Читать книгу Nach Amerika! Bd. 1 - Gerstäcker Friedrich, Jurgen Schulze - Страница 3
Zweites Kapitel Der Rote Drachen.
ОглавлениеDer Rote Drachen, ein Wirtshaus, das wegen seines vortrefflichen Bieres, wie sonst mancher schätzenswerten Eigenschaften einen sehr guten Namen hatte, lag etwa eine halbe Stunde von Heilingen an der großen Landstraße, die gen Norden führte. Ein freundlicher Talgrund umschloß Haus und Garten, und die dunklen, den Gipfel des nächsten Hanges krönenden Nadelhölzer heben nur noch mehr das freundliche Grün der jungen Birken und Weißeichen hervor, die sich über die niedere Abdachung erstreckten und bis scharf heran an den hoch eingefriedeten und sorgfältig in Ordnung gehaltenen Frucht-, Gemüse- und Blumengarten des Hauses selber lehnten.
Es war ein warmer, sonniger Frühlingsnachmittag; der Bach, der am Hause dicht vorbeirieselte, plätscherte und schäumte in frischem, jugendlichen Übermut, des Eises Hülle, die ihn so lange gefangen gehalten, oder doch fest und ängstlich eingeklemmt, nun endlich einmal enthoben zu sein, und die Vögel zwitscherten so froh und munter in den Zweigen der alten knorrigen Linde, die unfern der Tür stand, und flatterten und suchten herüber und hinüber, aus den blühenden Obstbäumen fort über den Hof und von dem Hof wieder fort in den dichtversteckten Ast und Zweig hinein, mit einem gefundenen Strohhalm oder einer erbeuteten Feder im Schnabel, daß einem das Herz ordentlich aufging über das rege, glückliche Leben. Und wie blau spannte sich der Himmel über die blühende, knospende Welt, wie leicht und licht zogen weiße, duftige Wolken, Schwänen gleich, durch den Äther hin, farbige, flüchtige Schatten werfend über Wiesen und Feld und die weite Talesflucht, die sich dem Auge in der Ferne öffnete und dem leuchtenden Blick neue Schätze bot, wohin er fiel.
Ein Frühling in Deutschland ein Frühling im V a t e r l a n d ! Oh, wie sich das Herz mit der wirbelnden, schmetternden Lerche hebt und jubelnd, jauchzend gen Himmel steigt! Zwinge die Träne da nicht zurück, die sich Dir, dem Glücklichen, ins Auge drängt – in ihrem Blitzen preist Du den Vater droben, wie es die jubelnde Lerche dort tut, die mit zitterndem Flügelschlag über den grünen Matten schwebt – wie das raschelnde, flüsternde Blatt im Wald, wie der schwankende, taugeschmückte Halm und die knospende, duftende Blüte im Tal. Ein Frühling im Vaterland ! – Oh wie schön, wie jung und frisch die Welt da um uns liegt in ihrem bräutlichen Glanz, voll neuer Hoffnungen in jedem jungen Keim ! Und wie sich das Herz der scheuen Blume gleich zusammenzog, als der Herbststurm über die Heide fuhr, mit rauher Hand den Blattschmuck von den Bäumen riß und zu Boden warf, und Schnee und Eis vor sich hinjagte über die erstarrende Flur : so öffnet es sich jetzt mit vollem Atemzug wieder dem balsamischen Frühlingsgruß, und vorbei, vergessen liegt vergangenes Leid – wie der verwehte Sturm selber keine Spur mehr hinterließ und die schönsten Blumen jetzt gerade an den Stellen blühen, wo er am tollsten, rasendsten getobt.
Ein warmer, erquickender Regen war die letzten Tage gefallen, und so gut er dem Land getan, hatte er doch die Bewohner des nahen Städtchens in ihre Häuser und Straßen gebannt gehalten, von wo aus sie sehnsüchtig teils die nahen grünenden Berge, teils die dunklen Wolken betrachteten, die nicht nachlassen wollten, Segen auf die Fluren niederzuträufeln. Heute aber hatte sich das geändert; voll und warm glühte die Sonne am Himmelszelt, und hinaus strömten sie in jubelnden Scharen, hinaus ins Freie. Der Rote Drachen vor allen anderen Plätzen, der so reizend an der Öffnung des Tales lag und die Aussicht bot in das darunter liegende freie Land, hatte dabei sein reichlich Teil der fröhlichen Schar erhalten, daß die Wirtin mit ihren Kellnern und Mägden nicht Hände genug hatte, zu schaffen und herzurichten, und die Tische und Bänke im Garten draußen fast alle rundherum von Schmausenden besetzt waren.
Der Rote Drachen sollte übrigens, wie die Sage ging, seinen Namen von einem wirklichen Drachen bekommen haben, der einmal vor vielen hundert Jahren in der Schlucht weiter oben, die auch noch ebenfalls nach ihm die Drachenschlucht hieß, gehaust und viele Menschen und Rinder verschlungen hatte. Der Wirt des Roten Drachen nun, Thuegut Lobsich, dessen Voreltern schon diesen Platz gehalten, behauptete, einer seiner ,Ahnen’ habe den Drachen im Einzelkampf erlegt (die Gäste meinten, mit schlechtem Bier vergiftet) und dafür von dem damals regierenden Fürsten Platz und Wirtschaft als Gerechtsame, mit dem Schild als Wahrzeichen, erhalten.7
Wie dem auch sei, Thuegut Lobsich tat wirklich gut auf dem Platz, der im vortreffliche Nahrung bot, und befand sich so wohl, wie sich nur ein Wirt in einer gut gelegenen Wirtschaft befinden kann. Sein Frau war aber dabei der Nerv des Ganzen, in Küche und Stall, in Keller und Haus, und während sich Vater Lobsich (wie er sich gern nennen ließ, obgleich er noch jung und rüstig war) am liebsten zu seinen Gästen irgendwo an einen Tisch drückte und «das Bier kontrollierte», wie er sagte, daß ihm die Burschen kein saures brachten und die Gäste verjagten, arbeitete die Frau im Schweiße ihres Angesichts vor dem Herd, die bestellten Portionen herzurichten und zu gleicher Zeit auch den Verkauf von Kaffee, Tee, Milch und Kuchen zu überwachen. Dabei führte sie die Kasse und rechnete mit Kellnern und Mädchen ab, und wehe denen, die eine halbe Portion Kaffee oder Kuchen vergessen, ein nichtbezahltes Glas nicht aufnotiert oder einem schlechten Kunden noch einmal gegen den direkt gegebenen Befehl geborgt hatten.
Böse Zungen meinten nicht selten, Frau Lobsich sei der ,einzige Mann im Hause’ und Thuegut dürfe nur tanzen, wenn sie nicht daheim wäre. Böse Zungen erwähnten dann aber nicht dabei, daß sie wirklich allein das Hauswesen in Zucht und Ordnung hielt, und so scharf und heftig sie draußen in Küche und Wirtschaft, wo sie fremde Leute doch auch eigentlich nur zu sehen bekamen, sein konnte, und so große Ursache sie dabei oft hatte ärgerlich zu sein, und die Ursache dann auch für vollkommen genügend hielt, es wirklich zu werden, so still und freundlich konnte sie sich betragen, wenn sie allein mit ihrem Mann war, und so gern gab sie ihm in allem nach, was nicht eben zu Ruin und Schaden trieb. Salome Lobsich war das Muster einer Hausfrau und, was ebensoviel sagen will, eine gute Gattin dabei; ob ihr Mann dasselbe auch von sich sagen konnte, stand auf einem anderen Blatte.
Heute hatte sich nun eine ziemlich zahlreiche Gesellschaft in dem gar so freundlich gelegenen Garten des Roten Drachen eingefunden, und dicht vor der Tür desselben, unter der alten breitschattigen Linde, die ihre Arme so weit nach rechts und links hinüberstreckte, daß man sie schon hatte stützen müssen, um nur den Weg zu ihr und den Platz darunter frei zu behalten, saß Lobsich selber mit einem kleinen Kreis guter Bekannten, das heißt alter Kunden und quasi Stammgästen von i h m, denn er selbst kam selten irgendwo anders hin, und wer also sein Bekannter b l e i b e n wollte, mußte i h n eben besuchen.
Zu diesen gehörte besonders Jakob Kellmann, ein Kürschner und Pelzhändler aus Heilingen, dann der Aktuar8 Ledermann von dort, eine lange hagere, etwas ungeschickte Gestalt, doch mit nicht unangenehmen, gutmütigen Gesichtszügen, und der Apotheker aus Heilingen, Schollfeld mit Namen, die es gewöhnlich so einzurichten wußten, daß sie an einen Tisch miteinander zu sitzen kamen. Lobsich nahm ebenfalls am liebsten zwischen dieser kleinen Gesellschaft Platz, und nur dann und wann, besonders wenn er die Stimme seiner Frau irgendwo hörte, stand er auf und ging einmal durch den Garten und die Reihen seiner Gäste, um zu sehen, ob alle ordentlich bedient würden und keine Klagen einliefen gegen unaufmerksame Kellner, die er in dem Fall auch wohl gleich an Ort und Stelle mit einem Knuff oder einer Ohrfeige als warnendes Beispiel abstrafte. Er mußte an irgendjemand seinen Ärger auslassen, daß er nicht bei seinem Bier konnte sitzen bleiben.
«Ist doch ein prachtvolles Wetter heute», sagte Kellmann, der eben einen tüchtigen Zug aus seinem Glase getan und nun mit vollem zufriedenen Blick über das freundliche Bild hinausschaute, das sich, von der warmen Nachmittags-sonne beschienen, in all’ seinem blitzenden Glanz und Farbenschimmer vor ihnen aufrollte, «und es wächst und gedeiht alles draußen so schön und steht so prächtig – merkwürdig dabei, daß alles so teuer bleibt und die Preise, statt herunter zu gehen, immer nur steigen und steigen.»
«Ja, das weiß Gott», seufzte der Aktuar, dem der Gedanke selbst den Geschmack am Bier wieder zu verderben schien, denn er setzte das schon zum Mund gehobene Glas unberührt vor sich nieder. «Und wenn das noch eine Weile so fort geht, können wir alle miteinander verhungern oder davonlaufen.»
«Nun, I h r habt gut reden», sagte Kellmann, «Ihr bekommt vom Staat Euer Gewisses und könnt Euch genau danach einrichten - E u e r Geld muß Euch werden, wenn der Erste jedes Monats kommt; unsereins hängt aber allein von den Zeiten ab, und wenn die Lebensmittel knapp werden, kauf niemand einen Pelz. Holz müssen sie doch haben, und daran kann sich nachher die ganze Familie wärmen.»
«Ihr redet, wie Ihr’s versteht», brummte der Aktuar. «Unser Gewisses bekommen wir, das ist wahr, aber nur deshalb, damit wir gewisses Elend vor Augen sehen. Ich habe fünfhundert Taler Gehalt, und Frau und Kind und Dienstmädchen zu ernähren, und soll anständig dabei gekleidet gehen, denn vor zehn und zwanzig Jahren hatte ein Aktuar in meiner Stellung auch nicht mehr und machte das alles möglich, ja befand sich wohl dabei. Jetzt aber wird Brot, Butter, Fleisch, Holz, Wohnung, kurz alles, was wir nun einmal zum Leben brauchen, gesteigert von Tag zu Tag, aber meine fünfhundert Taler b l e i b e n. Vor zehn Jahren kaufte ich zwanzig Pfund Brot für dasselbe Geld, für das ich jetzt nicht zehn bekomme – aber m e i n e fünfhundert Taler b l e i b e n. Auch mein Hausherr verlangt höheren Zins – schon voriges Jahr bin ich höher gegangen, um nicht gesteigert zu werden, das heißt für denselben Preis aus der zweiten in die dritte Etage gezogen, aber für dies Jahr muß ich ganz hinaus, denn will wieder zehn Taler mehr haben und k a n n’s ihm nicht geben. I h r Leute habt Euch gut in die Zeiten schicken, denn wenn das Brot teurer wird, schlagt Ihr desto mehr auf Eure Ware, der kleine Beamte aber, der Staatsdiener um geringen Lohn, das ist das geplagte, gefährdete Geschöpf, und jede neue Taxe macht im keine neue Berechnung, sondern schnallt ihm nur den Leibriemen um ein Loch enger, daß er weniger ißt, bis er ins l e t z t e Loch geworfen wird, um zum ersten Mal von seinen irdischen Strapazen, ohne Furcht vor rasch ablaufenden Ferien, wirklich ungestört auszuruhen.»
