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Der Beginn der russischen Internierung / Gefangenschaft
ОглавлениеWir meldeten uns im Hotel „Deutsches Haus“. Hier fehlt mir ein Stück Erinnerungs - film. Es gab Verhöre, Beschuldigungen, Registrierung; ob es auch Prügel gab, weiß ich nicht mehr. Möglicherweise war das erste Erlebnis sowjetischer Methoden so drastisch, daß ich es zum Teil
verdrängte. Wir wurden schließlich in ein „Hotelzimmer“ gestoßen und erfuhren zum ersten Mal, wie die Russen so etwas handhaben: Kein Möbelstück stand da mehr drin, immerhin aber existierte noch der Holzfußboden, in anderen Fällen hatten
sie den vorher auch herausgerissen. Ohne Möbel, Pritschen, Hocker und dergleichen kann man nämlich 40 bis 50 Mann in einen Raum von 25 m 2 zwängen. Später erleb - ten wir es auch mit mehr. Eine Menge Freystädter Männer drängelten sich schon in diesem Raum zusammen, der Fuhrunternehmer Marschner, der Molkereibesitzer Günter und viele andere mehr.
Wir erfuhren in den nächsten Stunden viel vom schrecklichen Geschehen der letzten Tage. Doch diese konzentrierten Schilderungen konnten wir kaum verkraften; sie überforderten nicht nur die Phantasie, sondern auch das Gedächtnis. Ich weiß nur noch von Männern, die teils weinend, teils in ohnmächtigem Zorn erzählten, daß sie Frauen, Töchter und Schwiegertöchter verloren hatten. Keine kam ohne Vergewalti - gungen davon. Nur ganz wenigen gelang es, sich zu verstecken. Viele sind zu Tode vergewaltigt und gefoltert, manche Mädchen auf so bestialische Weise ermordet worden, daß die Erzählung selbst alten, harten Soldaten die Schamröte ins Gesicht trieb, und sie dem Bericht Einhalt geboten. Namen von Frauen und Mädchen wurden genannt, die meisten kannten wir aus der Schule. Auch Namen von Frauen waren darunter, die sich gewehrt hatten und deshalb den vergleichsweise gnädigen Tod durch Erschießen erlitten. Wieder waren kleine Mädchen von 10 bis 14 Jahren dabei, die mit unvorstellbarer Brutalität zugrunde gerichtet wurden. Viele Familien hatten sich daraufhin das Leben genommen.
Nun hörte ich auch Einzelheiten von der Erschießung unseres Pfarrers, Johannes Guzy: Er war am 15. Februar - offenbar auf einen Notruf hin - in das katholische Krankenhaus und (oder) in das Kommunikandenstift (ein Kinderheim) geeilt; beide Gebäude standen unmittelbar nebeneinander. Von den Massenvergewaltigungen und Massenmorden in der Stadt wußte er schon Bescheid. Trotzdem folgte er dem Ruf in das Stift, weil dort wiederholt plündernde und marodierende Rotarmisten eindran - gen. Die etwa zwanzig Grauen Schwestern (Schwestern von der heiligen Elisabeth) hielten sich eng zusammen. Als wiederum Russen im Gebäude auftauchten, stellte sich Pfarrer Guzy vor die Schwestern und wollte die Rotarmisten zurückdrängen. Sofort schoß einer der Soldaten und traf ihn in Unterkiefer und Mundhöhle. Zwei Tage später verstarb er. Sein evangelischer Mitbruder, Pastor Thimm besuchte ihn an seinem Sterbebett - schon ein solcher Besuch war lebensgefährlich - und nahm dann auch die Beerdigung auf dem katholischen Friedhof vor. Es sollen daran nur drei oder vier Personen teilgenommen haben. Später erst hörte ich, daß fast gleichzeitig Pastor Wichmann, der Pfarrer der altlutherischen Gemeinde, erschossen wurde, ebenfalls weil er junge Frauen vor Schändung bewahren wollte. Die Männer, obwohl nur wenige Katholiken unter uns waren, sprachen mit großem Respekt von Pfarrer Guzy. Sie wußten fast alle, daß Guzy mutig von der Kanzel herab Untaten der Nazis beim Namen genannt hatte, daß er deshalb ständig von der Gestapo überwacht wur - de, und daß er sich für polnische Gottesdienste eingesetzt hatte. Sie konnten es nicht fassen, daß er ein solches Ende finden mußte.
