Читать книгу Vergangenheit, die nicht vergehen will - Gerold Schneider - Страница 7
Aus Breslau gerade noch entkommen
ОглавлениеObwohl gültige „Marschpapiere“ in diesen Tagen wichtiger als eine Lebensversiche - rung waren, wußte ich auch, daß keine Militärstreife in Breslau mein umgeschriebe - nes Papier respektieren würde, weil der Befehl, in Breslau zu bleiben, für sie eindeu - tig Vorrang besaß. Wie gefährlich es war, sich aus der „Festung“ abzusetzen, hörte ich inzwischen von mehreren Seiten. Ich ging also sehr spät - vielleicht gegen 23
Uhr - zum Freiburger Bahnhof, denn aus dem Hauptbahnhof fuhren keine Züge mehr ab. Die Hauptstrecken nach Westen und Osten waren, darüber gab es nun endgültig Klarheit, von den vorrückenden Russen unterbrochen worden. Nur nach Süden in Richtung Königszelt und Hirschberg fuhren noch Züge - also nur vom Freiburger Bahnhof. Doch an den Bahnhofssperren stand viel Militärpolizei. Die filterten aus den Strömen der Frauen, Kinder und alten Leute die Männer und Jugendlichen gna - denlos heraus.
Ich versuchte es gar nicht erst, durch den Haupteingang mit seinen Sperren zu gehen,
sondern machte durch das stockfinstere, weil verdunkelte Bahnhofsgelände einen großen Umweg und erreichte tatsächlich einen Bahnsteig. Von der hinteren Seite des Bahnhofs schlich ich über die Ausfahrts- und Rangiergleise - immer in Angst, daß auch dort Posten stehen könnten. Auf dem abgedunkelten Bahnsteig, den ich endlich erreichte, herrschte glücklicherweise ein so großes Gedränge, daß man als junger Kerl unter den dicht gedrängten Frauen, Kindern und alten Leuten untertauchen konnte. Ich unterhielt mich mit einer Familie, daß es so aussah, als ob ich mich von ihnen verabschiedete. Als der Zug schon anfuhr, sprang ich auf ein Trittbrett, auf dem ich etliche Kilometer im schneidenden Fahrtwind stehen mußte. Denn es war noch kälter geworden. Zu meinem Glück geriet ich erst hinter Königszelt, kurz nach dem Umsteigen, in eine Kontrolle. Weil es der Militärpolizeistreife offenbar egal war, daß ich aus Breslau kam, oder weil sie vom dortigen Chaos nichts wußten, rette - te mich der Marschbefehl nach Rothenburg an der Neiße.
Auf Umwegen - Nebenstrecken - kam ich nach Freystadt, wo ich meiner Mutter und meinen Schwestern half und sie auch noch am 28. Januar 1945 zur Bahn brachte. Sie fuhren mit einem der letzten Züge in Richtung Sagan. Niemand ahnte, daß das ihr endgültiger Abschied von der Heimat war. Als sie im Mai/Juni 1945 zu Fuß zurück - kehren wollten, lagen sie monatelang unter elenden Umständen und immer dem Hungertod nahe in einer Scheune im Dorf Klitten bei Niesky, ganz nahe der Lausit - zer Neiße. Polnische Miliz hatte die Neiße abgesperrt, und so stauten sich auf der deutschen Seite Hunderttausende Rückkehrwillige, zu denen im Juni 1945 weitere Hunderttausende kamen, die die Polen aus Schlesien ausgeplündert auf die deutsche Seite der Neiße trieben.