«Ach geht mit Euren erbärmlichen Lamentationen an solch’ freundlichem Tag», fiel ihm der Wirt hier in die Rede, der sich erst vor ein paar Augenblicken wieder mit zum Tisch gesetzt und schon eine ganze Weile unruhig mit dem Kopf geschüttelt hatte. «Das Reden macht’s nicht besser, und Stöhnen und Seufzen hilft auch nichts – Kopf oben, das ist die Hauptsache; das andere macht sich von selber. – Aber hallo», unterbrach er sich plötzlich, von seinem Sitz aufstehend und die Straße hinunterzeigend, die in das weite Tal führte. «Was kommt dort für ein Trupp den Weg entlang?» Und in der Tat wurde dort oben ein ganzer Zug Männer, Frauen und Kinder mit kleinen Handkarren und ein paar einspännigen Wägelchen sichtbar.
«Das sind Auswanderer!» rief Jakob Kellermann, von seinem Stuhl aufspringend und dem Zug entgegenschauend. «Seht nur ein Mensch an, wieder ein ganzer Schwarm aus dem Hessischen; Heiland der Welt, da muß doch endlich einmal Platz werden!»
«Na, nu ist wieder der Frieden beim Henker!» rief aber der Apotheker mürrisch. «Hier, Lobsich, setzt Euch auf Euren Stuhl und trinkt Euer Bier aus, und Ihr, Kellmann, laßt das Volk da draußen laufen, wohin sie wollen – unzufriedene Bande, die es ist, und die es nirgends gut genug kriegen kann, wo ihr nicht das Konfekt auf goldenen Tellern präsentiert wird. Na, kommt nur hinüber, wenn Euch hier der Hafer zu sehr sticht – Euch werden sie schon noch das Fell über die Ohren ziehen, daß Ihr am hellen, lichten Tag die Sterne zu sehen bekommt.»
«Nein, was für ein Zug!» rief aber Kellmann, die langsam näher kommende Schar mit unverkennbarem Interesse betrachtend. «Die armen Teufel!»
«Hört, Kellmann», rief aber Schollfeld ärgerlich, «jetzt tretet mir da ein wenig aus dem Weg, daß ich auch ‘was sehen kann, und setzt Euch wieder; ich dächte doch wahrhaftig, Auswanderer hier an der Straße wären nichts so besonders Neues, daß Ihr Maul und Nase aufsperrt und tut, als ob Euch so etwas noch nicht im ganzen Leben vorgekommen wäre.»
Schollfeld war übrigens nicht umsonst so mürrisch; er hatte einen Zorn auf Auswanderer, denn er betrachtete Auswanderung als eine indirekte Beleidigung gegen den Staat, gewissermaßen als eine Grobheit, die man ihm geradezu unter die Nase sagte: «Ich mag nicht mehr in dir leben und weiß einen Platz, wo’s besser ist.» Das d a c h t e n sich nämlich die ,Tölpel’, wie er sie nannte, aber sie w u ß t e n es nicht – gar nichts wußten sie, und liefen blind und toll in die Welt hinein. Der Staat hätte auch eigentlich den Skandal gar nicht dulden sollen; Hunderte von Menschen, reine Deserteure aus ihrem Vaterland, liefen da frank und frei vorbei, anderen noch obendrein ein böses Beispiel gebend, und er begriff die Regierung nicht, wie sie dem Volke nur noch einen Paß gestatten konnte.9
Der Zug war indessen näher gekommen und Lobsich rasch in das Haus gegangen, um Bier herbeizuschaffen, da sich bei solchen Trupps gewöhnlich eine Menge junge Burschen befanden, die noch Geld im Beutel und immer frischen Durst hatten, um so mehr, da das Bergesteigen heute wirklich warm und den Hals trocken machte.
Die ersten Wagen passierten still vorbei; die Führer warfen einen langen, vielleicht sehnsüchtigen Blick nach den behaglich hinter ihren Tischen sitzenden Gästen und dem kühlen, funkelnden Bier hinüber, aber hielten nicht an, sich längere Rast dafür auf den Abend versprechend. Nur von den Fußgängern blieben mehrere Trupps unfern der Linde, unter der unsere kleine Gesellschaft saß, und nicht weit von der Gartentür stehen, und während ein paar der Männer dem Kellner winkten, ihnen Bier herauszubringen, als ob sie sich scheuten, in ihrer bestaubten, schmutzigen Kleidung, mit der schweißbedeckten Stirn, zwischen die geputzten und jetzt nach ihnen herübersehenden Gruppen hineinzugehen, hielt ein Trupp Frauen ebenfalls dort. Angezogen von der plötzlichen weiten und freien Aussicht, die ihnen hier nach unten zu das Tal öffnete, durch das sie gekommen, blieben sie erfreut und überrascht stehen und schauten dabei auf das reizende Bild hin, das wie mit einem Schlag so vor ihnen ins Leben sprang.
«Heiland der Welt, Lisbeth!» rief ein etwa sechzehnjähriges Mädchen der vielleicht zwei Jahre älteren Schwester zu. «Dort drüben liegt Holstetten und von da ist’s nur noch neun Stunden nach Haus – dahinter kann ich den weißen Weg durch’s schwarze Nadelholz sehen, der hinüberführt nach Krisheim.»
«Ja, Marie», antwortete das Mädchen, und während sie sprach, liefen ihr die großen, hellen Zähren an den bleichen Wangen nieder, «gleich hinter dem Berg dort muß die Windmühle liegen, und dann kommt Bachstetten und nachher… »
Sie konnte nicht mehr sprechen, das Herz war ihr zu voll, und sie mochte doch nicht das der Schwester, wenn diese ihren Schmerz sah, noch schwerer machen. Aber zurückdämmen ließ sich das auch nicht, die Wunde war noch zu frisch und blutete zu stark, und beide Mädchen standen wenige Minuten still und weinend da, die schönen tränenüberströmten Züge den ihr nächsten Menschen ab- und der verlassenen Heimat, die sie wohl nie im Leben wiederschauen sollten, zugekehrt.
«Ob auch wohl Martha der Mutter Grab ordentlich hält und pflegt, wie sie es versprochen?» brach die Jüngste endlich wieder mit leiser, kaum hörbarer Stimme das Schweigen.
«Sie hat’s ja versprochen», flüsterte fast ebenso leise die Schwester zurück. «Aber - - - so lieb wird sie’s doch nicht haben wie wir.»
«Komm, Lisbeth», sagte die Jüngere wieder und ergriff, ohne sie aber dabei anzusehen, der Schwester Hand, «wir wollen gehen – die Wagen sind schon ein Stück voraus.»
Beide Mädchen nickten leise und kaum bemerkbar der verlassenen Heimat zu, und schritten dann schweigend Hand in Hand ihre weite, unbekannte Bahn den Weg entlang, der nach und durch Heilingen führte.
«He, Marie, Lisbeth!» rief sie der Vater an, der eben an der Tür des Gartens ein Glas Bier von einem der Kellner erhalten hatte. «Wollt Ihr einmal trinken, Kinder?»
«Ich danke, Vater», sagte Marie zurück, ohne sich umzusehen oder stehen zu bleiben, «wir sind nicht durstig.»
«Woher des Wegs, Ihr Leute?» wandte sich jetzt Kellmann, der trotz Schollfelds ärgerlichen Worten zu dem Alten getreten war, an diesen.
«Aus Hessen», sagte der Mann ruhig und tat einen langen, durstigen Zug aus dem mit dem trefflichen Bier gefüllten schäumenden Glas.
«Und wohin?»
«Nach Amerika.»
«Hm – ist ein weiter Weg – ist Euch wohl schlecht gegangen hier im Lande?» sagte Kellmann, die kräftige und doch gramgebeugte Gestalt des alten Landmanns teilnehmend betrachtend.
Der Bauer, dessen Blick indes auch an dem fernen Punkt gehangen, wo seine frühere Heimat lag, ließ das Auge einen Moment wie mißtrauisch über den Frager gleiten und erwiderte dann leise und kopfschüttelnd:
«Schlecht? – Lieber Gott, wie man’s nimmt; man soll g’rad nicht klagen. Der liebe Gott hat geholfen und wird weiter helfen.»
«Ihr wollt Euch wohl ein paar von den gebratenen Tauben holen, die in Amerika herumfliegen?» mischte sich hier der Apotheker ins Gespräch, der nicht umhin konnte, dem ,Auswanderer’, wie er sich ausdrückte, ,einen Hieb zu versetzen’. – «Habt Ihr auch Messer und Gabeln mit?»
Der Bauer sah den kleinen, spöttisch lächelnden Mann einen Augenblick ruhig von der Seite an, bezahlte dann dem neben ihm stehenden Kellner, dem er das Glas zurückgab, sein Bier, und ohne irgend etwas auf die Frage zu erwidern oder ärgerlich darüber zu scheinen, ja als ob er sie nicht gehört hätte, wandte er sich und folgte mit einem «Grüß Euch Gott, Ihr Herren!» seinen vorangegangenen Töchtern.
«Holzkopf», brummte der Apotheker hinter ihm drein, nur noch mehr gereizt über diese anscheinende Mißachtung. «Dem Volk ist zu wohl hier», setzte er dann, mit einem kräftigen Zug aus seinem Glase, hinzu. «Der Art Leute fühlen sich nicht behaglich, wenn sie nicht baumfest unter dem Daumen gehalten werden.»
«Guten Abend miteinander», sagte in diesem Augenblick ein anderer der Auswanderer, der, mit einem kurzen Pfeifenstummel in der Hand, zu dem Tische trat, auf dem in einem schützenden Kelchglas ein Licht mit darum gesteckten Fidibus zum Anzünden der Zigarre stand. «Wenn’s erlaubt ist, möchte ich mir wohl einmal eine Pfeife bei Euch anbrennen.»
«Mit Vergnügen», sagte Ledermann, ihm einen Fidibus anzündend und hinreichend.
«Danke schön », nickte der Mann, das Feuer benutzend und den blauen Qualm in schnellen, kurzen Zügen ausblasend.
«Und wo geht die Reise hin?» frug Ledermann den Rauchenden.
«Da hinüber», sagte dieser, immer noch scharf ziehend, indes er mit dem linken zurückgebogenen Daumen über die linke Achsel wies. «Über’s große Wasser!»
«Habt Ihr dort schon einen Platz?» frug der Aktuar.
«Ja», sagte der Mann freundlich. «Mein Bruder hat mir geschrieben aus dem Wisconsin10 heraus; da soll’s gut sein.»
«Und geht Ihr alle dorthin?» frug ihn Kellmann.
«Die meisten von uns, ja; eine Partie will aber auch hinüber in’s Missouri, da ist’s wärmer.»
«Es sind wohl lauter Landleute hier miteinander?»
«Ja meistens – e i n Schneider ist dabei und der Schmied aus dem Dorfe, und der Herr Pastor ist schon voraus.»
«Der Pastor geht auch mit11?» frug Kellmann schnell.
«Ahem», nickte der Mann. «Der ist aber mit der Post gefahren; doch er hat gesagt, er wolle sehen, daß wir alle auf e i n Schiff kämen. Danke schön, Ihr Herren, adje.»
«Glückliche Reise!» rief ihm Kellmann nach.
«Danke», nickte der Mann noch einmal zurück, «können’s brauchen», und schloß sich den übrigen wieder an, von denen die letzten gerade die Tür des Wirtshauses passierten.
