Читать книгу Nach Amerika! Bd. 1 - Gerstäcker Friedrich, Jurgen Schulze - Страница 5

Fünftes Kapitel Die Auswanderungs-Agentur.

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Am Marktplatz zu Heilingen, und an der Ecke eines kleinen, auf diesen auslaufenden Gäßchens, stand ein ziemlich großes, grün gemaltes und gewiß sehr altes Erkerhaus, dessen Giebel und Stützbalken geschnitzt, und mit wunderlichen Köpfen und Gesichtern verziert und braun angestrichen waren. So weit neigten sie sich dabei nach vorn über, daß es ordentlich aussah, als ob der ganze Bau mit dem spitzen, wettergrauen Dach nächstens einmal gerade mitten zwischen die Töpfer und Fleischer hineinspringen würde, die an Markttagen dort unten ihre Ware feilhielten.

Nichtsdestoweniger wurde es noch immer, bis fast unter das Dach hinauf, bewohnt und der untere Teil desselben ganz besonders zu kleinen Warenständen und Läden benutzt. Die Ecke derselben nun hatte seit langen Jahren ein Kaufmann oder Krämer in Besitz, der sich zu seinen Materialwaren, Kaffee, Zucker, Tabak, Lichten, Grütze usw. Auch noch in der letzten Zeit die Agentur mehrerer Bremer und Hamburger Schiffsmakler zu verschaffen gewußt, und damit bald in einer Zeit, wo die Auswanderungslust so überhand nahm, solch’ brillante Geschäfte machte, daß er die Materialwarenhandlung seiner Frau wie seinem ältesten Sohn übertrug, und für sich selber nur ein kleines Stübchen, ebenfalls nach dem Markt hinaus, behielt, über dessen Tür jetzt ein riesiges, sehr buntgemaltes Schild prangte. Das Schild verdient übrigens mit einigen Worten beschrieben zu werden, da die Heilinger in den ersten Tagen – als es eben erst aufgehangen worden – in wirklichen Scharen davor stehenblieben und es anstaunten.

Es war ein breites, länglich viereckiges Gemälde, ein großes, dreimastiges Schiff vorstellend, wie es sich unter vollen Segeln der fremden, ersehnten Küste näherte. Die See selber war hellgrün gemalt, mit einer Unmasse von sichtbar darin herumschwimmenden Fischen, die den Beschauer wirklich etwas besorgt um die Sicherheit des Fahrzeuges selber machen konnten. Dessen wackerer Kiel schäumte aber mitten hindurch, und der, dem Anschein nach vollkommen runde, nur nach hinten zu etwas länglich auslaufende Rumpf, preßte eine große grün und weiß gestreifte Welle vorne auf, die sich wie eine breite Falte quer vor seinen Bug legte. Die Segel standen dazu fast ein wenig zu sackartig und, nur an den vier Zipfeln festgehalten, stramm und steif von den Raaen ab, und die langen blutroten Wimpel, mit rot und weißer Bremer Flagge hinten an der Gaffel, strömten und flatterten lustig nach hinten aus, wahrscheinlich den raschen Durchgang des Schiffes durch das Wasser anzuzeigen, das derart, durch den Wind getrieben, selbst diesen überflügelte. Über deck war aber auch die Mannschaft, und Kopf an Kopf eine volle Reihe bunter Passagiere sichtbar, mit sehr dicken, roten Gesichtern, die Gesundheit an Bord des Schiffes bestätigend, und mit sehr hellgelben und sehr breiträndigen, rotbebänderten Strohhüten auf, während hinten auf Deck der Kapitän des Schiffes mit einem dreieckigen Hut, wie einem Fernglas in der einen und einem Dreizack in der anderen Hand stand. Was der Maler mit dem Dreizack andeuten wolle, weiß nur er und Gott; er müßte denn gemeint haben, daß der Kapitän, wie früher Neptun, das Meer beherrsche. Übrigens war es auch möglich, daß er fischen wolle, und sich mit dem Fernrohr nur eben den stärksten und fettesten der ihn reichlich umschwimmenden Fische ausgesucht habe.

Den Hintergrund dieses prachtvollen Seestücks bildete ein schmaler Streifen mit einzelnen Palmen bedeckter Küste, an der eine Anzahl pechschwarzer, nackter Männer standen, die nur einen gelb und blauen Schurz um die Hüfte und einen grünen Busch in der Hand trugen. – Diese sahen übrigens gerade so aus, als ob sie die Ankunft des Schiffes schon sehnsüchtig und vielleicht sehr lange Zeit erhofft hätten, und nun die Zeit nicht erwarten könnten, daß die Fremden an Land stiegen, damit sie geschwind für sie arbeiten und ihnen den Boden urbar machen dürften.

Neben dem Bild und zu beiden Seiten der Tür, wie sogar noch an dem inneren Teil des Fensterschalters, hingen lange Listen der verschiedenen anzupreisenden Plätze für Auswanderung. Obenan New York, Philadelphia und Boston, dann Quebec, New Orleans und Galveston; in Brasilien Rio de Janeiro und Rio Grande; dann Chile, Valdivia, Valparaiso und Buenos Ayres; in Australien Adelaide mit einer Menge neu entdeckter verschiedener Kolonien und Ansiedlungen, wohin überall die besten kupferfesten Schiffe in unglaublich kurzer Zeit und mit allem versehen, ausliefen, was dem glücklichen Passagier das Leben an Bord eines solchen Schiffes nur in der Tat zu einer Vergnügungs-fahrt machen müsse und würde.22

Weigel, wie der Eigentümer dieser ,ausländischen Versorgungsanstalt’ (ein Spottname, den die Heilinger der Weigelschen Agentur gaben) hieß, war ein dicker, vollgenährt und blühend aussehender Mann, ungefähr sechs- bis achtunddreißig Jahre alt, mit ein wenig fest umgeschnürter Kravatte, was seinen Augen etwas Stieres gab, und sonst einem leisen Anflug von Grau in den sonst braunen, widerspenstigen Haaren. Die Augen waren groß, blau und ziemlich ausdruckslos; ein fast mitleidiges Lächeln aber, das oft, und besonders dann, wenn er irgendjemandes Meinung bestritt, um seine Mundwinkel spielte, gab dem Ausdruck seiner Züge jene scheinbare Überlegenheit, die sich zuversichtliche Menschen, wenn man es ihnen gestattet, oft über andere anzumaßen wissen. Ganz vorzüglich wußte er diese Miene anzunehmen, wenn er über Amerika oder irgendeinen überseeischen Fleck Landes sprach, über dem für ihn ein gewisser heiliger und unantastbarer Zauber schwamm, und jemand dann irgendeinen Zweifel gegen das Gesagte zu hegen wagte. Er schwärmte besonders für Amerika, und es gab deshalb auch seiner Aussage nach keinen größeren Lügner in der Stadt als den Redakteur des Tageblatts, den Advokaten und Doktor Heyde in Heilingen. Dieser und er waren denn auch, wie sich das leicht denken läßt, grimme und erbitterte Feinde und Gegner, wo sich nur irgendeine Gelegenheit dazu fand.

Weigel bekam, wie das gewöhnlich bei den Agenturen der Schiffsbeförderung üblich und der Fall ist, für jede Person, die er einem Bremer oder Hamburger Reeder sicher an Bord lieferte, einen Taler, kurzweg genannt ,für den Kopf’, und er teilte deshalb die Leute – seine Mitbürger sowohl wie sämtliche übrige Bewohner Deutschlands – in solche ein, ,die Energie hatten’, d.h. zu ihm kamen und sich bei ihm einen ,Platz nach Amerika’ besorgen ließen, wo sie nachher drüben selber sehen konnten, wie sie fertig wurden, und in solche, die ,im alten Schlendrian hinkrochen und hier lieber verfaulten, ehe sie einen männlichen, entscheidenden Schritt taten, ihrer Existenz auf die Beine zu helfen.’ Jeder, der hier blieb, betrog ihn aber wissentlich und mit kaltem Blut um seinen, ihm in ehrlichem Verdienst zustehenden Taler, und es verstand sich von selbst, daß er vor einem solchen Menschen keine Achtung haben konnte.