All dieses und noch mehr erfuhren wir in diesem Zimmer des Deutschen Hauses. Man sagte dort, es wären ungefähr eintausendzweihundert Freystädter zurückgeblie - ben und nicht geflohen. Mindestens einhundertdreißig kamen in den wenigen Tagen der Besetzung elend um, darunter bedeutend mehr junge Frauen als Männer. Die Zahlen dieses Elends wurden übrigens in den Jahrzehnten danach niemals genau erforscht und dokumentiert. Das liegt aber auch daran, weil die meisten der Betrof- fenen über dieses maßlose Leid nicht mehr sprechen wollten. Viele verdrängten es bis zum heutigen Tag. - Als ich diese Zeilen niederschrieb, fragte ich eine ältere Dame nach diesen Ereignissen, denn sie war damals ein ganz junges Mädchen und erlebte den Russeneinmarsch in Freystadt. Sie lehnte ziemlich schroff ab, darüber zu sprechen und bat mich, sie niemals mehr darüber zu befragen.
Von der Kinderliebe der sowjetischen Soldaten wurde ja bereits berichtet. Dennoch will ich hier noch einmal festhalten, daß die Ausschreitungen russischer Soldaten ab Mitte April 1945 in Mitteldeutschland und Berlin im Vergleich zu Schlesien beinahe als milde zu bezeichnen sind. Das mag für Betroffene zynisch klingen. Doch Tatsa - che ist, daß während der drei Monate, von Februar bis April 1945, als die Front an der Oder-Neiße- Linie relativ stabil war, mindestens ein Teil des Hasses sich abkühl - te. Eine unbekannte Anzahl junger Frauen und Mädchen, die der Hölle in Ost - deutschland durch deutsche Gegenstöße oder sonstwie entkommen konnten, gingen nach Berlin, besorgten sich Waffen und kämpften dort verbissen bis zur Kapitulation gegen die Russen. Sie waren angeblich von den russischen Soldaten gefürchtet, denn sie gaben keinen Pardon.
Von da an verließen uns die politischen Gespräche nicht mehr. Denn die Männer, die sich im „Deutschen Haus“ zusammenfanden, waren zum allergrößten Teil deshalb in Freystadt geblieben, weil sie von den Nazis nichts wissen wollten oder in Einzelfäl - len sogar gefährdet waren. Wir beide - Reinhard und ich - waren, wenn ich mich recht erinnere, die einzigen 17-jährigen. Wir bekamen Anerkennung zu hören, daß wir es gewagt hatten, uns den „Kettenhunden“ zu entziehen. Einige wußten aus ei - genem Erleben zu bestätigen, daß man Deserteure, selbst wenn dieser Tatbestand nur vermutet wurde, sofort aufhängte und nicht mehr wie früher erschoß.