Es waren ärmliche, viele von ihnen kränklich oder wenigstens bleich aussehende Gestalten, in die Bauerntracht ihrer Gegend gekleidet; die meisten Frauen mit Kindern auf dem Arm, manche sogar deren an der Brust, und ein Bündel dazu auf dem Rücken, die im Schweiß ihres Angesichts, wie sie dies jetzt gelebt, mühsam der fernen ersehnten Heimat entgegenstrebten. Hier und da waren auch ein paar kräftige junge Burschen von zwölf bis vierzehn Jahren vor ein kleines, leichtes Handwägelchen gespannt, darauf gepackte Betten, Kleidungsstücke und Lebensmittel die weite Straße entlang zu ziehen. – Die Leute hatten kein Geld übrig, denn das wenige, was sie zur Reise aufgespart, mußten sie für das Schiff aufheben, und ein paar Taler sollten doch auch noch übrig bleiben, damit sie nur die ersten Tage in Amerika, ehe sie Arbeit bekämen, vor Sorge geschützt waren. Den glänzenden Schilderungen, die ihnen von dem neuen Lande ihrer Hoffnungen gemacht waren, trauten die armen Frauen am wenigsten in ihrem vollen Umfange. Von Jugend auf, wie ihnen nur eben die Kräfte wurden, ihre jüngeren Geschwister in der Welt herumzuschleppen, hatten sie arbeiten, hart arbeiten müssen, und viel anders würde es auch wohl nicht da drüben sein. Der Sorgen waren hier nur gar zu viele angewachsen, mit jedem Jahr mehr, wie sie sich auch plagten und quälten, und schlechter k o n n t e es dort drüben nicht sein. Das war für jetzt der einzige Trost, den sie mit sich trugen die lange, heiße Straße entlang, mit einer kleinen Hoffnung möglicher Besserung vielleicht, und sie drückten dann die Kinder nur fester an ihr Herz und küßten sie und flüsterten ihnen leise und heimlich zu, daß sie nicht mehr schreien sollten, denn sie gingen nach A m e r i k a , und da würde schon alles gut werden, wie ihnen der Vater gesagt.
Die Männer und Burschen zogen der fernen Welt aber schon mit mehr Vertrauen entgegen; das Bewußtsein der eigenen Fähigkeit und Kraft hob sie dabei über manches hinweg, das die abhängigen Frauen schwerer zu Boden drückte. Wer bei einer langen Wanderung v o r a n g e h t und für den Weg zu d e n k e n hat, wird nie so müde als der, der ihm folgt, nur für sich denken läßt und hinterdrein zieht. Viele von den Männern trugen auch Jagdtaschen und Gewehre auf dem Rücken, Büchsen und Schrotflinten – was sollte es ,da drüben’ nicht alles zu schießen geben!12 – Manche auch nachgemachte bunte Blumensträuße auf dem Hut. Einzelne, aus Bayern und Thüringen, die sich ihnen angeschlossen, hatten sogar ein paar kleine gefärbte Maraboutfedern mit ihren Landesfahren, blau und weiß, und grün und weiß, in ihrem Hutband stecken, die meisten aber schienen keine solche Erinnerung an die Heimat mitnehmen zu wollen.
Die Leute gingen vorüber, und die Gäste hatten ihnen schweigend nachgeschaut, so lange fast, bis sie die nächste Biegung der Straße ihren Blicken entzog. Auch Lobsich war wieder vor die Tür seines Gartens getreten, und sich jetzt kopfschüttelnd zurück zu seinem Tisch wendend, brummte er vor sich hin:
«’s ist mir doch ‘was Unbedeutendes». Es war dies eine seiner stehenden Redensarten, die in der Tat unbegrenztes Erstaunen ausdrücken sollte. «Was die Leute dies Frühjahr wieder zu ziehen anfangen; Tag für Tag geht das so fort, Trupp nach Trupp kommt über die Berge herüber, mit Sack und Pack, mit Weib und Kind – und alles fort, alles fort, und man merkt nicht einmal, von w o sie fort sind.»
«Doch, doch», sagte Kellmann, die Augenbrauen in die Höhe ziehend und mit dem Kopf nickend. «Doch, doch, Lobsich; o b man’s wohl merkt! – Geht einmal da über die Berge hinüber und seht Euch in den Dörfern um ; da steht manches alte, halbzerfallene l e e r e Haus, an das irgendeine Familie da drüben noch mit Schmerzen zurückdenkt, und in das niemand anders mehr Lust hat einzuziehen, weil er noch eine Menge b e s s e r e , ebenfalls leer, in demselben Dorfe findet. Es ist immer ein trauriger Anblick, solch ein leeres Haus, und ich seh’s nicht gern13.»
«Und was für G e l d tragen sie außer Land», fiel der Apotheker hier ein, der indes, sich zu zerstreuen, im Heilinger Tageblatt gelesen hatte, jetzt aber nicht umhin konnte, auch noch ein Wort mit drein zu werfen. «Was sie nicht mit hinübernehmen können, lassen sie wenigstens in den Seestädten, und zu uns kommt nichts mehr davon zurück. Wenn ich nur das erst einmal erlebe, daß die Leute zu ihrem Glück förmlich g e z w u n g e n und nicht mehr aus dem Land hinausgelassen werden. Geht das aber so fort, so werden sie so lange auswandern, bis uns hier weiter gar nichts übrig bleibt, als mitzugehen, wenn wir nicht eben in dem verödeten Land allein sitzen wollen, unseren Acker selber zu bauen. Hol’ sie der Teufel! Wofür hat sie denn eigentlich der liebe Gott in die Welt gesetzt und ihnen den Holzkopf gegeben, der sie zu allem anderen untauglich macht. Ackern und düngen müssen sie drüben doch auch, und weshalb können sie das nicht ebenso gut h i e r ? – Nein, Gott bewahre, die paar Taler, die sie sich h i e r erspart haben, müssen erst wieder verschleppt und hinausgeworfen werden an Experimente und reinen Übermut, und nachher sitzen sie erst recht da. Dort drüben k ö n n e n sie nichts mehr sparen, und m ü s s e n schon drüben bleiben, wenn sie auch wieder herüber möchten. Die paar, die sich doch noch ein paar Taler zusammenscharren, die kommen nachher schnell genug wieder zurück, aber es sind nur wenige, und die anderen armen Teufel haben die Brücke mutwillig hinter sich abgebrochen und sitzen nun auf der wohlriechenden Heide ohne Unterfutter. Jesus, Maria und Josef, es muß ein ordentlicher Jammer drüben sein!»
«Na, so arg doch wohl noch nicht, Schollfeld», sagte Kellmann kopfschüttelnd, «man hört doch nun auch so manches von da drüben, was nicht gar so schlecht klingt, und wo sich’s schon aushalten ließe, wenn man – wenn man eben einmal einen solchen verzweifelten Schritt absolut tun müßte oder wollte.»
«Nicht so arg?» rief aber Schollfeld, der hier sein Steckenpferd ritt und sich selten eine Gelegenheit entgehen ließ, auf Amerika zu schimpfen. «Nicht so arg? Da, hier lesen Sie einmal das Tageblatt, was der wackere Dr. Hayde darüber schreibt; das ist ein Mann, der hat Haare auf den Zähnen und m u ß die Sache verstehen, denn er ist einer von den wenigen, die drüben g e w e s e n und glücklich wiedergekommen sind. Er bringt kaum eine Nummer, in der er nicht ein oder den anderen Hieb auf die Verhältnisse Ihres ,glücklichen Amerika’ hat – das muß ja ein wahres Raubnest sein, lesen Sie nur einmal.»
«Hören Sie, lieber Schollfeld, ich will Ihnen einmal ‘was sagen», erwiderte ihm Kellmann ruhig. «Dieser Dr. Hayde, der Ihnen die schönen Artikel schreibt, ist, der Meinung aller ordentlichen Kerle in Heilingen nach, das Wenigste zu sagen, eine kleine geschwollene Giftkröte, ein weggelaufener Advokat, den die Verhältnisse aus Deutschland vertrieben, und den in Amerika niemand mit seinen Talenten haben mochte. Zu faul zum Arbeiten und nicht imstande etwas anderes zu tun, wurde er dort wahrscheinlich vom Schicksal hin- und hergestoßen, und wie ein aus einer Tür geworfener Mops stellt er sich jetzt draußen hin, wo sich niemand die Mühe gibt, ihn zu stören, und schimpft und kläfft. Ich will Amerika eben nicht in allem verteidigen, aber was d e r gerade darüber sagt, würde mich auch nicht bestimmen. Wie ein Dreckkäfer schleppt er sich nur mit größter Mühe kleine Stückchen Kot herbei, und rollt sie zusammen, eine Kugel zu machen, in die er sein Ei legt – pfui über den Burschen14!»
«Na, jetzt freut mich aber mein Leben», rief Herr Schollfeld erstaunt aus. «Erst schimpfen Sie selber auf Amerika, und nun auf einmal soll der arme Doktor die ganze Schuld tragen.»
«Ich s c h i m p f e nicht auf Amerika», sagte Kellmann ruhig, «ich kann nur nicht leiden, wenn man es auf Kosten unseres eigenen Vaterlandes herausstreicht und gegen alle seine Nachteile blind ist. Es wäre allerdings noch viel gefährlicher, sich die Lichtseiten alle zu bunt auszumalen; die armen Leute, die nachher hinübergehen und es anders finden, sind dann zu sehr enttäuscht und fallen gewöhnlich, wie mir gesagt ist, aus einem Extrem ins andere – aber s o taugt’s nichts.»
«Guten Abend selbander», sagte in dem Augenblick eine andere Stimme dicht hinter ihnen, und als sie sich danach umschauten, stand ein alter Bekannter von ihnen, Mathes Vogel, ein reicher junger Bauer aus dem nächsten Dorf, an ihrem Tisch und streckte ihnen freundlich die Hand entgegen.
«Hallo, Mathes, wie geht’s?» rief Kellmann, die gebotene herzlich schüttelnd. «Wetter noch einmal, Mann, wo habt Ihr jetzt, gerade in der Saatzeit, gesteckt, daß Ihr in der Welt herumreist wie ein Baron, der seine Güter verpachtet hat? Ihr seid verreist gewesen?»
«Ja, Herr Kellmann, in Bremen.»
«Wo seid Ihr gewesen?» frug Schollfeld erstaunt.
«In Bremen, Herr Schollfeld!» rief der junge Bauer gegen diesen gewandt. «Oben in der Hafenstadt.»
«Guten Abend, Mathes», kam hier der Wirt dazwischen, der den alten Kunden ebenfalls begrüßte. «Lange nicht gesehen, recht groß geworden, mein Junge; hast Du Durst?»
«Merkwürdigen», sagte der Bauer lächelnd.
«Na warte, den wollen wir begießen», schmunzelte Lobsich, rasch in den Garten zurückgehend. «Der soll mir nicht umsonst in den Roten Drachen gefallen sein.»
«Aber was hat Euch nach Bremen geführt?» wiederholte Kellmann, durch das wunderliche Benehmen des jungen Burschen fast etwas mißtrauisch gemacht.
«Ja, Herr Kellmann», sagte der reiche Bauerssohn, wirklich jetzt verlegen seinen Hut um den Zeigefinger der linken Hand drehend, «das hat – das hat so eine eigene Bewandtnis – ich bin – ich bin zu einem Entschluß gekommen – ich will – ich will auswandern.»
« W a s will er?» schrie Schollfeld, der die Worte nicht ganz verstanden, den ungefähren Sinn aber etwa erraten hatte. Jedenfalls schöpfte er Verdacht, und ehe Kellmann nur imstande war ein Wort darauf zu erwidern, rief nochmals laut: « W o will er hin?»
«Nach Amerika», sagte jetzt der junge Mann entschlossen und wollte noch etwas hinzusetzen, aber der Apotheker schlug dermaßen auf den Tisch, und fing so an zu schimpfen und zu fluchen, niemand wußte eigentlich auf was und gegen wen, daß Mathes gar nicht gleich wieder zu Worte kommen konnte und vielleicht auch eben nicht böse darüber war.
«Hallo, was haben wir da wieder?» rief aber in dem Augenblick Lobsich, der mit dem bestellten Bier für einen seiner besten Kunden selber ankam. «Daß Dich die Milz sticht, was ist denn dem Apotheker eigentlich in die Krone gefahren?»
«Dem Apotheker nichts», nahm da Kellmann kopfschüttelnd das Wort, «doch hier dem Dingsda, dem Mathes – was meint Ihr, Lobsich, was er vorhat?»
« H e i r a t e n ? » sagte dieser, und ein breites, vergnügtes Schmunzeln über den so richtig und schnell geratenen Vorsatz zog sich über sein dickes, gutmütiges Gesicht.
