und nimmer. Woher sollte Max denn Französisch können? Und wie sollte er zu einem Auto mit französischem Kennzeichen kommen?«
»Die Geschichte mit Joe wird immer mysteriöser«, wunderte sich Clara. »Schau doch mal, ob in der SZ was über Joe steht.«
Jonas nahm sich den Bayernteil vor. Wieder nichts Neues über Joe.
»Lass uns heimfahren. Die Katzen warten sicher schon auf uns.«
Clara versorgte die Katzen, während Jonas sich um das Bewässern der Pflanzen kümmerte.
Jetzt war es auch für Jonas und Clara Zeit fürs Abendessen. Der Himmel färbte sich türkisblau, durchzogen von kräftigem rosa Abendrot. Das Konzert der Zikaden verstummte, die Umrisse der Olivenbäume verblassten in der Abenddämmerung. Mimí und Benni balgten und jagten sich, sprangen auf den Olivenbaum, verschwanden und tauchten wieder auf, hatten plötzlich Nummer 5, Kater Sam im Gefolge, versteckten sich, lauerten einander auf, sprangen sich an, stoben auseinander, hatten Spaß im gemeinsamen Spiel und erheiterten mit ihrem lustigen Treiben das nachdenkliche Paar.
Clara freute sich, dass die Katzen zu ihnen ins Häuschen umgezogen waren, ganz besonders aber, dass Sam schon in so kurzer Zeit Zutrauen gefasst hatte. Nur Coco ließ sich heute nicht blicken. Wo war sie nur, die Kleine?
Das vergitterte Schlafzimmerfenster ließen sie jetzt immer offen, damit die Katzen jederzeit aus- und einsteigen konnten.
Am nächsten Tag machten sie einen Spaziergang in den Ort und kehrten im Zentrum auf dem Place d'Eglise, dem Kirchplatz, beim Restaurant am Brunnen unter den Platanen ein. Die Speisekarte las sich verlockend, so bestellten sie das dreigängige Mittagsmenü, dazu eine Flasche Rosé. Als Entrée wählten sie Timbaline d'Aubergine, als Plat du Jour gab es Magret de Canard avec Jus de Figue und als Dessert Crème d'Autan de la Lavende.
Kaum hatten sie der freundlichen Bedienung ihre Wünsche mitgeteilt, schon wurde eine Karaffe Wasser mit Eiswürfeln, dazu der Rosé von Mas de la Dame, gut gekühlt im Weinkühler, sowie Baguette und ein Tellerchen mit Oliven serviert. Ein kleiner Lavendelstrauß auf dem blütenweiß eingedeckten Tisch sorgte für provençalisches Flair.
Jonas und Clara prosteten sich zu: »Santé!« und lehnten sich in freudiger Erwartung eines schönen Mittagessens entspannt zurück. Während sie auf die Vorspeise warteten, ertappten sie sich hin und wieder dabei, wie sie die langsam auf der Straße vorbeifahrenden Autos beobachteten, gespannt darauf, ob der alte rote BMW wieder auftauchte.
»Wäre schon ein unglaublicher Zufall, wenn der Doppelgänger von Joe sich hier wieder blicken ließe«, meinte Jonas.
»Klar, aber ausschließen kann man es nicht. Vielleicht wohnen die Männer hier in der Gegend. War schon eine sehr merkwürdige Begegnung. Warum haben die sich nur so ruppig benommen? Das ist doch gar nicht die Art von Franzosen.«
»Ist ja nicht sicher, ob überall wo Franzose drauf steht, auch Franzose drin ist.«
Bald wurde die Vorspeise serviert, eine Terrine von Auberginen, dekoriert mit würzig duftendem Thymian und essbaren Blüten. Das schmeckte provençalisch gut. Kühler Rosé wurde nachgeschenkt, zufrieden lehnten sich Clara und Jonas wieder zurück und freuten sich auf den Hauptgang. Jetzt, zur Mittagszeit, kehrte auf der Straße Ruhe ein, nur noch wenige Fahrzeuge waren unterwegs, die Geschäfte hatten geschlossen, fast alle Tische der Restaurants auf dem Platz am Brunnen waren besetzt. La Sieste, die den Franzosen heilige Mittagsruhe! Jetzt nahm man sich viel Zeit zum Essen, von dem man sich nachher ausgiebig erholte. Sie lauschten dem erfrischenden Plätschern des Brunnens und beobachteten die Leute ringsum.