Die Enttäuschung aber beherrschte unser Denken und Fühlen, ja sie war bei fast allen vernichtend groß. Denn die meisten dieser Männer hatten von der Roten Armee wirklich Befreiung vom Terror des Nationalsozialismus erhofft, sonst wären sie nicht in Freystadt geblieben. An einen kann ich mich besonders gut erinnern, einen Reichsbahner, Weichenwärter mit Namen Schulze; ich kannte ihn durch meinen Vater. Wir nannten ihn schon zur Nazizeit mit gewissem Respekt „Kommunisten - schulze“. Er hatte großes Glück, daß ihn die Nazis nicht in einem Konzentrationsla - ger verschwinden ließen. Schulze steckte trotz allem voller Optimismus: „Denkt
daran, wie die Nazis in Rußland gewütet und gemordet haben.“ So sagte er immer wieder - und: „Wenn die erste Rache einmal vorbei ist - und die wird schnell vorbei sein - dann beginnen wir mit dem sozialistischen Aufbau.“ Dabei machte er sich die größten Sorgen um die Schienenanlagen auf dem Bahnhof: „Die deutschen Soldaten haben alle Weichen gesprengt“, die „Herzstücken der Weichen“, sagte er, und: „Wo - her werden wir neue nehmen?“ Er bestritt lange mit seinen sozialistischen Hoffnun - gen die Unterhaltung, bekam aber auch Widerspruch. Viele bestätigten, daß wir bei allem, was hier geschieht, bedenken müssen, was Deutsche den Russen und den Polen Furchtbares angetan haben. „Deutschland hat den Krieg angefangen, und die Nazis sind eine Verbrecherbande, insbesondere die SS.“
Von entsetzlichen deutschen Greueltaten in Polen wurde berichtet. Doch wiederum zeigte sich auf Rückfragen hin, daß die Erzähler ihr Wissen nur aus zweiter oder aus dritter Hand hatten; keiner war unter ihnen, der es selbst erlebte; oder wollte das keiner zugeben? - Einer sagte: „Die Sondereinheiten und die SS haben mit eiskalter Berechnung tausendfach gefoltert und gemordet, nicht einmal aus Haß, sondern nüchtern geplant, konsequent ihrer antichristlichen Weltanschauung folgend. Nach außen aber spielten sie sich als hochanständige Menschen auf und waren sogar sel - ber davon überzeugt. Diese dämonische Heuchelei macht ihre Taten womöglich noch schlimmer. Im Gegensatz dazu begegnet uns bei den Sowjetsoldaten nur glühender Haß.“ Natürlich bekam dieser Kamerad Widerspruch, weil die unterschiedlich bösen Motive den Schmerzen der Gefolterten und Umgebrachten gleichgültig sind. - „Doch sind wir vom Regen in die Traufe gekommen“, wurde entgegnet, und die Hoffnung, nun die Nazis endlich losgeworden zu sein, sei von Schlimmerem zerstört worden. Einer, der in Rußland gekämpft hatte, sagte: „Wenn einer von uns eine russische Frau vergewaltigte, und er wurde angezeigt, dann kam er vors Kriegsgericht. In den meisten Fällen wurde er zum Strafbataillon verurteilt, und das bedeutete praktisch den Tod. Denn Strafbataillone wurden nur in aussichtslosen Situationen eingesetzt und lebten alle nicht lange.“ Ein anderer wußte von einem Kriegsgerichtsverfahren bei Dubrowno im großen Dnjepr-Bogen aus dem Spätherbst 1943 zu berichten. Ein deutscher Soldat hatte ein russisches Mädchen vergewaltigt und war von diesem angezeigt worden. Wir wollten es nicht glauben, doch er versicherte es aus eigenem Erleben: Der Soldat wurde vom zuständigen deutschen Kriegsgericht zum Tode durch Erschießen verurteilt. Berufung gab es nicht; innerhalb von 24 Stunden haben sie ihn „umgenietet“, so sagte er wörtlich.