« H e i r a t e n ! » schrie aber der Apotheker dazwischen, indem er sich seinen Hut in die Stirn drückte und seinen Rock anfing zuzuknöpfen. «Heiraten ! Ja prost die Mahlzeit, a u s w a n d e r n will der Kerl, wie ein blindes Pferd, das durch die Stallwand bricht, in einen Teich zu fallen.»
« A u s w a n d e r n ? » schrie aber auch jetzt Lobsich in unbegrenztestem Erstaunen. «Na, das ist mir aber doch wahrhaftig ‘was U n bedeutendes!»
«Oh hol’ mich der Teufel mit Eurer albernen Redensart!» rief der nun einmal ärgerliche Apotheker und nahm seinen Stock unter den Arm – sein stetes Zeichen, daß er fertig zum Gehen sein. «Was Unbedeutendes, jawohl, wenn der Raptus15 erst einmal in s o l c h e Köpfe und Geldbeutel fährt, nachher werden wir sehen, was wir hier anrichten. Ich will mir aber mein Abendbrot nicht verderben – gute Nacht Ihr Herren.»
«Halt, Schollfeld!» rief aber Kellmann, ihn am Arm fassend und zurückhaltend. «Brennt mir nicht durch, ich gehe auch gleich mit und wollte nur erst hören, was Mathes den Gedanken in den Kopf gesetzt hat. Hol’s der Henker, er macht sich entweder einen Spaß mit uns, oder es ist nur so eine Idee von ihm, die wir ihm wieder ausreden können.»
«Wenn ich das wüßte, blieb ich die ganze Nacht hier», sagte Schollfeld, seinen Stock wieder auf den Tisch legend und zu dem verlassenen Stuhl zurückgehend. «Mensch, Mathes, seid Ihr denn rein vom Teufel besessen, oder habt Ihr nur heute in irgendeiner Kneipe ein wenig des Guten zu viel getan, daß Ihr so tolles Zeug zusammenfaselt?»
Mathes blieb aber bei allen diesen Ausdrücken des Erstaunens, die erste Erklärung nun einmal überstanden, vollkommen ruhig und zog nur, statt jeder weiteren Antwort, einen Brief aus seiner Brusttasche, den er langsam auffaltete und vor sich legte, als ob er ihn vorlesen wollte.
«Nun, was soll’s mit dem Wisch?» rief der Apotheker ärgerlich. «Ihr habt Eure Seele doch noch nicht dem Gottseibeiuns verkauft?»
«So schlimm noch nicht», lachte der junge Bursche, «das hier ist nur ein Brief von Caspar Lauber, den Sie ja alle kennen und der vor etwa sieben Jahren nach Wisconsin auswanderte.»
«Der w a s tat?» rief der Apotheker, die Augen zusammenkneifend und das linke Ohr zu ihm hindrehend. «Nuschelt nicht so in den Bart, daß Euch ein Christenmensch noch verstehen kann, ehe Ihr unter die Heiden geht.»
«Der nach Wisconsin auswanderte», sagte der junge Bauer lächelnd. «Er hatte mir damals versprochen zu schreiben, wie es ihm ginge, schlecht oder gut – wenn schlecht, wollt’ ich ihm helfen, wenn gut, vielleicht nachkommen. Aber er schrieb n i c h t , Jahr nach Jahr, und da er überhaupt nichts von sich hören ließ, glaubte ich schon, er sei da drüben gestorben oder untergegangen in dem weiten Reich, bis ich vor vier Wochen etwa einen Brief von ihm erhielt, und seit der Zeit habe ich keine Ruhe gehabt bis zu dem heutigen Tag.»
«Nun ja, natürlich», brummte der Apotheker.
«Aber so laßt ihn doch nur reden», rief jetzt auch ärgerlich der Aktuar dazwischen. «Ihr raisoniert nur in einem fort und glaubt nachher, wenn Ihr recht geschrieen habt, Ihr hättet Recht.»
«So lest den Brief einmal!» sagte Kellmann, die Arme auf den Tisch stützend. «Nachher wissen wir ja gleich, woran wir sind.»
«Aber erst muß ich noch Bier haben», rief Schollfeld dazwischen, «ich mag die Lügen wenigstens nicht trocken mit anhören.»
Lobsich winkte einem der nächsten Kellner, die indes leer gewordenen Gläser wieder zu füllen, denn der Brief interessierte ihn selbst zu sehr, den Tisch jetzt zu verlassen, und Mathes sagte wie entschuldigend:
«Der Brief ist sehr kurz, aber es steht alles darin, was ich zu wissen verlangte, und er lautet:
,Lieber Mathes – ich habe bis jetzt mein Versprechen nicht gehalten, Dir zu schreiben, weil es mir sehr schlecht gegangen ist…’ »
«Naja», fiel ihm hier der Apotheker in das Wort. «Und nun müßt Ihr Hals über Kopf machen, daß Ihr auch hinüber kommt.»
Kellmann wollte dem ewigen Einredner etwas erwidern, aber Mathes fuhr, lächelnd die Hand gegen ihn aufhebend, wieder laut fort:
« ,Ich wollte aber nicht gern, daß mich jemand anderes unterstützen sollte, weil das hier im Lande eine Schande ist, ich wollte mir selbst helfen, und habe mir kümmerlich, aber ehrlich und fleißig durchgeholfen. Jetzt habe ich eine kleine Farm von achtzig Acker, und vierundzwanzig Stück Rindvieh und dreißig Schweine und zwei Pferde, und es geht mir gut. Ich habe hart arbeiten müssen, aber ich komme durch. Wenn Du mit Geld hier herüber kommst und willst mich aufsuchen, daß ich Dir mit Rat und Tat an die Hand gehen kann, dann brauchst Du keine Angst zu haben, daß Du nicht durchkommst. Wenn Du eine Frau hast, bringe sie mit; Kinder sind ein Segen hier, kein Fluch, wie für manchen armen Mann in Deutschland. Wer arbeiten will, kommt fort, wer faul ist, geht zugrunde. Es grüßt Dich zehntausendmal Dein Caspar Lauber – Lauders Farm bei Milwaukie, Wisconsin.»
«Und auf d e n Brief wollt Ihr auswandern?» rief aber auch Kellmann jetzt erstaunt. «Mathes, ist Euch denn das Auswanderungsfieber so plötzlich in die Glieder geschlagen, daß Ihr die Seekrankheit für das einzige Mittel haltet, die es kurieren könnte?»
Mathes schüttelte aber gar ernsthaft mit dem Kopf, faltete den Brief zusammen, den er zurück in seine Tasche schob, und sagte mit fester und entschlossener Stimme :
«Lange im Sinn hab’ ich’s schon gehabt, und der Brief hat es zuletzt zum Ausbruch gebracht.»
«Aber, Mathes, Ihr vor allen anderen habt doch Euer Auskommen hier im Land», rief jetzt auch Lobsich, während der Apotheker das ihm eben gebrachte Glas auf einen Zug hinuntergoß, wie um seinen Ingrimm damit niederzuspülen. «Wenn I h r nach Amerika auswandern wollt, wer soll denn noch dableiben?»
«Ich b l i e b e auch», sagte Mathes rasch und mit vor innerer Bewegung fast erstickter Stimme. «Ich bliebe auch, wenn mich mein Vater ließe, aber – der will nicht in die Heirat eiligen mit Roßners Käthchen, des Häuslers16 Tochter aus Rodnach. Hier hält er mich dabei unter dem Daumen mit seinem Gut und Geld, und das Mädchen stirbt mir indessen in Arbeit und Gram; dort drüben aber ist ein Platz, wo fleißige Menschen auch durchkommen können mit Gottes Hilfe o h n e Geld, o h n e Ansehen. Der Lauber hatte gar nichts, wie er hinüberging, nicht das Hemd auf seinem Rücken war sein, und ich weiß, daß er nicht einen roten Pfennig mit in das fremde Land gebracht hat. Aus dem ist jetzt ein rechtschaffener Farmer geworden, mit eigenem Land, Haus und Vieh, und was d e r kann – schwere Not noch einmal – das kann ich auch. Ich gehe hinüber, nehme das Käthchen mit – Geld zur Überfahrt krieg’ ich schon, und wenn ich meine beiden Schimmel um den halben Wert verkaufen sollte, und dort hilft der liebe Gott schon weiter. Verhungern werden wir nicht, und ich brauche mir hier nicht mehr unter die Nase reiben zu lassen: das sollst Du tun und das nicht, und d i e sollst Du heiraten, die Du nicht magst und willst, und die Dich lieb hat und Dich glücklich machen kann, der sollst Du das Herz brechen – weil ihr eben nur der volle Geldsack fehlt.»
«Unsinn!» sagte der Apotheker, jetzt wieder und zwar im Ernst aufstehend. «Wenn jemand einmal rein verrückt geworden ist, läßt sich auch nicht mehr mit ihm streiten. Gehen Sie mit, Kellmann?»
«Ja, gleich», erwiderte der Gefragte. «Weiß denn aber Euer Vater schon um den Plan, Mathes?»
«Heute hab’ ich’s ihm gesagt», erwiderte der Gefragte leise, «aber er glaubt es noch nicht.»
«Und ist es denn schon wirklich so fest bestimmt?» sagte Kellmann teilnehmend.
«Meine Passage in Bremen für mich und – meine F r a u ist schon bezahlt», rief der junge Bursche da entschlossen. «Den fünfzehnten geht das Schiff ab und ich habe nur noch eben Zeit, das Notwendigste in Ordnung zu bringen.»
«Ja, da kommt freilich jeder gute Rat zu spät», sagte Kellmann, jetzt ebenfalls aufstehend und seinen Hut ergreifend, «wenn der Sprung erst einmal geschehen ist, braucht man nicht mehr über das Springen zu streiten, und ich wünsche Euch das Beste in Eurer neuen Heimat.»
«Ich weiß es, ich weiß es», sagte Mathes gerührt, «aber vielleicht seh’ ich Sie selber noch einmal auf freiem Boden drüben, mit Axt oder Pflug in der Hand, wie ein wackerer, richtiger Farmer.»
«Wen – m i c h ? » rief aber Kellmann ordentlich erschreckt aus. «Ich nach dem vermaledeiten Lande, das alle unsere besten Bürger frißt? Nein, Mathes, für dies Leben nicht – aber wann geht Ihr fort? Vielleicht läßt Euer Vater doch noch mit sich reden und lenkt ein, wenn er sieht, daß es Euch wirklich Ernst ist.»
Mathes schüttelte mit dem Kopf und der Aktuar rief :
«Ein Bauer und einlenken, Kellmann? – Da kennt Ihr unseren deutschen Bauer nicht, worauf der einmal seinen Dickkopf gesetzt hat, da muß er durch, und wenn’s nicht geht, so zerhaut er sich eben den Schädel, aber er läßt nicht nach. Der alte Vogel und nachgeben; Du lieber Gott, wenn er den eigenen Sohn mit einem einzigen Wort vom Verderben retten könnte – er spräch’ es nicht.»
« Na, da kann ich wohl auch meine Bude hier bald zuschließen und mitgehen», sagte Lobsich, sich den Kopf kratzend. «Schwerebrett, das ist mir – hm – hm – ist mir doch ‘was Unbedeutendes, das – das Amerika.»
«Und was sagt denn das Käthchen dazu?» frug Kellmann jetzt Mathes, während die Übrigen schon aufgestanden waren und sich zum Fortgehen gerüstet hatten.
«Die weint und will nicht mit», sagte Mathes leise. «Aber sie wird schon gehen.»
«Sie will nicht mit?»
«Sie meint, es bräche meinem Vater das Herz.»
«Das Herz brechen? – Dem alten Vogel?» lachte aber dieser verächtlich. «Na, Gott sei Dank, die hat einen guten Begriff von ihm – als ob dem etwas das Herz brechen könnte!»
«Nun, es fragt sich nur jetzt, wem sie es lieber bricht», meinte der Aktuar. «Dem Alten, wenn sie geht, oder dem Jungen, wenn sie bleibt – die Wahl wird ihr nicht schwer werden. Aber, Schollfeld, Ihr seid ja auf einmal so still geworden?»
«Ach, laßt mich zufrieden», brummte dieser ärgerlich, «weiß es Gott, man möchte am Ende selber mit hinüberlaufen, um nur nichts mehr von dem verwünschten Auswandern reden zu hören.»
«Hahaha!» rief da Kellmann. «Schollfeld bekommt auch überseeische Ideen!»