Er selber kannte die Verhältnisse Amerikas nur aus Büchern, die das Land lobten, denn andere las er gar nicht und bekam er sie einmal zufällig in die Hand, so warf er sie auch gewiß mit einem Kernfluch über den ,nichtswürdigen Literaten, der wieder einmal einen ganzen Band voll Lügen zusammengeschmiert’, in die Ecke. Sein größter Ärger war aber jedenfalls – und so regelmäßig, wie die Uhr morgens acht schlug – das Tageblatt, das er der häufigen Annoncen wegen halten m u ß t e, und das ebenso regelmäßig kleine gehässige und schmutzige Artikel gegen Amerika, wie überhaupt gegen alles brachte, was sich frei und selbstständig bewegte.

Zehnmal hatte er sich schon vorgenommen, den ,kleinen erbärmlichen Doktor’ zu prügeln, und sehr vielen Leuten würde er dadurch ein großes Vergnügen bereitet haben; aber er unterließ es doch jedesmal auch wieder, wenn sich ihm gleich oft genug Gelegenheit dazu bot; beide mußten jedenfalls schon einmal früher etwas miteinander gehabt haben, vielleicht mehr voneinander wissen, als beiden zuträglich war, und ein solcher Bruch wäre da nicht rätlich gewesen.

Sonst lebte Weigel still und anscheinend als ein vollkommen guter und achtbarer Bürger vor sich hin, aber im Stillen wirkte und wühlte er seinem Ziel entgegen, und richtete in der Tat viel Unheil an. Seine Beschreibungen Amerikas, die er sich selber in kleinen Broschüren aus anderen Büchern zusammentrug und um ein Billiges verkaufte, waren ein langsames Gift, das er in manche friedliche und glückliche Familie warf, ein Saatkorn, das dort wucherte und Wurzel schlug, und während es die Leser anreizte nur gleich ohne weiteres ihr Bündel zu schnüren und jenen herrlichen Länderstrichen zuzueilen, wo von da an ihr Leben nur einem murmelnden Bache gleichen würde, der zwischen Bäumen dahinfließt, füllte er ihre Köpfe mit falschen Ideen und Begriffen von dem Land, das ihre neue Heimat werden sollte, und machte viele, viele Menschen unglücklich. Die neue Heimat würde ihnen mit mäßigen Ansprüchen wirklich manches geboten haben, was ihre Lage, im Vergleich mit dem alten Vaterland, gebessert haben könnte. Fanden sie sich aber, mit all’ den wilden, extravaganten Ideen, die sie durch solche Lektüre eingesogen, enttäuscht, fanden sie die Hoffnungen nicht realisiert, die man ihnen gemacht, so hielten sie sich für schlecht behandelt und unglücklich, und verfielen nun oft in das Extrem trostloser und ebenso unbegründeter Verzweiflung. Natürlich verwünschten sie darin vor allen Dingen den Mann, der sie hierher verlockt, und sie verleitet hatte, Heimat und eigenen Herd zu verlassen, einem Phantom zu folgen. Weigel aber hatte seinen Taler für den richtig abgelieferten ,Kopf’ bekommen, und dachte schon gar nicht mehr an die früher Beförderten, die seiner Meinung nach jetzt schon in einem Meer von Behagen schwammen und ,unter Palmen wandelten’.

Herr Weigel war allein in seinem kleinen Büro, einem niedrigen, etwas dumpfen und nicht überhellen Stübchen, dessen eines breites Fenster mit durch Zeit und Rauch arg mitgenommenen Gardinen verziert war, während die Wände durch Karten und statistische Tabellen-Anzeigen von Schiffen und Gasthäusern, Plänen von den angelegten Städten oder zu verkaufenden Farmen, fast völlig bedeckt wurden. Er saß an einem hohen, ziemlich breiten Pult, das einen mächtigen Kamm von Gefachen und Schiebladen trug, und las, mit einer Tasse Kaffee neben sich, eben seinen täglichen Ärger, das Tageblatt, als es an die Tür klopfte und auf ein lautes «Herein» ein junger, sehr anständig, aber trotzdem etwas ärmlich gekleideter Mann das Zimmer betrat.

«Herr Weigel?» sagte der Fremde mit einer leichten Verbeugung.

«Bitte – ja wohl», sagte Herr Weigel, seine Brille rasch in die Höhe schiebend und auf seinem Drehstuhl herumfahrend, seinen Besuch besser ins Auge zu fassen. «Womit kann ich Ihnen dienen?»

«Sie befördern Passagiere nach Amerika?»

«Nach Amerika? – Denke so, hehehe», lachte Herr Weigel, sich vergnügt die Hände reibend. «Habe schon ganze Kolonien hinübergeschafft, Männer und Frauen, Weiber und Kinder; sitzen jetzt drüben in der Wolle und schreiben einen Brief über den anderen an mich, wie es ihnen gut geht. Da nur den e i n e n hier, den ich vor ein paar Tagen bekommen habe – der Mann ist bloß mit zweitausend Dollar hinübergegangen und hat schon eine eigene Farm, achtzig Acker Land, vierundzwanzig Stück Rindvieh, einige sechzig Schweine, fünf Pferde, und will jetzt eine Schäferei anlegen – schreibt an mich, ich soll ihm einen Schäfer hinüberschicken, aber einen, der die Sache aus dem Grund versteht, kommt ihm auf ein paar Dollar Lohn nicht dabei an – bitte, lesen Sie einmal den Brief.»

«Sie sind sehr freundlich, Herr Weigel», sagte der junge Fremde mit einem verlegenen, wie schmerzhaften Zug um den Mund, «aber der Brief würde gerade nicht maßgebend für mich sein, da ich mich gegenwärtig nicht in den Verhältnissen befinde, gleich einen Platz zu k a u f e n. Sind die Passagepreise jetzt teuer?»

«Teuer? Spottbillig», lachte Herr Weigel, den Brief offen wieder zurück auf sein Pult und seine Brille darauflegend, ihn zu weiterem Gebrauch bereit zu haben, «spottbillig, sag’ ich Ihnen, man könnte wahrhaftig auf dem festen Land nicht einmal dafür leben, s o nicht; und, unter uns – ich weiß wahrhaftig nicht,, wie die Leute dabei auskommen. Es muß aber die rasende M e n g e von Passagieren machen, die sie jetzt wöchentlich, ja fast täglich hinüberspedieren. Es ist fabelhaft, was jetzt für Menschen auswandern; auf einmal werden sie alle gescheit und merken endlich, was sie hier haben und was sie dort erwartet – ist doch ein famoses Land, das Amerika!»

«Und wieviel beträgt die Passage nach dem n ä c h s t e n Hafen der Vereinigten Staaten, wenn ich fragen darf, für – für eine erwachsene Person und ein Kind?»

«N ä c h s t e n Hafen? – Hehehe, fürchten sich wohl vor der Seekrankheit ? Lieber Gott, daran gewöhnt man sich bald; ist auch gar nicht so arg, wie’s eigentlich gemacht wird. Der Mensch, der Doktor Hayde hier im Tageblatt, hat neulich einen Artikel über die Seekrankheit gebracht, den er wahrscheinlich auch selber geschrieben und wonach einem gleich ach und weh zumute werden müßte; der ist aber nur dazu bezweckt, den Leuten das Auswandern zu verleiden. Sie möchten sie gern hier behalten, damit sie sie nur recht ordentlich plagen und schinden können, weiter nichts; davor braucht sich kein Mensch zu fürchten.»

«Sie wollten mir aber den P r e i s der Passage nennen?»

«Den Preis? – Ja so – warten Sie einmal», sein Blick fiel auf die Glacéhandschuhe und die schneeweiße Wäsche des Fremden, dessen etwas abgetragene Kleider er in dem halbdunklen Raum nicht so leicht erkennen konnte, oder auch übersah. «Der Preis – Dampfschiff oder Segelschiff?»

«Segelschiff.»

«Segelschiff – wird – sein Preis in erster Kajüte vierundachtzig Taler Gold.»