Jahrzehnte später las ich die Dokumentation eines amerikanischen Historikers, Prof, de Zayas von der Princeton-Universität USA. Er weist darin viele Todesurteile an deutschen Soldaten nach, die im zweiten Weltkrieg von deutschen Militär- und Feld - gerichten wegen Vergewaltigung, Raub und Mord im Feindgebiet verhängt wurden;
die meisten wurden durch Erschießen, einige durch den Strang vollstreckt. 5
Wieder ein anderer beschrieb den Unterschied so: „Die SS hat ihre Untaten wo ir- gend möglich verheimlicht. Die Russen aber machen es hier alle und öffentlich. Wenn ein einfacher Landser ein Huhn klaute und erwischt wurde, bekam er drei Tage Bau, wenn er es nicht bezahlt hatte.“ - Dem wurde wiederum scharf widersprochen und gesagt: „Du bist schon vor zwei Jahren in Rußland verwundet worden. Seitdem ist es mit der Moral der Truppe steil bergab gegangen.“ Und wieder gab es Entgeg - nungen von Zeitzeugen. Das alte Sprichwort aus dem Freiheitskrieg gegen Napoleon (1813), der ja von Schlesien ausgegangen war, machte die Runde: „Besser den Fran - zosen als Feind, als den Russen als Freund im Lande.“ -
Diese abgrundtiefe Enttäuschung lag wie ein dunkler Schleier über unseren Gesprä - chen und verband sogar gegensätzliche Standpunkte miteinander. Keinen gab es unter uns, der rechthaberisch behauptete: „Wir haben es euch ja vorhergesagt, was kommt.“ Alle aber hatten in den Wochen zuvor in parteiamtlichen Zeitungen Berich - te von entsetzlichen Greueltaten gelesen, doch - wie bereits gesagt - es wurde nicht geglaubt. Nun aber erwies sich die Wirklichkeit als viel schrecklicher, als gedruckte Worte es jemals vermitteln konnten. Fast ein jeder hatte deutschsprachige Sendungen von Radio Moskau und von der englischen BBC gehört, obwohl das Hören von Feindsendern mit der Todesstrafe bedroht worden war. Beide Sender hatten immer wieder betont, daß die Alliierten uns Deutsche vom Nazi-Joch befreien wollten. Nicht nur den Unschuldigen, sondern auch den Mitläufern wurde Freiheit und De - mokratie verheißen, was beide Sender allerdings sehr verschieden interpretierten. Nun rang in uns die fundamentale Enttäuschung mit dem tatsächlich vorhandenen Gefühl, von den Nazis endlich frei zu sein. Dieser seelische Konflikt, der die meisten innerlich fast zerriß, zog sich wie ein roter Faden durch die Gespräche.
Der Zufall wollte es, daß ich durch das Fenster auf die gegenüberliegende Seite der Glogauer Straße, auf das ehemals jüdische Textilgeschäft Graetz sehen konnte. Nach der berüchtigten „Reichspogromnacht“, am 9. November 1938, schickte mich mein Vater an einem dunklen Abend mit einem großen Korb Lebensmittel in dieses Haus und versuchte mir vergeblich klarzumachen - mein elfter Geburtstag lag ja erst we - nige Wochen vor mir - wie gefährlich dieser Gang war. Der Weg aber prägte sich mir so fest ein, daß ich mich heute noch an nebensächliche Einzelheiten erinnern kann; wie ich mich in der Glogauer Straße durch den dunklen Hausflur über Glasscherben und Unrat tastete, den Korb abstellte und wieder aufnahm, schließlich die jüdische Familie mit ihren bildschönen Töchtern Ruth und Ilse in einem ganz kleinen, not - dürftig eingerichteten Raum des Hinterhauses fand und meinen Korb ablieferte. Va - ter Graetz saß in einem Sessel mit hoher Lehne, die Mutter mit ihren Töchtern auf einer Holzbank. Sie sprachen eine ganze Weile mit mir und erzählten von dem
schrecklichen Geschehen, forderten mich aber bald auf zu gehen, weil niemand mich hier bemerken dürfte; denn das wäre vor allem für meinen Vater und für die Familie sehr gefährlich. Das verstand ich zwar nur zur Hälfte, denn, so dachte ich eben als Schuljunge, was soll schon daran gefährlich sein, jemandem einen Korb mit Ge - schenken zu bringen? -