«Überseeische – hätte bald ‘was gesagt», knurrte dieser aber, dem Gartentor zugehend, ohne weder Mathes noch Lobsich gute Nacht zu sagen.
Die Übrigen wechselten noch kurzen Gruß mit ihren Bekannten dort, zündeten sich frische Zigarren an und schlenderte langsam, um den freundlichen Abend soviel als möglich zu genießen, die Straße hinab, der eigenen Heimat zu.
* * *
Auswanderer verlassen ihr Dorf
Drittes Kapitel
Der Diebstahl.
Zehn Minuten mochten sie so etwa schweigend nebeneinander hergegangen sein, als hinter ihnen auf der Straße eine Equipage17 und klappernde Hufschläge gehört wurden, die sie rasch einholten und an ihnen vorbeirauschten, eine dicke Staubwolke dabei über den Weg wälzend. Es war die Familie Dollinger mit dem neben dem Wagen hingallopierenden Fremden, dem Bräutigam der Tochter.
«Die kommen schneller von der Stelle, als die armen Auswanderer vorhin», sagte Kellmann, als sie vorbei waren. «Wetter noch einmal, es ist doch ein anderes Ding, so ein paar flüchtige Rappen vor sich zu haben und wie im Flug durch die Welt zu jagen, als mit einem schweren Packen auf dem Rücken und wunden Füßen vielleicht mühselig die staubige Straße entlang zu keuchen.»
«Ja, die Gaben sind ungleich verteilt in der Welt», seufzte der Aktuar, «was der eine haben m ö c h t e , h a t der andere schon, und das ist auch wohl das ganze Geheimnis der sozialen Frage; läßt sich aber nun einmal nicht ändern, und wir dürfen vielleicht den Kopf darüber schütteln und wünschen, daß es anders wäre, aber weiter eben nichts.»
«Der auf dem Pferd war der Dingsda von Amerika», sagte der Apotheker jetzt, «der das schmähliche Geld hat und des reichen Dollinger Tochter noch dazu heiratet. Soll mir noch einmal einer sagen, daß Eisen der stärkste Magnet sei; Gold ist’s, und wo das liegt, zieht es anderes hin.»
«Und wie steht’s mit Aktien?» lachte Kellmann.
«Bah – bleibt immer dasselbe», brummte der Apotheker, «das Gold steckt darin und kann durch einen sehr einfachen chemischen Prozeß leicht herausgezogen werden – wenn man sie hat.»
«Es wundert mich übrigens, daß der alte Dollinger sein Kind über das große Wasser hinüberziehen läßt», meinte der Aktuar. «Dem hätte es doch auch hier im Lande nicht an einer ebenso guten Partie gefehlt.»
«Liebe», meinte Kellmann achselzuckend, «Liebe ist blind, sagt ein altes Sprichwort; dagegen lassen sich eben keine Gründe anbringen. Wär’s übrigens auch nicht wegen des großen Wassers, der Bursche gefällt mir außerdem nicht und ich möchte ihm meine Tochter nicht geben und wenn er bis über die Ohren in Gold stäke. Er hat ein verschlossenes, hoffärtiges Wesen, behandelt den gemeinen Mann wie einen Hund und spricht von allem, was wir hier haben, unseren Einrichtungen, unseren Gesetzen, unseren Vergnügungen selber, ja unserem Klima und Land, das doch zum Henker auch s e i n Vaterland ist, mit der größten Verachtung. Amerika, und immer wieder Amerika, hinten und vorn, ei, Blitz und Hagel, ich will gar nicht leugnen, daß es manche gute Seiten haben mag, das Amerika, wenn i c h sie auch gerade nicht einsehen kann, aber so viel besser wie unser Deutschland ist es doch auch nicht drüben, und wenn’s so einem Burschen da einmal zufällig geglückt ist, sollt’ er nicht als Lockvogel sich hier mitten zwischen uns hineinsetzen, um anderen vernünftigen Leuten unglückselige Ideen in den Kopf zu pflanzen.»
«Wenn sich andere vernünftige Leute solche Ideen einpflanzen l a s s e n , geschieht’s ihnen ganz recht», sagte der Apotheker. «Man braucht nicht zu glauben, was jeder dahergelaufene Lump eben sagt.»
«Nun, g a n z ohne kann’s aber auch nicht sein», meinte Kellmann kopfschüttelnd, «und ich – ich halt’ es immer für gefährlich. ‘s ist merkwürdig, wie rasch sich das mit der Hochzeit gemacht hat.»
«Nun, wer sich die Braut gleich fix und fertig aus dem Wasser zieht, hat leicht freien», sagte der Aktuar. «Glück muß der Mensch haben, dann geht alles wie am Schnürchen; wer aber d a s nicht hat, der mag sein Lebtag fischen und fängt doch nichts – am wenigsten aber solch’ einen Goldfisch.»
«Wo stammt er denn eigentlich her?» frug der Apotheker jetzt, wie sie wieder eine Weile schweigend nebeneinander hingegangen waren. «Man hört doch sonst eigentlich gar nichts von ihm und er kommt auch mit keinem Menschen weiter zusammen – stolzer, aufgeblasener Bursche der!»
«Gott weiß es», sagte der Aktuar, «er ist, glaub’ ich, mit einem holländischen Schiff herübergekommen und hatte einen Paß von Amsterdam.»
«Und der Paß lautete nach Heilingen?»
«Nun, nicht gerade nach Heilingen, aber doch nach der Residenz, und wie sich die Sache dann hier mit der Dollinger’schen Familie gestaltete, nun, lieber Gott, da drückte der Stadtrat das eine und die Stadtverordneten drückten das andere Auge zu, und man sah nicht so genau nach den Papieren. Überdies verzehrte er ja hier viel Geld. Wär’ es ein armer Teufel gewesen, hätten wir ihn wahrscheinlich schon bald wieder über die Grenze gehabt.»
«Hm, ja, glaub’s», sagte Kellmann, mit dem Kopf nickend; «’s ist in Heilingen eben nicht anders, wie – wie anderswo – warum auch?»
Das Gespräch drehte sich von da ab auf die städtischen Einrichtungen, deren wärmster Verteidiger der Apotheker war, und über die sich der Aktuar natürlich nur sehr vorsichtig ausließ, während sie Kellmann umso unnachsichtiger angriff; kam dann auf die Saat und die Preise, und wieder mit einem Seitensprung auf die jetzige Politik unseres lieben deutschen Reiches, bis sie das Tor, und zwar gerade mit Sonnenuntergang erreichten, wo jeder seinen Weg ging, die eigene Heimat aufzusuchen.
Der Aktuar Ledermann besonders, der an dem entgegengesetzten Ende der Stadt wohnte, beeilte seine Schritte, um noch vor einbrechender Dunkelheit seine Wohnung zu erreichen; das Gerücht ging nämlich in der Stadt, daß ihn seine Ehehälfte bei solchen Gelegenheiten oft sehr unfreundlich empfange und ihm einmal sogar schon einige sonst sehr nützliche, bei d e r Gelegenheit aber nichts weniger als passende häusliche Geräte entgegen- und vor die Füße geworfen habe. Tatsache war, daß ,Madame’ oder Frau Aktuar Ledermann, was auch ihres Gemahls Tätigkeit und Ansehen a u ß e r h a l b seiner eigenen vier Pfähle sein mochte, i n n e r h a l b derselben jedenfalls das Kommando, und nicht immer mit Mäßigung führte, und der Aktuar suchte den Hausfrieden wenigstens soviel als möglich zu erhalten und jeden Anlaß zu irgendeiner Störung derselben zu vermeiden.
Mit solchen Gedanken vielleicht im Kopf, wollte Ledermann eben vom Marktplatz aus in die Straße einbiegen, an deren äußerstem Ende seine eigene, sehr bescheidene Wohnung stand, als er seinen Titel genannt und sich selber rufen hörte:
«Herr Aktuar – Herr Aktuar Ledermann!»
Er drehte sich rasch um und sah einen Gerichtsdiener eilig auf sich zukommen, der, die Mütze abnehmend, vor ihm stehen blieb und ihm meldete, daß er eben abgeschickt worden, ihn zu holen oder aufzusuchen, da ein Einbruch geschehen sei, über den an Ort und Stelle Protokoll aufgenommen werden solle.
«Protokoll aufnehmen?» sagte Aktuar Ledermann, keineswegs angenehm überrascht. «Ja, was hab’ i c h denn heute damit zu tun, wo ist mein Kollege?»
«Herr Aktuar Beller sind heute Nachmittag unwohl geworden», berichtete der Polizeidiener, «und mußten nach Hause gehen; ich bin eben abgeschickt, um zu sehen, welchen von den anderen Herren ich zuerst treffen könnte.»
«Hm – ist sehr amüsant», brummte Ledermann vor sich hin. «Kommt mir gerade apropos. Bei wem ist es denn?»
«Bei Herrn Dollinger.»
«Was ? – Beim Kaufmann Dollinger?» rief der Aktuar rasch und erstaunt. «Am hellen Tage, während er ausgefahren war?»
«Er ist, wenn ich nicht irre, eben nach Hause gekommen», berichtete der Mann, «und hat, glaub’ ich, sein Pult geöffnet und eine bedeutende Summe Geldes entwendet gefunden.»
«Hm, hm, hm», sagte der Aktuar kopfschüttelnd und seinen Rock dabei, den er der Bequemlichkeit wegen aufgelassen hatte, zuknöpfend, «es wird immer besser hier bei uns; am hellen, lichten Tage! Aber die ganze Stadt steckt auch voll fremden Volkes, das sich natürlich keine Gelegenheit entschlüpfen läßt, Reisegeld zu bekommen.»
«Es muß doch wohl jemand gewesen sein, der mit dem Hause genau bekannt war», sagte der Polizeidiener. «nach dem wenigstens, was ich bis jetzt von den Dienstleuten darüber gehört habe, kann’s nicht gut anders sein.»
«Nun, wir werden ja sehen; da muß ich aber erst….»
«Wenn sich der Herr Aktuar nur an Ort und Stelle bemühen wollen», sagte jedoch der Diener des Gerichts. «Alles nötige ist schon dorthin geschafft, und ich war eben nur fortgelaufen, um einen der Herren zu suchen.»
Der Aktuar, dem Dienste natürlich Folge leistend, seufzte tief auf und schritt, im Geist wahrscheinlich des Empfangs gedenkend, der seiner harrte, wenn seine Frau auf ihn mit dem Abendessen warten mußte, rasch die Poststraße hinaufbiegend, dem gar nicht weit entfernten Dollinger’schen Hause zu, um dort den Tatbestand in Augenschein und zu Protokoll zu nehmen, etwaige Spuren des Übeltäters zu entdecken und zu verfolgen, und die Leute im Hause nach möglichem Verdacht zu inquirieren.
* * *
Im Hause des reichen Kaufmanns Dollinger, in dem alles sonst so still und ruhig und wie am Schnürchen zuging, wo jeder seine angemessene und fest bestimmte Beschäftigung hatte, genau wußte, was ihm oblag, und das tat, ohne eben viel Lärm darum zu machen, lief und rannte und sprach heut alles durcheinander, und sämtliche Bande der Ordnung schienen gelöst.
Frau Dollinger vor allen Dingen lag in Krämpfen in ihrem Boudoir und beanspruchte die Hilfe ihrer beiden Töchter und der weiblichen Dienstboten im Haus, um ihren Zustand zu bewachen; Herr Dollinger selber war in seinem Zimmer des oberen Stocks und ging dort mit raschen Schritten und auf dem Rücken gekreuzten Armen auf und ab, während dem jungen Henkel indessen die Bewachung des Platzes übertragen war und die anderen Dienstboten, mit einem nicht unbedeutenden Teil der Nachbarschaft und deren Verwandten, in den verschiedenen Winkeln und Ecken des Hauses umherstanden, und kopfschüttelnd die Hände ein über das andere Mal in Verwunderung zusammen-schlugen. Die verschiedenartigsten Vermutungen und Beweise wurden da laut, und die Orte und Stellungen oder Beschäftigungen jedes Einzelnen auf das Genaueste und Peinlichste angegeben, wo und wie sich jeder gerade in der Zeit etwa befunden haben mochte, als die entsetzliche, verruchte Tat geschehen und vollbracht sein mußte.