«Und die – die billigeren Plätze?»

«Billigeren Plätze – zweiter Kajüte oder Steerage fünfundsechzig Taler Gold…. »

«Und Zwischendeck?» sagte der Fremde leise und verlegen.

«Zwischendeck würde ich Ihnen nicht raten», meinte Herr Weigel, seine Brille jetzt abwischend und wieder aufsetzend. «Besonders wenn man eine Frau und ein Kind bei sich hat und es nur irgend ermachen kann, sollte man nie Zwischendeck gehen, man ruiniert sich’s und den Seinigen an der Gesundheit herunter, was die paar Taler mehr kosten.»

«Aber Sie können mir wohl den Preis des Zwischendecks sagen?»

«Jawohl, mit dem größten Vergnügen – Zwischendeck nach New York kostet – warten Sie einmal, ich habe ja hier die letzten Briefe von meinen Häusern. Zwischendeck nach New York kostet vierundvierzig Taler Gold.»

«Vierundvierzig Taler?»

«Ja, es ist ein paar Tagen erst wieder um vier Taler aufgeschlagen, weil die Leute eben nicht Schiffe genug anschaffen können. Ist fabelhaft, was besonders dieses Jahr für Leute übersiedeln. Soll ich Sie vielleicht einschreiben? Es trifft sich jetzt gerade glücklich, denn am 15. geht ein ganz vortreffliches Schiff ab, die D i a n a, Dreimaster, gut gekupfert, mit allen nur möglichen Bequemlichkeiten versehen, und einem Kapitän, ich sage Ihnen, ein wahrer Schentelmann, wie er sich gerade nicht immer auf den Schiffen findet.»

«Ich danke Ihnen für jetzt noch bestens, lieber Herr Weigel», sagte der junge Mann. «Ich muß doch nun erst mit meiner Frau Rücksprache über dies nehmen, denn erst seit gestern ist mir die Idee überhaupt gekommen, auszuwandern. Aber – noch eine Bitte hätte ich an Sie», und er drehte dabei den Hut, den er in der Hand hielt, fast wie verlegen zwischen den Fingern.

«Ja», womit könnte ich Ihnen dienen? » frug Herr Weigel.

«Könnten sie mir wohl sagen, ob die Kapitäne der Segelschiffe – ich habe einmal irgendwo gelesen, daß das manchmal geschehe – auch Leute – Passagiere mitnähmen, die unterwegs ihre Passage – abarbeiten dürften und also – auch keine Überfahrt zu bezahlen brauchten?»

«Keine Passage zahlen?» sagte Herr Weigel, die Lippen vordrückend und die Augenbrauen in die Höhe ziehend, während er langsam und halb lächelnd mit dem Kopf schüttelte. «Keine Passage bezahlen? – Ne, lieber Herr – ja so, wie heißen Sie denn gleich?»

«Eltrich», sagte der junge Mann etwas zögernd.

«So? – Ne, mein lieber Herr Eltrich, davon steht nichts in unseren Verzeichnissen und Kontrakten; im Gegenteil, da kommen wir zusammen; d a s ist der Hauptpunkt, der Nervum Rehrum, der die ganze Geschichte zusammenhält, Amerika und Europa und die umliegenden Dorfschaften, hehehe!»

«Aber wenn nun irgendein armer Teufel», fuhr der Fremde etwas lauter, fast wie ängstlich, fort, «irgendein armer Teufel sein ganzes Hoffen eben auf eine Reise nach Amerika gesetzt hätte, und bestimmt wüßte, daß er dort, wenn auch nicht gerade sein G l ü c k machen, doch sein Auskommen finden würde?»

«Nun, dann soll er gehen – um Gottes Willen gehen, und am 15. dieses wird wieder das neue, kupferfeste – ja so, aber er muß bezahlen», unterbrach er sich rasch, als ihm einfiel, von was sie erst vor wenigen Sekunden gesprochen, «er muß bezahlen, sonst nimmt ihn kein Kapitän der Welt mit über See.»

«Und Sie glauben nicht, daß da jemals eine Ausnahme stattfinden dürfte?» sagte Herr Eltrich. «Es werden doch Leute auf See gebraucht zu den notwendigsten sowohl wie den geringeren Arbeiten, und die Kapitäne müssen gewiß dafür b e z a h l e n. Wenn sich also nun jemand erböte, alle diese Verrichtungen ganz u m s o n s t, nur um Passage und die einfachste Matrosenkost zu machen, sollte das nicht möglich sein zu erlangen?»

«Lieber Herr», sagte Herr Weigel, dem es jetzt so vorkommen mochte, als ob er mit dem Fremden kein besonders großes Geschäft machen würde, und der anfing, ungeduldig zu werden, «zu den Arbeiten an Bord eines Schiffes werden M a t r o s e n gebraucht, und wer kein Matrose ist, kann die auch nicht verrichten. Das ist keine kleine Kunst, lieber Herr Schelbig, in den Tauen den ganzen Tag herumzuklettern und zwischen den Segeln, wenn das Schiff bald so herüberschlenkert und bald so», und er begleitete dabei seine Erklärung mit einer entsprechenden Bewegung er vor sich gerade aufgehaltenen Hand, «da müssen die Leute feststehen können wie die Mauern, sonst kann man sie nicht gebrauchen.»

«Aber glauben Sie nicht, wenn man einmal an einen Kapitän schriebe, ob er sich doch nicht am Ende bewegen ließ, oder», setzte er rasch hinzu, wie von einem plötzlichen Gedanken ergriffen, «wenn man sich nun verbindlich machte, die Passage nach einer bestimmten Zeit in Amerika nachzuzahlen – sie dort abzuverdienen?»

«Ja, da könnte jeder kommen», sagte Herr Weigel kopfschüttelnd. «Wenn die Leute erst einmal drüben sind, tun sie, was sie wollen. Das ist ein freies Land da drüben, Herr Wellrich, und da könnte man nachher jedem einzelnen nachlaufen und sehen, daß man sein Geld wiederkriegte. Ne, damit ist’s faul, und ich nun einmal vor allen Dingen möchte mich nicht auf solch’ eine Quengelei einlassen. Daran hat man keine Freude, und das ist auch kein rundes Geschäft.»

«Es ist nur ein armer Verwandter, der sich auf solche Weise gern forthelfen würde», sagte Herr Eltrich errötend, «er ist sehr fleißig und würde arbeiten wie ein Sklave, die Zeit über.»

«Ja, das glaub’ ich», meinte Herr Weigel gleichgültig. «Versprechen tun die Art Herren gewöhnlich alles, was man von ihnen haben will.»

«Könnten Sie mir denn vielleicht die Adresse irgendeines Schiffes oder Reeders geben, der bald ein Schiff hinüberschickt?» sagte der junge Fremde, sich schon wieder zum Gehen rüstend. «Wenn ich vielleicht selber einmal dorthin schriebe, um Sie nicht weiter mit der Sache zu belästigen.»

«Ja, schreiben können Sie», sagte Herr Weigel. «Hehehe! Aber Sie werden keine Antwort bekommen; darauf können Sie sich verlassen. Die Leute haben mehr zu tun, als sich eines Passagieres wegen, für den sie noch umsonst die Kost hergeben müßten, in eine Korrespondenz einzulassen. Kann ich ihnen auch gar nicht so sehr verdenken.»

«Und die Adresse?»

«Die Adresse? – Da, hier liegt die neueste Auswanderer-Zeitung; wenn Sie wollen, können Sie sich da ein oder zwei Adressen herausschreiben. Da hinten, auf der letzten Seite stehen sie.»

Herr Weigel sah nach der Uhr, drehte sich wieder auf seinem Drehstuhl, der beim Aufschrauben etwas quietschte, herum, schob das Tageblatt zur Seite und rückte sich einen Bogen Papier zurecht, als ob er irgendeinen notwendigen Brief zu schreiben hätte.