Daran mußte ich nun, nicht einmal sieben Jahre später, intensiv denken, weil die Welle der Gewalt furchtbar auf lins zurückschlug. Selbst das biblische Gebot „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ galt nicht mehr, das ja durchaus geeignet ist, Gewalt nicht ins Ungemessene wachsen zu lassen. Nur noch die dramatische Demonstration des biblischen Wortes, „Wer Wind sät, wird Sturm ernten“, erlebten wir. Über das Schicksal der Familie Graetz gab es später erst widersprüchliche Gerüchte. Einige Freystädter wußten, daß ihnen die Auswanderung nach Südamerika geglückt wäre, andere berichteten, daß die Töchter im Konzentrationslager Bergen-Belsen ermordet wurden. Erst nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems, 1989, konnte ich den Suchdienst in Yad Vashem zu Jerusalem nach dem Schicksal dieser jüdischen Familie befragen. Doch auch von dort erhielt ich bisher keine sicheren Nachrichten. Als um die Mitte der 60 er Jahre die Nachkriegsgeneration herangewachsen war, zog sie ihre Väter erbarmungslos zur Verantwortung und sprach sie für den technisch organisierten, millionenfachen Völkermord an Juden, Russen und Polen schuldig. Den Vorwurf, nichts gegen die Nazidiktatur getan zu haben, mußte ich mir von jun - gen Leuten, mit der Gnade der späten Geburt, auch anhören. Meine stereotype Ant - wort: „Damit sprichst Du mich schuldig, daß ich zu feige war, ein Märtyrer zu wer - den, mich an die Wand stellen, mich zum Tode durch den Strang, oder bestenfalls ins Konzentrationslager einsperren zu lassen.“ Die jungen Menschen hielten diese Kon - sequenz für eine feige Ausrede, eine an den Haaren herbeigezogene Schutzbehaup - tung, und als Heuchelei galt es, wenn man ihnen antwortete, daß wir vom organisier - ten Völkermord der Nazis nur Gerüchte gehört und nichts Zuverlässiges erfahren hatten.
Tatsächlich aber war es unsere Tragik, daß wir an sichere Nachrichten über Konzen - trationslager nicht herankamen. Die Nazipropaganda filtrierte alle Informationen so raffiniert, bedrohte das Abhören von „Feindsendern“, wie gesagt, mit der Todesstra - fe, und außerdem konnten sich damals viele Menschen hochwertige Radiogeräte für Kurzwellenempfang noch nicht leisten, so daß wir unsere Gegnerschaft zum Natio - nalsozialismus im Wesentlichen nur am sehr schmalen Band eigener Erfahrungen und an Erlebnissen von Freunden fest- machen konnten. Die beschränkten sich eben
„nur“, und dazu nur selten, im Anblick bewachter Häftlingskolonnen oder herunter- gekommener, hungernder Kriegsgefangener und Zwangsarbeiter; wobei die Zu - schauer sich stets damit beruhigten, daß es unseren Gefangenen nicht besser erginge,
5 Alfred M. De Zayas, „Die Wehrmachtsuntersuchungsstelle“, Universitas Langen Müller 1984, S. 68 u.a.
und daß auch deutsche Nachbarn, junge Frauen und nicht wehrfähige Männer zu schwerer Arbeit zwangsverpflichtet wurden.
Der Informationsrest bestand dann aus Gerüchten, unter vorgehaltener Hand ausge - tauscht, über Verbrechen der SS im „Feindgebiet“, über Partisanenerschießungen und über Konzentrationslager. Niemand aber konnte den Wahrheitsgehalt dieser Gerüchte überprüfen, und überdies klangen sie oft derart phantastisch, daß die meis - ten Freunde sie mit Kopfschütteln - „Das ist doch unmöglich“ - quittierten. Wir hör - ten natürlich trotz der Strafandrohungen „Feindsender“; doch die berichteten so gut wie nichts über Massenmorde in den Konzentrationslagern. Es gibt ja heute auch in Israel ausreichend historische Zeugnisse darüber, daß sich die sogenannten Feind - mächte damals keineswegs durch Judenfreundlichkeit hervortaten.