Dem Aktuar mit dem ihm folgenden Gerichtsdiener wurde übrigens willig und dienstfertig Platz gemacht; alle wollten aber hinterdrein, und die Frauen besonders gaben dabei durch die entschiedensten Ausrufe: «Ne, Du meine Güte!» und «Ne, so ‘was!» ihre vollkommenste Mißbilligung des Geschehenen zu erkennen. Nichtsdestoweniger wurde auch selbst ihnen die Tür vor der Nase zugemacht, und einer der Bedienten bekam strenge Ordre, die Hausflur zu räumen und niemand mehr, so lange die Untersuchung dauere, die Treppe hinaufzulassen, ausgenommen, es wisse jemand noch um den Diebstahl und könne irgendeinen Fingerzeig geben, um den Dieben auf die Spur zu kommen. Solche Zeugen sollten nachher vernommen werden.
Oben an der Treppe empfing sie Herr Henkel, um sie gleich an den Ort, wo der Diebstahl verübt worden, hinzuführen. Einer der Leute war indessen abgeschickt, um Herrn Dollinger selber zu rufen, und dieser erschien jetzt, den Aktuar freundlich grüßend.
Es war indessen schon ziemlich dunkel und im Zimmer Licht angezündet worden.
«Ich bedaure sehr, Herr Dollinger», sagte der Aktuar, «daß, wie ich gehört habe, eine so fatale Sache mich hier in Ihr Haus führen mußte.»
«Ja, allerdings», erwiderte der alte Herr, «ist es sehr unangenehm; weniger des Verlustes wegen, der sich allenfalls ertragen ließe, als wegen des Bewußtseins getäuschten Vertrauens, mit selbst keinem gewissen Anhaltspunkt auf Verdacht. Ich wollte gern das Doppelte verloren haben, wenn es hätte auf andere Weise geschehen können.»
«Das Ganze ist übrigens mit einer raffinierten Geschicklichkeit ausgeführt», fiel Henkel hier ein, «und der Täter, wer auch immer, jedenfalls ein höchst gefährliches Subjekt, von dem ich nur hoffen will, daß wir ihm auf die Spur kommen.»
«Dürfte ich Sie bitten, mir den Platz zu zeigen?»
«Treten Sie hier in das Zimmer meiner Töchter; dort der Sekretär ist erbrochen.»
«Hm – mit einem breiten, meißelartigen Instrument», sagte der Aktuar nach kurzer Besichtigung der offenen, arg beschädigten Mahagoniplatte, «und die Tür ebenfalls eingebrochen?»
«Nein – die Tür ist unbeschädigt und muß jedenfalls mit einem Nachschlüssel geöffnet sein.»
«Und was vermissen Sie in dem Sekretär?»
«Eine Summe Geldes, die ich erst vor wenigen Stunden, und im Beisein meiner Familie und eines zuverlässigen Komptoirdieners, im Paket wie ich sie von der Post erhalten, hier eingeschlossen hatte, und von welcher der Dieb auf eine mir unbegreifliche Weise muß Kenntnis erhalten haben.»
«Wer ist dieser Komptoirdiener?»
«Oh, Loßenwerder; Sie kennen ihn ja wohl?»
«Loßenwerder», sagte der Aktuar nachdenkend, «ist wohl schon eine ganze Weile in Ihrem Geschäft?»
«Schon zwölf Jahre; mit keinem Schatten irgendeines Verdachts. Ich nahm ihn als einen ganz jungen Burschen in mein Haus; er muß aber gegen irgendjemand davon gesprochen haben.»
«Hm, hm, wollen ihn doch einmal nachher besehen; also hier hinein hatten Sie das Geld gelegt?»
«Es ist ein Sekretär, den meine Töchter gemeinschaftlich benutzen, und zu dem jede von ihnen ihren Schlüssel hat. Bitte, lieber Henkel, lassen Sie doch einmal Sophie oder Clara einen Augenblick zu uns herüberrufen.»
«Ich habe schon das Mädchen geschickt, eine der jungen Damen ersuchen zu lassen», entgegnete der junge Henkel, der indessen im Zimmer umhergegangen war und sich überall umgesehen hatte, ob nicht vielleicht der Dieb doch irgendeine Spur, irgendein Zeichen hinterlassen habe, an das man sich später einmal halten könne.
«Und vermissen Sie weiter nichts als das Geld?» frug der Aktuar.
«Auch ein Schmuck meiner ältesten Tochter scheint mit geraubt zu sein», sagte Herr Dollinger. «Aber da kommt Clara, die Ihnen das Nähere davon selber angeben wird.»
Clara betrat in diesem Augenblick das Gemach; sie sah totenbleich und angegriffen aus, und Henkel eilte ihr entgegen, sie zu unterstützen.
«Clara, mein liebes armes Kind», sagte Herr Dollinger, auf sie zugehend und die Hand nach ihr ausstreckend, «fehlt Dir etwas? – Der Schreck hat Dich wohl so angegriffen. Mach’ Dir doch nur keine Sorge, mein Herz; vielleicht bekommen wir alles wieder, und wenn nicht – nun ein U n g l ü c k ist es dann auch nicht. Wenn Ihr mir nur alle gesund bleibt, können wir die paar tausend Taler schon verschmerzen.»
«Es ist nicht der Verlust, lieber Vater», sagte aber das junge Mädchen, sich gewaltsam zusammennehmend und des Vaters Hand ergreifend, «nur die Überraschung, der Schreck wahrscheinlich, und das – das Unheimliche dabei, als ich mein Zimmer vorhin betrat und die Spuren des verübten Verbrechens entdeckte. Ich fürchtete die entsetzlichen Menschen noch irgendwo zu sehen, die vielleicht hinter einer Gardine stehen, unter einem der Divans liegen, hinter einem Ofen kauern konnten und, wenn entdeckt, zu verzweifelter Gegenwehr getrieben mich anfallen würden, und all’ solch’ kindische Gedanken mehr. Dort der auf den Tisch geworfene Regenschirm dabei, die heruntergeworfene Stickerei von dem Sekretär selber, am meisten aber der Tabaksgeruch im Zimmer und die verlöschte, angerauchte Zigarre dort auf dem Fensterbrett erfüllten mir das Herz mit einem unbeschreiblichen Grausen.»
«Eine Zigarre?» sagte Ledermann, sich vergebens nach dem bezeichneten Gegenstand umschauend. «Wo lag sie?»
«Dort im Fenster, als ich zurückkam.»
«Die alte angerauchte Zigarre?» sagte Henkel rasch. «Die hab’ ich zum Fenster hinausgeworfen; ich glaubte einer der Dienerschaft hätte sie in der Aufregung mit hereingebracht und dort abgelegt – sie muß unten auf der Straße liegen.»
«Bitte, schicken Sie doch einmal einen Burschen danach, daß er sie heraufholt», sagte der Aktuar. «Man darf auch das Unbedeutendste nicht unbeachtet lassen, und wir wollen indessen die vermißten Gegenstände aufnehmen. Das Geld?»
«Davon gibt Ihnen dieser Brief das genaue Verzeichnis», sagte Herr Dollinger. «Aber ich fürchte fast, daß wir durch das Geld selber nicht auf die Spur kommen werden, indem das Paket fast nur Gold und kleinere Banknoten enthielt, die leicht umzusetzen und schwer zu kontrollieren sind. Eher hoffe ich durch den Schmuck den Dieb verraten zu sehen, da, wie ich höre, einige sehr auffällige Stücke dabei gewesen sind.»
«Dürfte ich Sie um eine genaue Angabe derselben, heute Abend noch, wenn irgend möglich, s c h r i f t l i c h bitten?» erwiderte, nach einigem Besinnen, der Aktuar. «Diese Einzelheiten würden mich jetzt zu lange aufhalten.»
«Kannst Du das geben, Clara?»
«Bis auf die kleinste Nadel hinunter», sagte das junge Mädchen rasch, «besonders auffällig war eine kleine, rundum mit Brillanten besäte Brosche, ein Erbstück unserer Großmutter, und ausgezeichnet vor jedem anderen Schmuck, den ich noch in meinem ganzen Leben gesehen, durch einen in der Mitte gefaßten, genau dreieckigen, hellblauen und wundervollen Türkis. Mein Schmuck lag gleich dicht dahinter, den aber muß der Dieb in der Eile übersehen haben; er ist unangerührt geblieben.»
«Das ist allerdings glücklich», sagte der Aktuar, «wäre wohl auch des Mitnehmens wert gewesen. Lag gleich dabei?»
«Hier in dem roten Kästchen.»
«Aber das ist auch geöffnet worden.»
«Das? – Nein, das hab’ ich wohl selbst geöffnet, nachzusehen, ob auch alles darin sei, und nicht wieder ordentlich geschlossen. Die Haken waren allerdings auf, wenn ich mich nicht ganz irre, aber der Dieb hat keinesfalls eine Ahnung gehabt, welchen Wert das kleine, unscheinbare Kästchen enthalte, oder es stände jetzt nicht mehr da.»
«Sehr wahrscheinlich, hm – aber Sie vergessen wohl nicht, mein Fräulein, alle diese Einzelheiten besonders zu notieren; wer weiß, ob sie nicht noch einmal wichtig werden. Ah, da kommt auch Herr Henkel wieder; haben Sie die Zigarre gefunden?»
«Gott weiß wo sie ist!» lachte dieser. «Irgendjemand muß es doch noch der Mühe wert gehalten haben sie aufzuheben und in einer Pfeife vielleicht zu verrauchen – ich bin selber hinunter gegangen, kann sie aber nirgends mehr entdecken. Übrigens ist es auch fast dunkel geworden, und ich werde morgen ganz früh nachsuchen lassen. Der Stummel wird Ihnen freilich nicht viel helfen.»
«Man weiß nicht», sagte der Aktuar kopfschüttelnd, «je nach der Güte des Tabaks ließe sich vielleicht auf die Schicht der menschlichen Gesellschaft schließen, in der sich unser heimlicher Besuch herumtriebe. Aber das ist allerdings Nebensache; wo also ist der Dieb hereingekommen? – Hier durch diese Tür?»
«Doch wohl vom Garten her durch das Fenster Eures Schlafzimmers», sagte Herr Dollinger, «denn durch das Haus würde er sich am hellen Tage im Leben nicht getraut haben.»
«Aber ich möchte meine Seligkeit zum Pfande setzen, daß ich den Schlüssel, der nach unserer Schlafkammer führt, ehe wir fortgingen, herumgedreht und stecken gelassen hätte, so daß von innen ein Öffnen unmöglich war.»
«Und war die Tür noch verschlossen, wie wir zurückkamen?»
«Nein, nur ins Schloß gedrückt, aber der Schlüssel stak darin.»
«Hm, hm, hm – dann ist der Bursche wahrscheinlich dort hinaus», sagte der Aktuar, «zur Tür hier hereingekommen und dort zur Notröhre hinaus – hm, muß aber genau mit der Gelegenheit bekannt sein. Mein lieber Herr Dollinger, wir werden Ihre Leute doch ein wenig scharf ins Gebet nehmen müssen, denn ein g a n z Fremder kann sich die Zeit nicht so abgepaßt haben.»
«Wo kommt der Blumenstock her?» sagte da plötzlich Clara rasch und erstaunt, auf einen sehr schönen Rosenstock deutend, der in ihrem Fenster zunächst der Tür stand. «Wer hat den jetzt hier heraufgestellt?»
«So lange wir hier sind, niemand», rief Henkel. «War er vorher nicht da?»
«Nicht heute Mittag, das weiß ich gewiß; aber vielleicht hat ihn eins der Dienstleute mir heimlich hereingesetzt.»
«Heimlich? – So ?» sagte der Aktuar. «Den freundlichen Geber wollen wir also vor allen Dingen einmal herauszubekommen suchen.»
«Es ist heute mein Geburtstag», sagte Clara leise und errötend.
«Ohr !» meinte Herr Ledermann mit einem freundlichen Lächeln. «Da tut es mir freilich leid, meine ganz ergebensten Gratulationen zu keiner angenehmeren Zeit vorbringen zu können; will eben nicht passen bei einer solchen Untersuchung, kann es aber doch auch nicht geradezu hinunterschlucken. – Ich gratuliere eben nicht zur Untersuchung.»