Einige Touristen saßen da, einheimische Paare, man kannte und begrüßte sich, Küsschen hin, Küsschen her, an den größeren Tischen hatten sich Familien mit Kindern niedergelassen. Obgleich der Nachwuchs zahlreich und jede Altersklasse vom Säugling bis zum Jugendlichen vertreten war, saßen die Kinder sittsam am Tisch, warteten geduldig, bis die Speisen aufgetragen wurden, kein lautes Wort war zu hören. Wenn doch einmal ein Baby krähte, stand Maman, Papa oder eines der größeren Geschwister auf und fuhr das Kleine im Kinderwagen abseits spazieren, bis es sich beruhigt hatte.
»Schon erstaunlich, wie wohlerzogen sich die Kinder im Restaurant verhalten«, bemerkte Clara. »Auch wenn sie dann gegessen haben, bleiben sie artig sitzen.«
»Ja, auf gutes Essen und gutes Benehmen bei Tisch legen die Franzosen großen Wert. Das lernen die schon von klein auf«, pflichtete Jonas bei.
Die Entenbrust war zart, die Haut knusprig gebraten, die Feigensauce hervorragend, auch das dazu gereichte Kartoffelgratin schmeckte ausgezeichnet. Das in der Gegend überall verwendete Olivenöl, Knoblauch und die Kräuter der Provence geben allen Speisen den feinen mediterranen Geschmack. Köstlich war auch die nach althergebrachtem Rezept zubereitete Lavendelcreme. Wie hierzulande üblich, gab es zum Abschluss noch einen Petit Noir, einen kleinen schwarzen Kaffee.
Satt und zufrieden verbrachten sie die Siesta an einem schattigen Platz zu Hause im Garten. Das Thermometer war inzwischen auf 37 Grad geklettert. Die Katzen hatten sich ins kühle Haus verzogen, nur Coco fehlte immer noch.
***
Jonas' Handy klingelte: »Jonas Winter ... ja hallo Franziska ... was ist los? ... Einen Moment, ich geb sie dir.«
Jonas hielt das Mikrofon zu und wendete sich an Clara: »Franziska ist am Telefon, sie will unbedingt dich sprechen. Sie scheint mir ziemlich durcheinander und ist womöglich beduselt.«
Clara aufgeregt: »Gib schon her! ... Ja hallo, Franziska, das ist aber lieb, dass du anrufst, gibt es denn was Neues über Joe? ... Nein? ... Max? ... Worüber darfst du denn nicht reden? ... Aber Franziska beruhige dich doch! ... In Joes Haus?? ... Wie will er denn da reinkommen? ... Aha ... seit wann ist er weg? ... Und du hast keinen Kontakt zu ihm? ... Komisch!? ... Wir waren schon dort, aber das Haus scheint unbewohnt ... Weiß die Kripo davon? ... Glaubt Max wirklich, dass Joe sich hier aufhält?? ... Ich kann mir das alles gar nicht erklären ... ich besprech das jetzt mit Jonas ... wir werden noch mal zum Haus fahren und rufen dich dann zurück ... Franziska, sicher wird sich das aufklären ... Lass dich nicht hängen, Martina braucht dich doch ... Ja natürlich ... Ja danke ... und dir alles Gute, bis bald, servus.«
»Was ist passiert?«, Jonas blickte Clara gespannt an.
»Oh je! Jetzt ist der Max auch noch weg! Und Franziska darf angeblich nicht darüber reden.«
Jonas war leicht indigniert, nachdem Franziska mit ihm nicht sprechen wollte.
»Mach's nicht so spannend! Erzähl schon!«
»Mal sachte, Herr Gemahl, alles der Reihe nach: Vor zwei Tagen ist der Max von zu Hause losgefahren, er wollte zu Joes Haus in St. Remy, um angeblich herauszufinden, ob sich Joe dort verbirgt. Das ist schon merkwürdig, Max hat sich doch noch nie um seinen Bruder gekümmert. Aber dass Franziska dann niemand etwas darüber erzählen darf, begreif ich nicht.«
»Hat Max ihr das verboten?«
»Ja genau, aber jetzt sind ihr Zweifel gekommen, sie reimt sich da was Böses zusammen und deshalb hat sie uns angerufen.«
»Was weiß sie denn mehr, wenn sie sich da was Böses zusammenreimt?«
»Das war sehr vage, so etwa, dass er zu allem imstande wäre und gleichzeitig macht sie sich Sorgen um ihn.«
»Kein Wunder bei dem Typ! Dem ist alles zuzutrauen.«
»Ich hab ihr gesagt, dass wir schon dort waren, aber Joes Haus unbewohnt ist.«
»Das wird sie nicht gerade beruhigt haben«, meinte Jonas und dachte sich, das hätte Clara besser nicht gesagt.