Ich kann mich sehr genau daran erinnern, daß auch mein Vater, der den Antisemitis - mus der Nazis tief verabscheute, die Gerüchte, die über das Morden in den Konzen - trationslagern umliefen, mit Skepsis beurteilte. Er sagte, daß der Wahrheitsgehalt von Gerüchten sich bei jedem Weitererzählen verändert, und daß man ihnen deshalb nicht vertrauen könnte. Freilich zitierte er damals schon den heiligen Augustinus, der vor 1600 Jahren(!) jede Regierung eine Verbrecherbande nannte, die ihre gesetzgebe - rische Macht nicht an den Geboten Gottes orientiert, wobei er stets das Tötungsver - bot und das Wahrheitsgebot aufsagte. Dennoch hielt auch er das entsetzliche Ausmaß der Naziverbrechen nicht für möglich.
In dieser von den Diktatoren raffiniert gesteuerten Ignoranz lebten wir ja nicht nur in der Nazizeit, sondern auch die Monate und Jahre danach im russischen Lager und unter der polnischen Herrschaft. Von Nachrichten, Zeitungen, zuverlässigen Informa - tionen jeder Art waren wir so total abgeschnitten, wie es sich heute ein Mitteleuropä - er überhaupt nicht mehr vorstellen kann. Kein einziger Deutscher in Schlesien besaß damals noch ein Radio, weil sie schon von den Russen beschlagnahmt, und ihr Be - sitz auch von der polnischen Verwaltung streng verboten wurde. So erreichten uns politische Nachrichten nur über Gerüchte. - Erst als wir im Juli 1946 nach West - deutschland „ausgesiedelt“ wurden, schlugen die Nachrichten über den schreckli - chen Umfang der Naziverbrechen mit voller Wucht auf uns ein. -
Auch von Ursache und Wirkung wurde an diesem Abend im „Deutschen Haus“ ge - sprochen. Wir, die Deutschen hätten die verbrecherischen Ursachen gesetzt, nun aber würden wir unter den verheerenden Wirkungen leiden. Und während der fünfzig Jahre, die inzwischen vergangen sind, ist selbst deutschen Spitzenpolitikern offenbar nichts Neues und Besseres eingefallen. Schon lange habe ich mich gefragt, wie man das naturwissenschaftliche Begriffspaar, Ursache und Wirkung, derart kurzschlüssig auf das geschichtliche Handeln von Menschen übertragen kann. Denn es ist doch schlicht und einfach falsch, daß auf Terror mit naturgesetzlicher Notwendigkeit ein noch brutalerer Terror folgen muß. Sind Menschen nicht freie Wesen, die über ihre Reaktionen entscheiden und sich dafür verantworten müssen? Oder hat der marxisti -
sche Freiheitsbegriff von der „Notwendigkeit“ schon derart tödliche Metastasen getrieben? Gehört es nicht zu den Fundamenten der europäischen Kultur, daß selbst gegen Schuldige nicht alles erlaubt ist? Hier aber wurden Schuldlose zu Racheop - fern. - Der Einzige unter uns, der uns aufzurichten versuchte, war unser Kommunis - ten-Schulze. Doch nur wenige Monate später - ich werde darauf zurückkommen müssen - urteilte auch er anders. So gingen die Gespräche weit in die Nacht hinein, bis wir uns schließlich auf den blanken Fußboden legten.
Zu essen gab es nichts im „Deutschen Haus“. Jeder von uns konnte sich noch aus seinem Rucksack versorgen. Noch hatten uns die Russen nicht alles weggenommen. An diesem Abend wurde noch vorbildlich geteilt, aber nicht lange mehr. - Am 18. Februar, am späten Nachmittag, Abmarsch. Niemand wußte wohin: Zum Arbeitsein - satz irgendwo in der Nähe? Mit Maschinenpistolen bewaffnete Soldaten eskortierten uns. So ging es nach Osten, über die Lorenzstraße, am Bahnhof vorbei in Richtung Zyrus und Zolling. Auf offener Straße wurden wir mehrfach angehalten und in Reih und Glied formiert. Der Anlaß jedesmal: „Urri, Urri“, also die Suche nach Uhren, verbunden mit Todesdrohungen, falls jemand seine versteckte.