Doch kehren wir in die ersten Februartage des Jahres 1945 zurück. Ich traf in Frey - stadt zu meiner Freude zwei Klassenkameraden, die vor kurzem erst von der „Kin - derflak“ aus Breslau zurückgekehrt waren. Sie gehörten dem Jahrgang 1928 an, und deshalb wurden sie erst ein gutes halbes Jahr später als ich zur Flak eingezogen. Sie hatten beide das Glück gehabt, im „Luftschutzkeller Deutschlands“, in Kraftborn bei Breslau, Dienst zu tun, wo sie einen Rüstungsbetrieb schützen sollten. Sie erlebten dort nur einen einzigen Luftangriff, und das ausgerechnet, als sich ihre Kanonen in Reparatur befanden. Ihr Kommandeur, ein alter Major aus Wien, sorgte sich väterlich um seine Jungen: Er organisierte sogar regelmäßigen Schulunterricht, gab ihnen alle vier Wochen Heimaturlaub übers Wochenende und mühte sich um nahrhafte Kontak - te seiner Jungen mit der Zivilbevölkerung. Als in den letzten Januar tagen 1945 die ersten Entlassungen aus diesem Status des Wehrmachtsgefolges zum militärischen Arbeitsdienst (RAD) anstanden, bestand er auf Abfeiern des Resturlaubs in der Hei - matstadt. So ist es meinen Klassenkameraden ohne ihr Zutun gelungen, die Einberu - fungstermine zu vertrödeln. Als sich Reinhard beim Wehrbezirkskommando in Glo - gau meldete, wurde er auf den nächsten Erfassungstermin, Anfang März 1945, „ver - tröstet“, was er sogar schriftlich bekam, und von einem alten Reserveoffizier, Studi -
enrat im Zivilberuf, ermahnt, in der Zwischenzeit endlich zu lernen, wann Goethe und Schiller geboren wurden. So trafen wir uns in den letzten Januar tagen 1945, Reinhard, Hannes und ich, in Freystadt wieder. Die in den Flakstellungen von Kraft - born zurückgebliebenen Schulkameraden sollten mit ihren leichten Maschinenkano - nen die russischen Panzer aufhalten. Wie wir später hörten, sind dabei mehrere um - gekommen, darunter auch Lehrlinge aus Öls.
Doch von der Oderfront bei Neusalz hörte man in Freystadt tagelang das dumpfe Grollen der Artillerie. Endlose Flüchtlingstrecks, die ihre Pferdewagen vorantrieben, Nachschubeinheiten und Trosse der Wehrmacht zogen durch die Straßen der Stadt. Die ersten Februartage waren gekennzeichnet durch Ratlosigkeit, widerstreitende Gerüchte, Ängste und eben Flucht. Überall flohen die Parteigenossen zuerst: Uni - formen und Akten wurden verbrannt, Parteiabzeichen weggeworfen, wie auch andere Insignien des Systems. Wir waren noch zu dritt, und wir entwickelten die abenteuer - lichsten Ideen: Zum Beispiel uns mit Pferd und Wagen im Flüchtlingsstrom zwi - schen den Fronten mittreiben zu lassen. Angesichts der vernichtenden Wirklichkeit waren das knabenhafte Illusionen - auch daß wir uns von einem Wehrmachtsfahr - zeug Waffen und Munition geklaut hatten, erklärten wir schon wenige Tage später als blühenden Unsinn. Hannes Puschmann bekam gewissermaßen in letzter Minute einen Einberufungsbefehl zu den Kanonieren in Bunzlau. Er fuhr mit der Eisenbahn ab; ob er jedoch bei den teilweise schon unterbrochenen Bahnstrecken in seinem Einberufungsort ankommen konnte, war höchst unsicher; und so blieben nur noch wir zwei zurück.
In den letzten Tagen ging ich zu Reinhards Eltern - nur zwei Straßen weiter die auch nicht fliehen wollten. Reinhard entschloß sich wie ich weder zur Wehrmachts- noch zur Volkssturmsammelstelle zu gehen. Für mich kam es vor allem darauf an, Zeit wegen meines „Marschbefehls“ nach Rothenburg zu gewinnen. Ich durfte mich unter keinen Umständen von einer Wehrmachtsstreife erwischen lassen, denn eigentlich hatte ich in Freystadt überhaupt nichts zu suchen. Auf der Post saß eine alte Schul - freundin, denn die Post blieb bis zum Schluß in Betrieb. Ich schrieb also - mit einer Kopie für mich - nach Rothenburg an die Luftwaffeneinheit, daß ich zu ihnen befoh - len wäre, daß es aber durch die bereits ausgefallenen Verkehrsverbindungen noch dauern könnte. Die Schulfreundin stempelte mein Schreiben und hielt es dann einige Tage in den Februar hinein zurück. So hilflos auch diese Methode schien, am Ende klappte sie.