Wieder klopfte es da an die Tür, und diesmal, ohne ein ermunterndes ,Herein’ zu erwarten, öffnete sie sich und drei Bauern, die Hüte erst unter der Tür und schon im Zimmer abziehend, traten herein und grüßten die beiden Leute, die sie hier beisammen fanden, mit einem herzlichen ,Guten Morgen miteinander’. – Die Leute sahen aber selbstständig und entschlossen aus; die großen silbernen Knöpfe auf den Westen und etwas weiten Röcken gaben ihnen etwas Solides, und d a s waren die Leute, die Herr Weigel gern kommen sah. D i e wußten, weshalb sie die eine Hand immer in der Tasche trugen, denn sie hatten dort etwas zu verlieren, und waren nicht selten dabei die Vorboten eines größeren Trupps, oft einer ganzen ,Schiffsladung voll’, die aus ein und derselben Gegend auswandern wollte, und ein paar der Angesehensten indes vorausgeschickt hatte, Platz für sie zu bestellen. Wie der Blitz war er denn auch von seinem Stuhl herunter, schüttelte ihnen nacheinander die Hand und frug sie, wie es ihnen ginge und was sie hier zu ihm geführt.

«Seid Ihr der Mensch, der die Leute nach Amerika schickt?» sagte der eine von ihnen, eine breitkräftige, sonngebräunte Gestalt mit vollkommen lichtblonden Haaren und Augenbrauen, aber dabei gutmütigen, vollen und frischen Zügen, dem das Ganze übrigens etwas fremd und unheimlich vorkommen mochte, denn er warf den Blick, während er sprach, wie scheu von einer der Schiffszeichnungen zur andern, und schien sich ordentlich dazu zwingen zu müssen, das zu sagen, was er eben hier zu sagen hatte.

«Nun, nach Amerika s c h i c k e n tu ich sie gerade nicht», lächelte Herr Weigel, die anderen dabei ansehend und etwas verlegen über die vielleicht ein wenig plumpe Anrede.

«Nicht?» sagte der Bauer rasch und erstaunt. «Aber hier hängen doch all’ die vielen Schiffe!»

«Nun ja, ich besorge den Leuten Schiffsgelegenheit, die hinüber w o l l e n », sagte Herr Weigel, jetzt geradezu herauslachend, weil er glaubte, daß sich der Mann mit ihm einen Scherz gemacht, auf den er natürlich einzugehen wünschte.

«Ja, aber wir w o l l e n eigentlich noch nicht hinüber», sagte der zweite von den Bauern, seinen Hut auf seinen langen Stock stellend und sich dabei verlegen hinter den Ohren kratzend. «Wir wollen uns nur erst einmal hier erkundigen, ob denn das auch wirklich da drüben so ist, wie es jetzt immer in den Auswanderungs-Zeitungen steht, und ob man bloß hinüberzugehen und zuzulangen braucht, wenn man eine gut eingerichtete Farm mit ein paar hundert Morgen Land haben will.»

«Ja, wenn man Geld hat», lachte Herr Weigel.

«Ih nu – Geld hätten wir», sagte der Bauer und sah seinen Nachbarn an.

«Ich bin Ihnen sehr dankbar», unterbrach den Sprecher hier der junge Mann, der indessen die Zeitung nachgesehen und sich Einzelnes daraus notiert hatte.

«Bitte», sagte Herr Weigel und nahm ihm das Blatt, ohne sich weiter um ihn zu bekümmern, aus der Hand und wandte sich wieder zu den Bauern, als der junge Fremde sich mit einem artigen «Guten Morgen, meine Herren!» empfahl.

«Adje, Herr – Herr Schnellig», rief der Agent ziemlich laut hinter ihm her, ohne sich weiter nach ihm umzudrehen, während die Bauern freundlich den Gruß in ihrer Art erwiderten.

«Wer war der junge Herr?» frug der erste Sprecher aber, als er die Tür rasch hinter sich ins Schloß gedrückt.

«Ach, ein armer Teufel, der gern mit umsonst nach Amerika hinüber möchte!» sagte Herr Weigel. «Er tat zwar, als wär es nur für einen armen Verwandten, aber, hehehe, derlei Ausreden kennen wir schon – kommen alle Wochen vor.»

«Umsonst mit nach Amerika?» sage der erste Sprecher verwundert. «D e r sieht doch nicht aus, als ob er etwas umsonst haben wollte, der ging ja s o fein gekleidet, Donnerwetter – mit Handschuhen und allem… »

«Ja, auswendig sind die Leute in der Stadt meist alle schwarz und sauber angestrichen», lachte Herr Weigel, «aber inwendig, in den Taschen, da harperts nachher. Wer aber ein bißchen Übung darin hat, kann auch schon obenauf erkennen, ob der Lack echt oder bloß nachgemacht ist, hehehe!»

«Bei dem war er wohl nachgemacht?» sagte der zweite Bauer, dem Anschein nach gerade nicht unzufrieden damit, daß der ,glatte Stadtmensch’ nicht so viel galt wie sie, und daß der Auswanderungsmann das sogleich durchschaut hatte. Herr Weigel nickte, seine Zeit war ihm aber kostbarer, als sie noch länger an jemanden zu verschwenden, bei dem er doch voraussah, daß er von ihm keinen Nutzen haben würde, und er suchte das Gespräch wieder dem mehr praktischen Anliegen der drei Bauern zuzulenken.

«Also Sie wollten mitsammen nach Amerika gehen und sich eine ordentliche Farm gleich mit Land, Vieh, Häusern und was dazu gehört ankaufen, he ? – Wär keine so schlechte Idee!»

«Ja, erst möchten wir aber einmal wissen, wie die Sache steht», sagte der erste wieder, der Menzel hieß. «Wenn man über einen Zaun springen will, ist es viel vernünftiger, daß man erst einmal hinüberguckt, was drüben ist, und wenn man das nicht kann, daß man jemanden fragt, der es genau weiß. Sind denn die Farmen da drüben wirklich so billig ? – Ist das wahr, daß man dort noch gutes, frisches Land für ein und einen Vierteltaler kaufen kann?»

«Taler? – Nein», sagte Herr Weigel. « D o l l a r. »

«Ja nun, das ist aber auch nicht viel mehr», meinte der zweite, Müller.

«Nun, ein Dollar ist ungefähr ein Speziestaler», sagte Herr Weigel. «Lassen Sie mich einmal sehen – die stehen jetzt – stehen jetzt 1 Thlr. 12 ½ Silber- oder Neugroschen.»

«Nu ja», sagte Menzel wieder, «das ist aber immer kein Geld – und für tausend Dollars kauft man da eine fix und fertig eingerichtete F a r m, wie sie’s, glaub’ ich, nennen, mit allem, was dazu gehört?»

«Ich habe hier gerade», sagte Herr Wenzel, in seinen Papieren suchend, «ein paar Anerbietungen von höchst achtbaren Leuten – wirklichen Amerikanern – die mir Farmen zu höchst mäßigen Bedingungen offerieren. Die Leute wissen da drüben, daß hier viele zu mir kommen und sich nach solchen Plätzen erkundigen, und wenn sie dann ‘was Gutes haben, schicken sie’s mir. Wo hab’ ich denn die verwünschten Pläne jetzt hingelegt – ah, hier ist der eine – sehen Sie, Gebäude und alles sind darauf angegeben – und der andere kann nun auch nicht weit sein; ich habe sie erst vorgestern meinem Bruder gezeigt, der gar nicht übel Lust hatte, eine davon für sich zu kaufen – da ist er.»

Die drei Bauern drängten sich um den kleinen Tisch herum, auf dem Herr Weigel die Pläne jetzt ausbreitete, und suchten sich in den kreuz und quer laufenden Strichen zu orientieren, wie der Platz eigentlich liege und was darauf stände.

«Ja, aber w o ist denn das nun eigentlich und wie sieht’s dort aus?» sagte Menzel endlich nach einigen vergeblichen Versuchen deshalb. «Aus der Geschichte wird man nicht klug.»