«Es muß gewiß ein gesegnetes Land sein», sagte Henkel mit einem leisen, halb boshaften Lächeln, «wo die Polizei sogar witzig sein kann.»
«Hm», meinte der lange Aktuar, sich nach dem Sprecher umdrehend, «die Polizei macht eben keinen Anspruch darauf, und ist das meistens Privateigentum. Aber wir wollen die Zeit nicht mit Allotrien vergeuden; ist nicht herauszubekommen, wer den Blumenstock hier während Ihrer Abwesenheit in das Zimmer gesetzt hat?»
«Jedenfalls müssen die Dienstboten darum wissen», sagte der junge Henkel, «und es wird das Beste sein, sie einzeln darum zu befragen.»
«Allerdings – Einzelverhör hat überhaupt viele Vorteile; bitte, schicken Sie einmal die Leute herauf, daß man vor allen Dingen ihre Gesichter zu sehen bekommt.»
«Aber nicht hier, Väterchen, nicht war, nicht hier in meiner Stube?» bat Clara. «Ich würde den fatalen Gedanken im Leben nicht wieder los.»
«Wir wollen in das untere Zimmer hinuntergehen», sagte Herr Dollinger, freundlich dem Wunsch der Tochter nachgebend. «Es läßt sich das dort ebenso gut abmachen als hier.»
«Manchmal ist der Platz des Verbrechens selber der geeignetste», warf der Aktuar ein, «aber wie Sie wünschen – nur um Eins möchte ich Sie noch vorher bitten: daß ich mir einmal die Stelle oder das Fenster ansehen darf, durch das sich, Ihrer Vermutung nach, der oder die Diebe entfernt haben könnten.»
«In unserem Schlafzimmer?»
«Doch durch diese Tür?»
«Lieber Henkel, Sie sind wohl indessen so freundlich, meine Leute untern zusammenzurufen; wir kommen gleich hinunter. Sie werden heut viel belästigt.»
«Aber ich bitte Sie, bester Herr Dollinger», sagte der junge Mann, rasch seinen Hut aufgreifend, «wenn ich Ihnen nur darin von irgendeinem wirklichen Nutzen sein könnte. Lieber erlauben Sie mir vielleicht mit Ihnen einer möglichen Spur zu folgen, denn meine Augen sind darin vielleicht schärfer als manche andere.»
«Es wird in der Dunkelheit nicht eben mehr viel zu spüren geben», meinte indes der Aktuar, «das werden wir uns müssen auf morgen früh aufsparen – also jetzt noch das Fenster, wenn ich bitten darf – ich möchte mir nur die Gelegenheit einmal von oben besehen.»
Clara selber öffnete die Tür und führte den Aktuar mit ihrem Vater in das kleine freundliche Gemach, dessen beide schon von Blätter schießenden Weinranken überzogene Fenster auf den Garten hinaussahen. Das eine Fenster war allerdings geöffnet gewesen, aber der Rankenwuchs so dicht zusammenge-zogen, daß sich ein Körper kaum hätte hindurchzwingen können. Die Höhe nach dem Garten hinunter – und gerade unter dem Fenster sollte ein kleiner Rasenplatz sein – war eben nicht beträchtlich, vielleicht zehn oder zwölf Fuß, und unten umgab niederer, aber ziemlich dichter Hollunder den Rasen. Im Zimmer selber ließ sich aber nicht das Mindeste erkennen, das einen solchen Verdacht unterstützt hätte; das Einzige, was dafür sprach, war die aufgeschlossene Tür.
In der Unterstube des Hauses waren indessen die Dienstleute versammelt worden, um streng examiniert zu werden. Der Hausmagd vor allen anderen lag die Pflicht ob, die Etage, wenn sie nach unten in die Küche ging, in Abwesenheit der Herrschaft verschlossen zu halten. Diese aber behauptete steif und fest, und weinte dabei und rief Gott und alle Heiligen zu Zeugen an, daß sie die Vorsaaltür auch ordentlich ,zweimal herum’ abgeschlossen und den Schlüssel zu sich gesteckt hätte, und niemand in der weiten Gotteswelt gesehen habe, der das Haus in der Zeit betreten haben könne. Trotzdem aber sei die Vorsaaltür, als sie wieder nach oben gekommen, offen, wenigstens aufgeschlossen, wenn auch zugeklinkt gewesen, und sie hätte selber im Anfang nicht begreifen können, wie das möglich wäre, aber auch nicht weiter darüber nachgedacht und es ihrer eigenen Unaufmerksamkeit zugeschoben. Nach der Abfahrt der Herrschaft sei sie aber nur eine ganz, ganz kurze Zeit unten geblieben, um – sie wollte erst nicht mit der Sprache heraus, aber der Herr Aktuar drängte gar zu sehr – um den jungen Herrn Henkel fortreiten zu sehen. Nachher mochte sie vielleicht noch zehn Minuten der Köchin geholfen haben und war dann nicht wieder von dem Vorsaal oben fortgekommen, auf dessen Balkon sie gesessen und genäht hatte. In d e r Zeit habe niemand mehr den Vorsaal oder des Fräuleins Zimmer betreten, darauf wollte sie das heilige Abendmahl nehmen, und der Diebstahl müsse jedenfalls in den paar Minuten, die zwischen dem Fortreiten des jungen Herrn und ihrem eigenen Wiederhinaufgehen nach oben gelegen hätten, verübt sein – anders war es nicht möglich.
«Wer aber hat den Blumenstock in des Fräuleins Zimmer gestellt?»
«Einen Blumenstock? – Während die Herrschaft fort war?»
«Allerdings, eine Monatsrose – in das Fenster nächst der Tür.»
Der d a s getan hat, müsse damit zum Fenster oder in derselben Zeit mit einem Nachschlüssel zur Tür hereingekommen sein, als der Diebstahl verübt worden, denn s i e hätte keine Seele im Hause gesehen.
Die Dienstboten hatten indessen miteinander geflüstert, als der Aktuar das Wort nahm und mit langsam bedächtiger, aber ziemlich ernster Stimme sagte:
«Hört einmal, Leute, ich will Euch etwas sagen: Ihr habt Euch da gut unschuldig stellen, als ob Ihr eben erst auf die Welt gekommen wäret; damit dringt Ihr aber nicht durch. Das Geld ist fort – I h r seid die einzigen, die unter der Zeit im Haus waren, und Eure Pflicht wäre es gewesen….»
«Aber, Herr Aktuarius….»
«Ruhe da, wenn ich Euch etwas mitzuteilen habe – und Eure Pflicht wäre es gewesen, sag’ ich, aufzupassen, daß niemand Fremdes den Platz betrat, der Euch anvertraut war und für den Ihr also auch in der Zeit zu stehen hattet. Jemand i s t aber in der Zeit dagewesen und hat etwas gebracht und etwas geholt, und man wird sich jetzt an E u c h halten müssen, bis der Jemand ausfindig gemacht ist. – Was gibt’s da hinten – w a s ist gekommen?»
«Dullmanns Rieke von über dem Weg drüben», sagte die Köchin jetzt, gegen den Aktuar vortretend, «will den Loßenwerder haben heimlich aus dem Haus schleichen sehen. Da h a b e n Sie einen; u n s brauchen Sie so etwas nicht unter die Nase zu reiben, Herr Aktuar – wir sind ehrliche Dienstboten, die sich ihr bißchen Brot sauer genug im Schweiße ihres Angesichts….»
«Ach, halt’ Sie das Maul!» fiel ihr aber der Aktuar etwas unsanft in die Rede. « W e r ist im Haus gewesen, Loßenwerder? – Und heimlich hinausgeschlichen? – W e r hat ihn gesehen?»
«Hier die Rieke von Dullmanns.»
«Wann war das?» fragte der Aktuar das jetzt vorgeschobene Mädchen, das feuerrot wurde und ihren einen Schürzenzipfel anfing wie einen Plumpsack zusammenzudrehen. Erst ganz kurze Zeit vorher hatte sie einer ihrer Freundinnen im Dollinger’schen Haus, und gewiß nicht in der Absicht, die Mitteilung gemacht, gleich damit, ohne weitere Warnung, vor die Polizei gezogen zu werden.
«Nun, Mamsell – wie hieß sie? – Rieke? – Wann haben Sie Loßenwerder aus dem Haus kommen sehen, und ist er ruhig hinausgegangen oder geschlichen ?»
«Wenn Loßenwerder im Haus war», sagte Herr Dollinger, «so wird er auch ordentlich hinaus g e g a n g e n und nicht geschlichen sein; der wäre der Letzte, dem ich so etwas zutrauen möchte.»
«Die Rieke behauptet», fiel aber hier die Köchin in dem Bewußtsein unrechtlich gekränkten Ehrgefühls rasch ein, «daß sie gar nicht auf ihn geachtet haben würde, wenn er sich nicht so schnell und heimlich und dicht unter den Fenstern am Hause hingedrückt hätte. Wer kein böses Gewissen hat, kann gerade und offen gehen.»
«Sie sind aber gar nicht gefragt, zum Henker noch einmal», rief der Aktuar, jetzt ungeduldig werdend. «Wenn Sie jetzt nicht ruhig sind, lasse ich Sie so lange hinausführen, bis wir Sie wieder brauchen. Hier, Mamsell Rieke, wenn Sie sich die Schürze abgedreht haben, dann seien Sie so gut und sagen Sie uns einmal, wo und wie Sie den Herrn Loßenwerder gesehen haben.»
«Ich – ich weiß nicht gewiß», stammelte das Mädchen verlegen, «aber – aber Loßenwerder – kam, bald nachher wie die Herrschaft fortgefahren war… »
«Wie lange nachher?» frug der Aktuar.
«Etwa eine halbe Stunde denk’ ich – vielleicht nicht so lange – kam er viel rascher, als es sonst seine Art ist, denn er geht gewöhnlich immer sehr langsam – kam er – kam er aus der Tür heraus, die er geschwind hinter sich zuzog – und dann…. »
«Und dann?»
«Und dann hielt er den Kopf nieder, als ob er nicht wollte, daß ihn jemand, der vielleicht von oben heruntersähe, erkennen möchte – hielt er den Kopf nieder und drückte sich – drückte sich dicht am Haus hin, so schnell er konnte die Straße hinunter, und um die Ecke.»
«Und nachher?» frug der Aktuar.
«Nu, um die Ecke kann sie doch nicht sehen», sagte die Köchin.
«Ob S i e still sein wird», sagte Herr Ledermann jetzt aber wirklich böse gemacht. «Wenzel, wenn mir die Person da jetzt noch einmal das – noch einmal den Mund auftut, dann wissen Sie, was Sie zu tun haben.»
«Sehr wohl, Herr Aktuar», sagte der Gerichtsdiener.
«Und sind Sie denn nachher nicht herübergekommen und haben das den Leuten im Hause gesagt, was Sie gesehen?» frug der Aktuar.
«Ich habe ja aber nichts gesehen», sagte die Rieke.
«Sie haben doch den Loßenwerder gesehen.»
«Ja, aber der geht doch so oft in das Haus hier herein, und kommt nachher immer wieder heraus.»
Der Aktuar warf sich ungeduldig herüber und hinüber und sagte endlich mürrisch:
«Unsinn – barer Unsinn – aber hatte er denn irgend etwas in der Hand? T r u g er etwas ?»
«Trug ? – Ja – ja sehen Sie, Herr Aktuar – das kann ich Sie nicht sagen – das weiß ich nicht.»
«Nun, Sie werden doch gesehen haben, ob er irgendein schweres Paket in der Hand hatte oder nicht.»
«Ja, sehen Sie, das weiß ich Sie wahrhaftig nicht, aber ich glaube es fast», sagte das Mädchen, «denn ich habe den Herrn Loßenwerder eigentlich noch gar nicht anders gesehen, als daß er irgend ‘was getragen hätte, und wenn’s nur ein paar Briefe gewesen wären oder ein Regenschirm.»
«Lieber Herr Aktuar, ich glaube Sie sind da auf einer falschen Fährte», sagte Herr Dollinger jetzt. «Man kann einem Menschen allerdings nicht ins Herz sehen, aber für den Loßenwerder möchte ich fast selber einstehen.»