Wir wurden trotzdem immer vorsichtiger. Denn schlimme Dinge hörte man von der nahen Front. An der Oderbrücke in Neusalz sollte SS mehrere Soldaten als Deserteu - re, auf der Brust ein Pappschild „Ich war feige“, aufgehängt haben. Doch die Men - schen aus den Flüchtlingstrecks erzählten noch brutalere Erlebnisse, die sie über das Verhalten der Russen gehört hatten. Es war die Tragik aller, die sich als Antinazis fühlten, daß sie diesen Erzählungen keinen Glauben schenkten. Viele hielten es
schlicht und einfach für Greuelpropaganda. Auch mein Onkel, Alfons Rodewald, blieb in Obersiegersdorf mit seiner Frau und mit sechs Kindern zurück, weil er den Nachrichten über die Russen nicht glaubte: „Schlimmer als die Nazis sind die Rus - sen auf gar keinen Fall“ - so ähnlich sagte er öfter. Er mußte bitter dafür bezahlen, wie viele andere auch. Schon am Tage nach dem Russeneinmarsch wurde er grund - los erschossen. Seine junge Frau blieb mit sechs Kindern, das älteste 10 Jahre alt, und mit unserer Großmutter allein.
Am 11. und 12. Februar hörte man Artilleriefeuer nicht nur vom Norden, sondern auch aus der südlichen Gegend nach Sagan und Sprottau hin. Man erzählte, Frey - stadt sei so gut wie eingeschlossen. Es gäbe nur noch eine offene Straße in westli - cher Richtung über Herzogswaldau nach Naumburg am Bober, Christianstadt und von dort weiter nach Forst. Es war uns aber klar, daß wir bleiben oder uns sofort bei einem Ersatztruppenteil melden mußten.
Am 13.2.1945, als der Kriegslärm immer näher kam, ging ich früh, noch bei Dun - kelheit zu Roches. Mittags schlich ich noch einmal mit aller Vorsicht durch die Gär - ten in unser Haus auf der Hindenburgstraße. Durch die Grundstücke der Hinden - burgstraße zog sich eine dünne Kette von Soldaten; sie standen alle in Häuserecken oder lagen mit ihren Waffen in provisorisch aufgeworfenen Deckungen. Sie riefen mich an, daß ich vorsichtig sein sollte, denn der Russe wäre von Sprottau und Sagan aus, also von Süden her, ganz nahe am Stadtrand. Später wußte ich, daß diese Solda - ten die erste deutsche Frontlinie, die sog. HKL (Hauptkampflinie) bildeten. Ich schaute trotzdem in unser Haus. Keiner der deutschen Soldaten hatte es betreten, obwohl es nicht verschlossen war. Ich sah nur nach dem Rechten, versorgte die Hei - zung, damit sie nicht einfror, nahm noch ein paar warme Sachen und etwas Verpfle - gung mit, und ging dann schnell durch die Gärten, immer auf Deckung bedacht, an der sogenannten Frontlinie vorbei zu Roches zurück. Dort kam der Lärm der Front schon von Osten her.
Auf der Straße von Zyrus und Zolling stand eine unübersehbar lange Kolonne Last - wagen, Panzer T 34, Schützenpanzer. Da die Straße vom erhöhten Dorf Zyrus nach Freystadt bergab führt, konnte man die große Truppenansammlung vom Dachfenster aus gut sehen. Schnell aber rannten wir wieder in den Keller. Denn sie begannen, mit ihren 7,65 cm Panzerkanonen zu schießen. Ich sah, wie ein Geschoß in der Wand des gegenüberliegenden Hauses einschlug und ein Loch von ca. 1,50 m Durchmesser in das Wohnzimmer riß. Noch heute, nach fünfzig Jahren, ist das inzwischen zugemau - erte Loch durch die andere Putzfärbung sichtbar.
Die deutschen Soldaten hatten sich offenbar schon zurückgezogen. Denn in den Gär - ten der Ostmarkstraße zur Bahnlinie hin, also am Stadtrand, lagen nur noch Volks - sturmmänner, alte Männer und Jungen; sie schossen mit ihren leichten Waffen und mit Maschinengewehren in Richtung Cyrus, denn ihre Panzerfäuste konnten sie ja nur auf nahe Distanz verwenden. Den ganzen Tag über blieben die Russen auf der
Straße von Cyrus stehen. Doch dann dunkelte es, und die Schießerei ebbte deutlich ab. Etwa gegen 22 Uhr brandete der Gefechtslärm noch einmal auf. Wie ich später hörte, war eine Wehrmachtseinheit in einem Gegenangriff vom Westen her bis zur Brandstelle, einem Platz am westlichen Stadtrand, und nach Niedersiegerdorf vorge - stoßen, wo schon die Russen von Neusalz, also von Norden her eingedrungen waren.