«Ja, sehen Sie», sagte Weigel, mit seinem Finger den Plan erklärend und den angegebenen Zahlen folgend, «das hier, Nr. 1, ist das Wohnhaus, ein Doppelgebäude, der Zeichnung nach mit einer offenen Veranda dazwischen, des warmen Klimas wegen, denn drum herum stehen ,Baumwollenbäume’ angegeben, Nr. 2 da ist ein anderes Gebäude, bis jetzt zu Negerwohnungen benutzt; denn der bisherige Besitzer scheint Sklaven gehalten zu haben; Nr. 3 ist eine Scheune; Nr. 4 ist ein Rauchhaus, die Leute verschicken von dort aus viel getrocknetes Fleisch; Nr. 5 ist, wie es scheint, ein Waschhaus, und Nr. 6 ein anderes Wohnhaus, was dem ersten gegenübersteht und wahrscheinlich den ganzen Hofraum, da die Front nach dem Flusse zu liegt, abschließt.»

«Und welcher Fluß ist das?»

«Der Missouri, einer der größten Ströme Amerikas, über eine englische Meile breit und viele hundert Meilen hinauf schiffbar; alle Wetter, meine Herren, von den dortigen Strömen können wir uns hier gar keinen Begriff machen!»

«Hm – und wieviel Land gehört dazu?»

«Dazu gehört ein ,Died’ von vierzig Ackern, was früher als Kongressland gekauft und schon bezahlt ist, und natürlich mit übernommen wird; um den Platz herum kann noch so viel Kongressland dazugenommen werden, wie man haben will – nur die vierzig Acker, von denen aber ein Teil schon urbar gemacht ist, müßten natürlich höher bezahlt werden23

«Und was soll die ganze Geschichte kosten?» frug Müller. Der dritte, dessen Name Brauhede war, hatte noch kein einziges Wort zu der ganzen Verhandlung gesagt.

«Die ganze Geschichte», erwiderte Weigel, sich das Kinn streichend, «wie ich sie Ihnen hier gleich an Ort und Stelle überlassen kann, mit Häusern und Grundstück und dazu noch einem kleinen Viehbestand von vielleicht einigen achtzig Stück Rindvieh und fünfundfünfzig oder sechzig Schweinen, würde – etwa – Eintausend und einige sechzig spanische Dollars betragen.»

«Und das wäre nach unserem Geld?» sagte Menzel, Müller dabei heimlich unter dem Tisch anstoßend.

«Nach unserem Geld?» wiederholte Herr Weigel, mit einem Stück dort liegender Kreide die Summen rasch auf dem Tisch selber aufaddierend. «Würde es in einer runden Zahl etwa Tausend – vierhundert – eine Kleinigkeit über vierzehnhundert Taler Preußisch Courant betragen.»

«Wieviel Stück Rindvieh?» sagte Müller.

«Einige achtzig Stück sind angegeben», sagte Weigel, «und müssen auch überliefert werden; aber gewöhnlich sind es noch mehr, denn das Vieh läuft draußen im Freien herum und bekommt Kälber, und man weiß es oft nicht einmal – die Kälber werden überhaupt nie mitgezählt.»

«Und die Passage hinüber kostet?» frug Menzel.

«Zwischendeck oder Kajüte?»

«Zwischendeck – immer wo’s am billigsten ist», lachte Menzel und strich sich wohlgefällig über die silbernen Knöpfe.

«Ja, kann mir’s denken», rief Herr Weigel, auf den Scherz eingehend und ihn leise gegen den Arm von sich stoßend, «Sie sehen mir auch gerade aus, als ob’s Ihnen auf ein paar Taler ankäme!»

«Ja, wo man’s kann, muß man’s zusammennehmen», beteuerte auch Müller, «also wie viel kostet’s im Zwischendeck à Person?»

«Vierundvierzig Taler für die Person – Kinder zahlen die Hälfte.»

«Aber ganz kleine Kinder?» sagte Müller.

«Nun, Säuglinge gehen ein», lachte Herr Weigel, «das ist die Beilage, die doch auch nur vom Schiff aus indirekte Nahrung bekommen.»

«Leichten Zwieback?» frug Menzel.

«Ja wohl», sagte Herr Weigel, etwas verlegen lächelnd, da er nicht wußte, ob der Bauer das im Spaß oder Ernst gemeint. – «Wie viel Personen sind sie denn aber wohl etwa?»

«Nu, so einige sechzig möchten wir immer zusammen herausbekommen», meinte Müller.

«Aber alle auf ein Schiff müßtet Ihr uns bringen», sagte Menzel.

«Nun, das versteht sich von selbst», rief Herr Weigel, «und ein famoses Schiff geht gerade den 15. ab – ich glaube, das beste, das von Bremen und Hamburg überhaupt läuft – die Diana.»

«Ne, das wär’ uns noch zu früh. »

«Am 1. nächsten Monats geht ein noch besseres», sagte Herr Weigel, «wenigstens geräumiger und ein besserer Segler.»

«Ne, das wär’ uns auch noch zu früh», sagte Menzel.

«Gut, dann träfen sie es gerade ausgezeichnet mit dem Meteor», versicherte Herr Weigel, keineswegs außer Fassung gebracht, «ich wollte Ihnen den im Anfang nicht anbieten, weil ich fürchtete, daß Sie früher zu reisen wünschten; wenn Sie aber s o lange Zeit haben, dann kann ich Ihnen allerdings die vorzüglichste Reisegelegenheit bieten, die sich nur überhaupt denken läßt.»

«So – na, das paßte schon besser», sagte Müller, «wie hieß das Schiff gleich?»

«Meteor.»

«Hm – werd’ es mir merken – aber nicht wahr, beim D u t z e n d kriegen wir die Passage doch auch ‘was billiger.»

«Ne, d a s geht nicht», lachte Herr Weigel gerade heraus. «Es ist ja nicht so, daß ein Schiff nur eben so viel Menschen an Bord nehmen kann, wie darauf Platz haben, sondern es muß auch genug Raum und über und über genug Essen und Trinken für sie dabei sein, w e n n einmal die Reise in einem unglücklichen Fall länger dauerte als gewöhnlich. So ein Schiff hat deshalb auch nur eine bestimmte Zahl von Auswanderern, die es an Bord nehmen kann und nach amerikanischen Gesetzen nehmen d a r f , und auf die ist alles mit Kosten und Preis ausgerechnet, auf’s tz. Die kleinen Kinder werden eingegeben, aber die großen müssen bezahlen. Und wie war’s mit der Farm? »

«Wo ist denn der andere Platz, zu dem der lange Zettel gehört?» sagte Menzel, der sich diesen indessen genau betrachtet und nach allen Ecken herum und herumgedreht hatte, ohne, wie er meinte, einen Handgriff dran bekommen zu können.

«Der hier? Der ist in Wisconsin; auch ein guter Platz, aber kein so großer Strom dabei», sagte Herr Weigel. «Ist aber auch billiger. Dort kann ich Ihnen eine Farm, allerdings nur mit einigen vierzig Kühen, für etwa Siebenhundertundfünfzehn Dollars überlassen, und dann habe ich noch fünf andere von sechs-, acht-, elf-, neun- und, ich glaube, zwölfhundert Dollars – die letztere ist aber eine wirkliche Musterwirtschaft mit importiertem Schweizer Vieh, Backsteingebäuden und einer prachtvollen Lage, um Milch und Butter in die nicht zu entfernte Stadt zu bringen, wird Ihnen aber auch freilich wohl zu teuer sein?»

«Zu teuer? – Warum?» sagte Menzel. «Wenn man sich einmal etwas kauft, soll man sich auch gleich ‘was Ordentliches anschaffen. Ich habe mir übrigens die Sache immer viel schwieriger vorgestellt mit dem Ankaufen und gedacht, daß man erst lange in der Welt umherfahren und sein Geld verreisen müßte. Wenn man das hier gleich an Ort und Stelle abmachen kann, ist das ja weit bequemer.»

«Auf eins möchte ich Sie übrigens noch aufmerksam machen, meine Herren, was Sie ja nicht versäumen dürfen», sagte Herr Weigel, «nämlich sich hier gleich Ihre Billets zur Weiterfahrt ins Innere, wohin Sie auch immer wollen, zu lösen.»