«Mein bester Herr Dollinger», sagte aber der Aktuar kopfschüttelnd, «es ist das mit den Untersuchungen eine wunderliche Sache, und Leute, auf die man am allerwenigsten gedacht, von denen man nie das geringste Unrecht vermutet hatte, kommen da oft in den sonderbarsten Verwicklungen vor und – sind schuldig. Ich selber kenne Loßenwerder als einen ordentlichen, braven Menschen, und will zu Gott hoffen, daß dieser ganze Verdacht unbegründet ist; das heimliche Schleichen aus dem Haus aber, und daß ihn niemand sonst im Haus gesehen hat, macht ihn verdächtig. Meine Pflicht ist es wenigstens, ihn selbst deshalb zu vernehmen, und ich werde jedenfalls noch heut Abend nach ihm schicken müssen. Unsere Eisenbahnverbindungen sind jetzt zu schnell, und man darf keiner Menschenseele mehr zwölf Stunden Vorsprung lassen, wenn man nicht oft das leere Nachsehen haben will.»
«Passen Sie auf», sagte Herr Dollinger, «der Loßenwerder wird den Blumenstock zum Geburtstag Claras oben hinaufgetragen haben, und zum Dank dafür kommt der arme Teufel jetzt noch in den Verdacht des fatalen Diebstahls.»
«Wie aber ist er ohne Nachschlüssel in die verschlossene Tür gekommen?» warf der Aktuar ein.
«Hm», sagte Herr Dollinger, «das weiß ich freilich nicht – nun, fragen Sie ihn selber, das wird jedenfalls der kürzeste Weg sein.»
«Um das Verzeichnis der gestohlenen Gegenstände dürfte ich Sie dann vielleicht nachher noch bitten.»
«Meine Tochter wird es gerade schreiben», sagte Herr Dollinger, «wenn Sie nur noch kurze Zeit warten wollen.»
«Dann dürfte ich Sie wohl bitten, es mir gleich in meine Wohnung zu schicken», meinte der Aktuar nach kurzer Überlegung. «Ich muß noch vor allen Dingen erst in meine Wohnung und werde dann von da gleich noch einmal ins Büro gehen. Wo ist denn der Loßenwerder wohl am leichtesten zu finden?»
«Ich habe eben nach seinem Hause geschickt», sagte Herr Dollinger, «aber dort ist er nicht. Paul, der Bursche, behauptet, er ginge manchmal, aber selten, in eine Bierstube an der Ecke Rößnitzer- und Hertzergasse18, aber dort war er auch nicht. Es ist übrigens an beiden Orten bestellt, ihn gleich, sowie jemand seiner ansichtig wird, hierher zu schicken.»
«Sehr wohl», sagte der Aktuar, seine Papiere zusammenpackend und sie dem Gerichtsdiener übergebend, nach kurzer Begrüßung wollte er sich dann eben entfernen, als er noch einmal in der Tür stehen blieb und, sich scharf auf dem Absatz herumdrehend, fragte:
«Apropos – r a u c h t Loßenwerder?»
«So viel ich weiß, n i c h t », sagte Herr Dollinger.
«Doch ja, manchmal», sagte einer der Leute. «Sonntags nach Tisch zum Beispiel regelmäßig eine Zigarre.»
«Hm, so?» sagte der Aktuar und verließ dann rasch das Zimmer und Haus.
Er hatte übrigens auch alle Ursache sich zu beeilen, denn daheim wartete ein mit jeder Minute drohender aufsteigendes Unwetter auf ihn, das er mit einer Art von verzweifelter Hoffnung immer noch mit den dem Gerichtsdiener wieder zu dem Zweck abgenommenen und geschäftsmäßig unter den Arm geklemmten Akten-Streifen abzuleiten gedachte. Jedenfalls m u ß t e ihm der Vorfall im Dolleringer’schen Haus, der so viel von seiner Zeit in Anspruch genommen, entschuldigen. Frau Aktuar Ledermann aber hatte sich schon den ganzen Nachmittag über, mit immer wachsender Ungeduld, vorgenommen gehabt, mit ihrem Gatten geben Abend einen der vor der Stadt gelegenen Gärten, wo Konzert sein sollte, zu besuchen, und die Partie war ihr jetzt – was halfen alle Gründe dagegen – zu Wasser geworden. Es verstand sich von selbst, daß Aktuar Ledermann die Schuld, und deshalb auch die Folgen trug.
Frau Aktuar Ledermann hatte sich übrigens vor einigen Tagen, wo sie trotz des nassen Wetters und allen Vorstellungen ihres Mannes spazieren gegangen war, furchtbar erkältet und brachte keinen lauten Ton über die Lippen. Das aber, und daß sie ihren gerechtfertigten Ingrimm nicht mit der vollen Kraft ihrer Stimme hinaus g i e ß e n konnte über den Gatten, wie sie es – und er auch – gewohnt war, sondern alles das, was sie ihm zu sagen hatte – und sie hatte ihm viel zu sagen – hinaus f l ü s t e r n mußte, reizte ihren Zorn nur noch immer mehr.
«Aber, liebes Kind, ich versichere Dir», sagte der Aktuar in einem vergeblichen Versuch den ansteigenden Sturm zu beschwichtigen, «daß ich mich über anderthalb Stunden bei dem verwünschten Diebstahl im Dollinger’schen Hause aufgehalten habe und…. »
«Und i c h versichere Dir», zischte sie, mit einem Gesicht, dem die Anstrengung, die es sie kostete, die Worte hörbar zu machen, einen noch viel unfreundlicheren, ja sogar boshaften Ausdruck gab, «daß ich Dich vor anderthalb Stunden schon geradeso erwartet habe wie jetzt, und seit d r e i Stunden vollkommen angezogen dasitze und auf Dich passe.»
«Aber Du b i s t ja gar nicht angezogen, beste Therese.»
«Weil ich mich wieder a u s gezogen habe », rief die Frau, «glaubst Du, ich soll mir ein Beispiel an einem liederlichen Menschen nehmen, und bei Nacht und Nebel noch draußen herumstreichen, wie Leute, die das Licht zu scheuen haben ? – Und dann mit meinem Katarrh – daß ich mir den Tag über im warmen Sonnenschein ein wenig Bewegung machte, das fällt Dir nicht ein; aber nachts, wenn der schädliche Tau niederfällt, der für mich gerade Gift wäre, da möchtest Du mich wohl noch hinausschleppen, nicht wahr? Damit ich nur recht schnell unter die Erde käme – oh ich armes, unglückseliges Weib!»
«Aber Therese, Du bist unbillig, ich habe Dir doch angeboten heute Nachmittag mit mir nach dem Roten Drachen hinauszugehen.»
«Weil Du wußtest, daß das nichtsnutzige Geschöpf von einer Wäscherin mir mein Kleid nicht vor vier Uhr bringen würde», zischte die Frau.
«Aber Du hast ja noch andere.»
«Am Sonntag zum Skandal der anderen Menschen mit einer solchen F a h n e zu einem anständigen Vergnügungsort hinausziehen, nicht wahr ? - D i r läge natürlich nichts daran, was die Leute über Deine Frau sagten ; aber Du bist auch an anderen Orten lieber wie zu Hause, und statt Deiner Frau einmal ein paar Stunden Gesellschaft zu leisten und nachher mit ihr zusammen auszugehen, mußt Du natürlich grad ins Wirtshaus laufen und ein bißchen vor Mitternacht dann wieder nach Hause kommen.»
«Liebes Kind, es ist jetzt halb neun Uhr», sagte der Aktuar ruhig, «dann aber, Therese», fuhr er nach kleinem Zögern mit einer fast gewaltsamen Anstrengung fort, «bist Du teilweise selbst mit schuld daran, d a ß ich mir eben außer dem Hause mein Vergnügen suchen m u ß.»
«I c h ?» wollte die Frau erstaunt rufen, der etwas zu hoch eingesetzte Ton blieb aber total aus, und Ledermann sah nur, mit der entsprechenden Gestikulation, das zum Höchsten erstaunte Gesicht der Gattin. Dadurch aber vielleicht, und durch die ungewöhnliche, freilich erzwungene Stille, etwas mutiger gemacht, fuhr er entschlossen fort:
«Ja, liebes Kind, Du, denn anstatt Deinem Mann, wenn er von seinen Berufs-geschäften ermüdet nach Hause kommt, den Aufenthalt daheim zu einem freundlichen zu machen, in dem er gerne bleibt, läßt Dich Dein unglückseliges heftiges Temperament nicht ruhen noch rasten, sondern Du m u ß t irgendeine Gelegenheit vom Zaune brechen, mit mir zu zanken. Gebricht es Dir aber vollkommen an Stoff, was jedoch nur in höchst seltenen Fällen zu sein scheint, so bist Du mürrisch und verschlossen, machst ihm ein finsteres, verdrießliches Gesicht und sprichst kein Wort.»
Sprachlos nur vor Zorn und Staunen über die unerhörte bodenlose Frechheit, hatte die Frau indessen dem heute so redseligen Gatten (der aber nicht dabei zu ihr aufzuschauen wagte, sondern bald die rechte, bald die linke Ecke der Stube mit den Augen suchte) angesehen. Es war eine allerdings noch jugendliche schlanke, aber eher magere als volle Gestalt, die Frau Aktuar Ledermann, mit etwas vorstehenden, wenigstens stark markierten Backeknochen und durchdringend scharfen, wenn auch kleinen, lichtgrauen Augen, die Lippen schmal und um den Mund in vielen kleinen Fältchen zusammengezogen, das Kinn jedoch etwas zurückstehend, was ihr ein besonderes und n i c h t eben angenehmes Profil gab. Auch in ihrem Anzug ließ sie sich zu viel gehen; der Zauber reinlicher Kleidung fehlte ihr, der selbst der ärmlichsten Tracht etwas Nettes, Freundliches gibt; die Krause, die das oben am Hals dicht anschließende Kleid einfaßte, war schon mehrere Tage getragen und verdrückt, ebenso zeigten die Manschetten Spuren längeren Dienstes, und die Haube saß ihr verschoben und zu viel zurückgedrängt auf dem nicht überreich mit Haaren bedeckten Scheitel. Frau Aktuar Ledermann war nicht hübsch, und der Affekt, der ihre Züge in diesem Augenblick mehr entstellte als belebte, nahm ihnen leider auch die letzte Spur sanfter Weiblichkeit, die sonst doch wohl noch hier und da darin verborgen lag. Der bis jetzt mehr durch Erstaunen als Mäßigung nieder-gekämpfte Zorn gewann aber auch endlich die Oberhand, und während die Anstrengung, sich bei ihrer Heiserkeit gehört zu machen, ihr Antlitz fast dunkel färbte, keuchte sie, die Arme in die Seite gestemmt, den Oberkörper gegen den überrascht einen Schritt zurückweichenden Gatten vorgebeugt:
«Spreche kein Wort, h e ? Sagt der Herr? – Prahl da ,wenn er von B e r u f s-geschäften nach Hause kommt’ – spreche kein Wort? – Sitzt in der Kneipe den ganzen gesegneten Nachmittag – im Roten Drachen, und das nennt er Berufsgeschäfte; vertrinkt das Geld, das wir hier zum notwendigsten Leben brauchten, und wirft mir jetzt meine Heiserkeit vor, die mir der Himmel geschickt hat, oder mein böses Glück, dem ich auch einen solchen Mann verdanke – daß ich kein Wort spreche und verdrießlich bin. Ich soll wohl t a n z e n, he? – Wenn mir das Herz zum Zerspringen voll ist vor Jammer und Elend daheim, und wenn ich den ganzen Tag dasitze und brüte und denke, wie wir auskommen wollen mit den paar Groschen, die zum Sterben und Verhungern zu viel, zum Leben aber zu wenig sind. Dann soll ich nachher, wenn der gestrenge Herr sein Gesicht zeigt, lachen und vergnügt und lustig sein, nur damit der Haustyrann sich nicht unbehaglich fühlt in s e i n e n vier Wänden.»
Heftiger Husten unterbrach hier die Zornesrede der Frau, der die übermäßig angestrengte Luftröhre den Dienst versagte, und der Aktuar Ledermann nahm still und schweigend, den Moment benutzend, ein Licht von dem kleinen Seitenschrank, zündete es an der Lampe an und verließ kopfschüttelnd und seufzend das Gemach, sich auf sein eigenes kleines Stübchen zurückzuziehen.