»Stimmt«, gab Clara zu, »da fing Franziska zu schluchzen an ... auf gar keinen Fall will Max, sagt sie, dass die Kripo erfährt, dass er in St. Remy ist. Du Jonas, da sollten wir doch noch mal nach Joes Haus schauen.«
Die Hitze des Tages ließ allmählich nach, die Katzen kamen aus dem Haus. Idefix setzte sich quer vor die Haustür, als Benni auch raus wollte, stellte er sich in den Weg, fauchte und war grantig. Da tauchte Mimí auf und briet dem Störenfried mit der Pfote eins über sein fuchsrotes Fell. Die Kater zogen ab und nun spielte Mimí am Eingang mit dem bodenlangen Vorhang, den der Abendwind sacht hin- und herwehte.
Coco hatte sich wieder nicht blicken lassen. Clara schaute drüben im Mas nach der Kleinen. Im Haus war sie nicht. Clara durchstreifte das weitläufige Gelände. Suchend und rufend lief sie weiter durch den Olivenhain und überquerte den schmalen Feldweg, der den Grund der Legards vom Nachbargrundstück trennte.
Das Grundstück der Nachbarn umfasste ebenso wie das der Freunde einige Hektar Olivenland. Dort stand ein stattlicher Mas, der Belgiern gehörte, die selten auf ihrem Landsitz weilten. Da Clara wusste, dass die Nachbarn der Legards nicht anwesend waren, drang sie weiter bis zum Mas vor, in der Hoffnung, vielleicht da die vermisste Katze zu finden. Alle Fensterläden waren geschlossen, Garage und Nebengebäude waren zu. Clara ging ums Haus auf die große Terrasse.
Oh! Wie peinlich für Clara, die nur eben mal schnell leicht bekleidet von zu Hause losgelaufen war, stand da ein Mann mit einem Gartenschlauch!
»Pardon, Monsieur, je cherche une petite chatte.« Sie erklärte ihm, dass sie eine kleine Katze suche und dass sie Nachbarn der Legards seien, deren Katzen sie zurzeit betreuen. Clara äußerte die Sorge, dass Coco vielleicht hier irgendwo aus Versehen eingesperrt sein könnte.
»No Madame, impossible.«
Der Mann antwortete freundlich, dass das nicht sein könne. Außer ihm wäre hier niemand, er habe auch keine Türen aufgesperrt, er sei nur für die Bewässerung zuständig. Er bedauerte, dass er nicht weiter behilflich sein könne.
Clara verabschiedete sich und erzählte ihrem Mann von der Begegnung. Der hatte wenig Verständnis, dass Clara sich auf fremdem Terrain herumtrieb.
»Mensch, Clara, die Katz findet doch von selber wieder heim.«
»Du redest dir leicht. Sitzt hier rum, lasst alle fünfe gerade sein, und ich muss die Katz suchen. Hättest ja auch mitkommen können. Wir haben schließlich die Verantwortung für die Katzen. Es kann ihr ja was passiert sein«, erwiderte Clara eingeschnappt.
»Komm, Weibi, jetzt lass uns den schönen Abend nicht verderben. Tun können wir doch eh nichts. Katzen streunen nun mal, und wenn sie Hunger haben, kommen sie schon heim«, meinte Jonas versöhnlich und begann mit den Vorbereitungen für das Abendessen. Clara war allerdings für diesen Abend der Appetit vergangen.
In dieser Nacht schlief Clara unruhig, die zwei Männer und Franziskas Anruf gingen ihr nicht aus dem Kopf. Neben ihr grunzte Jonas leise schnarchend vor sich hin. Plötzlich wachte Clara durch ein Geräusch auf, der Vorhang am offenen Fenster bewegte sich, sofort war sie hellwach und starr vor Schreck. Da sprang Coco vom Fensterbrett, hüpfte zu Clara ins Bett und legte sich laut schnurrend zu ihr aufs Kopfkissen. Selig schliefen jetzt alle drei.