«Von New York aus?» fragte Menzel verwundert.

«Jawohl, von New York oder Philadelphia, oder wohin Ihr Reiseziel liegt.»

«Ja, aber kann man denn die h i e r bekommen?» frug Müller.

«Gewiß kann man das», lächelte Herr Weigel, «und das ist gerade der ungeheure Vorteil unserer jetzigen Verbindung, die den Auswanderer von der Tür seiner alten Heimat fort vor die seiner neuen setzt, ohne daß er ein einziges Mal in die Tasche zu greifen und mehr zu bezahlen braucht, als was er gleich von allem Anfang entrichtet hat. Das eben macht auch das Reisen jetzt so billig, daß man mit e i n e m Blick imstande ist, sämtliche Kosten zu übersehen. Die E x t r a – Ausgaben fallen ganz weg.»24

«Das wäre freilich ein Glück», sagte Müller, von dem erst vor einigen Monaten ein Bruder ,hinüber’ gegangen war. «Die Extra-Ausgaben fressen sonst das meiste Geld.»

« O b sie’s fressen, bester Herr, o b sie’s fressen », sagte Herr Weigel, sich wieder vergnügt die Hände reibend.

«Und wo kann man die Billete also bekommen?» frug Menzel.

«Bei mir hier, versteht sich», sagte Herr Weigel. «Alle bei mir.»

«Und die gelten dann drüben?»

«Nun, versteht sich doch von selbst», lachte der freundliche Agent. «Ich würde sie Ihnen ja doch sonst nicht verkaufen. Sehen Sie, wenn die Deutschen hinüber kommen, dann sprechen sie gewöhnlich noch kein Englisch – oder haben Sie das etwa schon gelernt?»

«Ne.»

«Nun sehen Sie, und dann werden sie dort von ihren Landsleuten – denn der Amerikaner ist nicht halb so schlimm – die sich das richtig zunutze zu machen wissen, tüchtig übers Ohr gehauen und müssen gewöhnlich gerade noch einmal so viel bezahlen, als die Sachen eigentlich kosten.»

«Aber es soll doch eine ,Deutsche Gesellschaft’ drüben in New York sein25», sagte jetzt Brauhede, der zum erstenmal bei der ganzen Versammlung den Mund auftat, «die sich eben der Deutschen annimmt und nichts dafür verlangt.»

«Leben wollen wir a l l e », sagte Herr Weigel achselzuckend, «umsonst ist der Tod, und daß die Leute, wenn sie ihre Zeit darauf verwenden, für die Deutschen zu sorgen, auch etwas dafür nehmen werden, läßt sich wohl an den fünf Fingern abzählen. New York ist aber ein teures Pflaster, die Leute b r a u c h e n dort mehr, wie wir hier, und wer es daher b i l l i g e r tun kann, liegt auf der Hand. Ich will m i c h auch keineswegs empfehlen, lieber Gott, es gibt noch eine Menge Leute in Deutschland, die sich demselben schwierigen und undankbaren Geschäft unterzogen haben wie ich, und die es sich vielleicht ebenso sauer werden lassen, gerade und ehrlich durch die Welt zu kommen; aber einen, der es besser m e i n t dabei, werden Sie wohl schwerlich finden, und ich überrede gewiß niemand, nach Amerika auszuwandern. Jeder Mensch muß seinen freien Willen haben und auch am besten selber wissen, was ihm gut ist.»

«Ne gewiß», sagte Menzel, «da habt Ihr ganz Recht, das ist auch mein Grundsatz; aber das mit dem Amerika leuchtet mir auch ein, und umsonst tut da gewiß niemand etwas. Das sind verflixte Kerle da, hab’ ich mir sagen lassen, besonders die Deutschen, und wo die nicht wollen, gucken sie nicht ‘raus.»

«Also die Billete kann man hier bei Euch kriegen?»

«Wohin Sie wollen, und ich stehe Ihnen dafür, daß sie nicht allein echt sind, sondern daß die hier in Deutschland gelösten Plätze auch noch den Vorrang haben vor allen in Amerika genommenen – wenn einmal Eisenbahn26 oder Dampfboote zu sehr besetzt sein sollten. Es ist ja hier gerade so mit der Post, wo die, die sich zuerst und auf der längsten Station haben einschreiben lassen, den Vorrang erhalten müssen vor denen, die nachher kommen.»

«Ahem, das ist klar», sagte Menzel. «Na also, da dächt’ ich, ließen wir uns gleich einmal Plätze belegen und gäben das Draufgeld, damit wir die Sache richtig hätten, und nachher können wir ja einmal über die Farmen sprechen. Ich habe verwünschte Lust.»

«Du, das hat noch Zeit», sagte aber jetzt Brauhede wieder, Menzel am Rocke zupfend. «Erst müssen wir es uns doch einmal mit den anderen zu Hause überlegen.»

«Wenn aber nachher die Plätze auf dem ganz guten Schiff fort sind», sagte Müller mit einem sehr bedenklichen Gesicht.

«Ja, s t e h e n kann ich Ihnen n i c h t dafür», versicherte Herr Weigel, die Achseln zuckend, daß sie beinahe seine Ohrläppchen berührten.

«Na, meintwegen», sagte Brauhede, der allerdings auch in der Absicht hierher gekommen war, ihre Passage fest zu akkodieren, jetzt aber, da es dazu kam, Geld zu zahlen, nur ungern damit herausrückte. «Aber von wegen der Farm müssen wir noch erst mit den anderen sprechen, und eine Farm kriegen wir auch noch immer.»

«Ja, aber w a s für eine», sagte Herr Weigel.

Brauhede blieb aber bei seiner Meinung, und Menzel bestand jetzt nur wenigstens darauf, die beiden Pläne einmal mitzunehmen, damit sie sich zu Hause ordentlich hineindenken könnten. Wenn auch Herr Weigel sie im Anfang nicht außer Händen geben mochte, ja sogar versicherte, er habe nicht übel Lust, die eine Farm für sich selber auf Spekulation zu kaufen, ließ er sich doch zuletzt überreden, ihnen, aber allerdings nur auf zwei Tage, die Pläne zu überlassen, und dann das weitere über den Ankauf mit einer zweiten Deputation der Gesellschaft zu besprechen.

Menzel bezahlte dann das Aufgeld auf ihre Passage im M e t e o r für siebenundfünfzig Personen und dreizehn Kinder, die sämtlich aus e i n e r Ortschaft auswandern wollten, und nahm dann auch noch, nach einer kurzen Beratung mit den beiden anderen, die nötigen Billete auf der Eisenbahn von New York aus, oder machte wenigstens eine Anzahlung darauf, daß sie ihnen der Agent aufbewahrte, da dieser versicherte, er sei nur noch in Besitz einer sehr kleinen Anzahl und wisse nicht, wenn er gleich wieder andere bekommen würde, während die Anfrage danach sehr stark wäre.

Außerdem kauften sie sich auch noch ein halbes Dutzend kleine Broschüren, die Herr Weigel, wie er sagte, gerade frisch aus der Druckerei als etwas g a n z N e u e s bekommen hatte – ein Datum stand nicht darauf – und die drei Männer verließen dann wieder, von dem schmunzelnden Agenten bis an die auf den Markt führende Tür begleitet, das Haus.

«Höre Du», sagte Brauhede, als sie wieder vor dem Haus und auf der Straße waren, und langsam über den Markt weggingen, «mit dem Landkaufen wollen wir uns doch lieber hier noch nicht einlassen, das ist eine wunderliche Geschichte und will mir nicht recht in den Kopf.»

«Nicht in den Kopf?» rief aber Menzel. «Und warum nicht? – Der Mann bekommt alle Tage Briefe aus Amerika, warum soll der nicht wissen, was dort zu verkaufen ist?»

«Wenn’s aber so gut und billig wäre, brauchten sie’s doch nicht hier herüber zu schicken», meinte Brauhede kopfschüttelnd.

«Das ist alles, was Du davon verstehst», sagte Müller. «Amerikaner könnten sie gewiß genug zu Käufern kriegen, aber deutsche Bauern wollen sie, die ihnen zeigen, wie man das Land behandeln muß, und darum schicken sie herüber. Die sind froh drüben, wenn unsereins hinüberkommt.»

«Nun, mag sein», brummte Brauhede. «Aber sicher ist doch sicher, und wenn ich mein Geld hier weggegeben habe, und kann das Land, was mein sein soll, nachher nicht finden, wie’s dem Niklas seinem Bruder gegangen ist, nachher wäre die Geschichte faul.»

«Dem Niklas sein Bruder war aber auch ein Esel», sagte der andere, «der sich hier Land von einem herumziehenden Vagabunden gekauft; da sollt’ er nachher wohl suchen. Aber d e r Mann hier ist in der Stadt ansässig und hat ein Geschäft; was der verkauft, das muß gut sein, sonst wär’ er ja gar nicht sicher, daß man ihn einmal deshalb beim Kragen kriegte.»

«Ja, krieg’ ihn einmal, wenn Du drüben in Amerika bist», sagte Brauhede ruhig. «Das ist ein verwünscht weiter und umständlicher Weg und – wenn man sich einmal hat anführen lassen, will man auch nicht gern noch dazu ausgelacht werden.»

«Papperlapapp!» sagte Menzel. «Dafür hat jeder seine Augen, daß er sie offen hält, und ehe ich ihm mein gutes Geld gebe, werd’ ich mich schon sicherstellen, daß er mir nichts aufbindet.»

Und die Männer schritten, jeder von jetzt mit seinen eigenen Gedanken über die nahe Auswanderung beschäftigt, langsam die Straße hinunter, während in seinem kleinen Büro, vergnügt die Hände zusammenreibend, Herr Weigel auf und ab spazieren ging, und sich im Geist die nächst zu ziehenden Summen zusammenaddierte, die er in kurzer Zeit, nach eifriger Aussaat, einzuernten hoffte. Die Geschäfte gingen vortrefflich; Lust zur Auswanderung hatte in der Tat ein Drittel der sämtlichen Bevölkerung, und es bedurfte nur manchmal wirklich einer leisen Anregung, die Leute zu etwas zu bewegen, zu dem sie schon halb und halb selber entschlossen gewesen waren.

Herr Weigel war sehr guter Laune; er legte jetzt die Hände auf den Rücken und summte leise ein Lied vor sich hin, seinen Marsch dabei fortsetzend. Aber er sang falsch, er hatte keine Idee von irgendeiner Melodie, doch das schadete nichts, er m e i n t e wenigstens eine, und da er selber nicht hörte, w a s er sang, genügte es ihm vollkommen.

Die Tür ging auf und der Tischler oder Schreiner kam herein, irgendetwas an dem Pult auszubessern – er hatte zweimal angeklopft, ohne daß der vergnügte Agent darauf geantwortet hätte.

«Guten Morgen, Herr Weigel.»

«Ah, guten Morgen, Meister – nun, können Sie endlich ? Ich hatte schon ein paarmal nach Ihnen hinübergeschickt.»

«Ja, lieber Gott, Herr Weigel, ich war gerade drüben beim Herrn Geheimen Rat Bärlich beschäftigt – die Leute sind so eigen, wenn man von der Arbeit fortgeht.»

«Sehen Sie, hier das Bein möcht’ ich gemacht haben; der Tisch wackelt da immer, und wenn man etwas darunter legt, verschiebt es sich doch jedesmal wieder. Können Sie es mir wohl bis heute Nachmittag in Ordnung bringen?»

«Ja, gewiß», sagte der Mann, «das ist nur eine Kleinigkeit.»

«Und wie ist es mit den Auswandererkisten, die ich bestellt habe – werden sie bis heute Abend fertig?»

«Jawohl, Herr Weigel, sechs habe ich schon in das Gasthaus ,Stadt Breslau’, wie Sie mir sagten, abgeliefert.»

«Nun, das ist gut, denn der ganze Zug wird noch heute Vormittag ankommen und will morgen früh wieder fort – es sind doch noch keine Auswanderer heute Morgen hier eingetroffen?»

«Nicht, daß ich gesehen hätte – aber gestern Abend zogen viele durch.»

«Ja, ich weiß – von Hessen herüber – die armen Teufel; denen wird’s einmal wohl drüben werden. Nun, wie gehen denn bei Ihnen die Geschäfte jetzt?»

«Ih nu, gut, Herr Weigel, ich kann gerade nicht klagen, das Brot wird freilich immer teurer, aber man schlägt sich so durch. Kinder haben wir nicht, und was verdient wird, reicht eben ordentlich aus.»

«Ich begreife nicht», sagte Herr Weigel da kopfschüttelnd vor dem Mann, der seine Mütze eben wieder aufgegriffen hatte und sich zum Fortgehen anschickte, stehen bleibend, «wie Ihr Leute Euch hier vom Morgen bis Abend plagt und schindet, eben nur das liebe Brot zu verdienen, wo Ihr in ein paar Wochen drüben sein könntet und so viel Dollars für Eure Arbeit bekämt, wie hier Groschen.»

«Drüben, wo?»

«Nun, in Amerika.»

«Hm, ja», sagte der Mann, sich nachdenkend das Kinn streichend und einen leichten Seufzer unterdrückend. «Gedacht hab’ ich auch schon ein paarmal daran, aber – das geht nicht gut und – es ist auch so eine unsichere Sache mit da drüben. Hier weiß ich einmal, was ich habe und daß ich auskomme, und wie mir’s da drüben geht, weiß ich n i c h t.»

«Aber, Freund», rief Herr Weigel verwundert, «ein Mann, der fleißig arbeitet, bringt es dort immer zu ‘was. Wetter noch einmal, Meister, Amerika ist gerade der Platz für Euch, wo Ihr Euch rühren und ausbreiten könntet – wenn Ihr dort wäret, ein geschickter Arbeiter, wie Ihr! In fünf Jahren hättet Ihr zwanzig Gesellen.»

Meister Leupold nickte langsam mit dem Kopf und sah ein paar Sekunden still vor sich nieder, als ob das Bild mit der großen Werkstätte und dem regen Treiben sich vor seinem inneren Geist eben auszubreiten beginne, dann aber sagte er, jetzt herzhaft aufseufzend:

«Und es geht doch nicht, Herr Weigel – ich habe die alte Mutter zu Hause, die ich unmöglich hier allein zurücklassen könnte… »

«Hierlassen? Das fehlte auch noch!» rief der Agent. «Die nehmt Ihr mit, Mann – könnt Ihr der denn eine größere Freude machen, als wenn sie noch vor ihrem Ende sähe, wie gut es Euch geht auf der Welt und wie sich Euer Zustand mit jeder Woche, mit jedem Tag fast bessert ? – Muß sie hier nicht in Sorge und Kummer leben, daß Ihr einmal krank werdet und nichts verdienen könnt, und wie sieht’s dann aus?»

«Wenn ich aber nun dort d r ü b e n krank werde?» sagte der Meister leise.

«Wenn das nur nicht gleich die ersten Monate geschieht, und für ein Unglück kann niemand», war dagegen Herr Weigel ein, «so könnt Ihr Euch auch schon so viel gespart haben, das eine Weile ruhig mit anzusehen; und wenn Ihr n i c h t krank werdet, seid Ihr in ein paar Jahren ein wohlhabender Mann.»

«Es ist eine verwünschte Geschichte mit dem Amerika», seufzte der Mann wieder, sich hinter dem Ohr kratzend. «Man hört so viel davon, und sieht eine solche Menge Menschen hinüberziehen, die alle voller Hoffnung sind, daß es ihnen gut geht – und möchte am Ende ebenfalls gern mit – wenn man nur erst so einmal hinübergucken könnte, wie es eigentlich aussieht.»

«Dazu ist es ein bißchen zu weit», meinte Herr Weigel.

«Ja nun eben», sagte der Tischler, «und so auf’s Geratewohl… »

«Das könnt Ihr aber nicht auf’s Geratewohl nennen, wo wir alle Tage Briefe von drüben herüber bekommen, von denen einer immer besser lautet als der andere. Da – hier liegt gleich einer, der letzte, den ich bekommen habe, wo ein Deutscher, den ich selber hinüber befördert, und dem es jetzt ausgezeichnet gut geht, an mich schreibt, und einen oder zwei gute gelernte Schafknechte haben will, lesen Sie einmal den Brief.»

Leupold legte seine Mütze wieder hin, nahm den Brief und las ihn aufmerksam durch, er nickte dabei mehrmals mit dem Kopf und sah dann wieder zu dem Agenten auf, der ihn indessen mit einem triumphierenden Lächeln betrachtet hatte.

«Nun?» frug der Letztere, als jener das Schreiben beendet und wieder zusammenfaltete. «Wie klingt das?»

« S e h r gut», sagte Leupold leise, «aber – es hilft mir doch nichts. Wenn ich jetzt mein kleines Häuschen, das ich mir mit Mühe und Not zusammengespart und aufgebaut, auch verkaufen wollte, fände ich erstlich keinen Käufer, und dann bekäm’ ich auch das nicht dafür wieder, was es mich selber gekostet. Wie gesagt, der Sperling in der Hand ist doch wohl besser, wie die Taube auf dem Dache.»

«Bah, Taube», sagte Herr Weigel mürrisch, «wenn die Taube auf dem Dach eben so fest und sicher sitzen bleibt, bis man sie holen kann, wie Amerika ruhig liegt und auf die wartet, die hinüberkommen, so ist sie mir lieber wie ein erbärmlicher Sperling, zum Sterben zuviel und zum Leben zu wenig, aber – überlegt’s Euch – ah, da kommt der Briefträger – was für mich?»

«Nun, guten Morgen, Herr Weigel», sagte der Tischler und wollte sich eben entfernen, während der Briefträger dem Agenten mehrere für ihn gekommene Briefe überreichte.

«Siebzehn Silbergroschen, drei Pfennige», sagte er dabei.

«Siebzehn Silbergroschen?» rief Herr Weigel verwundert. «Aha, da ist ein Amerikaner dabei – halt, wartet noch einmal einen Augenblick, Leupold – da ist vielleicht gleich noch was für uns, und was ganz Neues – wollen gleich einmal sehen, was die Leute schreiben. Wahrscheinlich wieder von jemand, den ich hinüber befördert habe und der sich jetzt bedankt – das kostet aber viel Geld… »

«Apropos, Neues», sagte Leupold, während der Agent den Briefträger bezahlt hatte und seine Papierschere vom Tisch nahm, den amerikanischen Brief aufzuschneiden. «Haben Sie schon gehört, daß gestern Nachmittag bei Herrn Dollinger eingebrochen und für siebentausend Taler Gold und Juwelen gestohlen sind?»

«Alle Wetter», rief Herr Weigel, mit der zum Schnitt ausgehaltenen Schere in der Hand, «gestern Nachmittag?»

«Am hellen Tag», bestätigte Leupold.

«Und weiß man nicht, wer der Täter ist?»

«Sie haben den einen Komptoirdiener in Verdacht und auch schon eingezogen», sagte der Tischler.

«Gewiß den Loßenwerder», rief Weigel.

«Ich glaube, so heißt er – er ist ein wenig verwachsen…. »

«Und schielt – derselbe, ich habe den Burschen von jeher nicht leiden können, hat mir auch schon ein paarmal Kunden abspenstig gemacht aus reinem Brotneid, ich wüßte wenigstens sonst nicht weshalb, und habe ihn dabei stark in Verdacht, daß er selber damit umgeht, eine Agentur für Auswanderer zu errichten. Da könnte jeder hergelaufen kommen, ohne Briefe, ohne Connexionen und ohne Kenntnis vom Land – schickte nachher die Leute ins Blaue hinein, daß sie dort säßen und nicht wüßten, wo aus noch ein. Na, nun wird ihm das Handwerk wohl gelegt werden, ich gönne nicht gern einem Menschen etwas Übles, aber bei dem freut mich’s, daß sie’s wenigstens herausbekommen haben und er seine Schurkerei nicht mehr heimlich forttreiben darf. Ist denn das Geld schon wieder gefunden?»

«Soviel ich weiß, nicht, einige hundert Taler ausgenommen, von denen aber der Mann beteuert, daß er sie sich gespart hätte, es ist übrigens manches dabei zusammengekommen, was ihn verdächtig macht, das Nähere weiß ich freilich nicht.»

«Hm, hm, hm», sagte Herr Weigel kopfschüttelnd, den Brief, den er noch immer in der Hand hielt, aufschneidend, «böse Geschichten – böse Geschichten, was man nicht alles hört auf der Welt. – Nun wollen wir also einmal sehen, was der Herr da aus Amerika schreibt – hm – Washington County, Tennesse de 7. Januar 18 – alle Wetter, der Brief ist lange unterwegs gewesen, Herrn F.G. Weigel in Heilingen, Hauptagent der Central-Auswanderungs- und Colonisations-Gesellschaft in Deutschland – ahem – Sie nichtsw – hm – Sie haben – hm – vor allen Dingen – hm – hm – hm – hm… » Herrn Weigels Gesicht verlängerte sich immer mehr, je weiter er in seiner, wie es schien, nicht eben angenehmen Lektüre vorrückte, aber er bracht mit dem Lautlesen des Inhalts, dessen Einleitung unerwarteter Weise höchst derber Art war, schon gleich nach den ersten Silben ab und murmelte das Ganze nur flüchtig überfliegend, bloß einzelne unzusammenhängende Worte, aus denen Leupold nichts herausfinden konnte, vor sich hin.

«Nun, was schreiben sie?» sagte dieser endlich lächelnd, er wäre schon lange gegangen, wenn ihn Weigel nicht eben zurückgehalten hätte. «Gute Neuigkeiten?»

«Bah!» rief Herr Weigel, den Brief zurück auf seinen Schreibtisch werfend. «Jemand, der seine Geschwister will hinübergeschickt haben und mich ersucht, das Geld für ihn auszulegen. Da müßt’ ich schöne Kapitale herumstehen haben, wenn ich allen Leuten umsonst wollte die Familie nachschicken. Nachher sitzt der mitten im Land drin, und ich kann ihn dann suchen.»

«Ne, das ist ein bißchen viel verlangt», sagte der Meister, wieder nach der Klinke greifend – und diesmal hielt ihn Herr Weigel nicht zurück. «Aber nun leben Sie auch recht wohl und verlassen Sie sich darauf, ich besorge Ihnen das heute noch.»

«Seien Sie so gut», sagte der Agent. Er war auf einmal ganz einsilbig geworden, und Meister Leupold verließ mit nochmaligem Gruß das Zimmer, in dem jetzt Herr Weigel mit in die Tasche geschobenen Händen, aber keineswegs mehr so guter Laune als vorher, raschen, heftigen Schrittes auf und ab ging.

«Und vierzehn Groschen bezahlt für den Wisch – es ist eine Frechheit, wahrhaftig, die ins Bodenlose geht. Lumpengesindel! Glaubt, die gebratenen Tauben sollen ihm da ins Maul fliegen, sobald sie’s nur aufsperren.» Und wieder riß er den Brief vom Pult, rückte sich die Brille zurecht und las mit halblauter, aber heftiger Stimme den Inhalt noch einmal und zwar aufmerksamer durch, als vorher:

«,Sie nichtswürdiger Halunke’ – wenn ich Dich nur hier hätte, mein Bursche, dafür solltest Du mir brummen – ,schändlich betrogen und angeführt’ – wozu hat Dir denn der liebe Gott die großen Glotzaugen gegeben, wenn Du sie nicht aufsperren willst – ,Land eine Wüste’ – nah versteht sich, ein Gewächshaus hab’ ich ihm nicht verkauft – ,Hälfte gar nicht zu bekommen’ – Holzkopf – ,kein Mensch wollte die Billete nehmen’ – hah, geschieht Dir recht – ,Wohngebäude zu schlecht für einen Hund’ – für Dich noch immer viel zu gut, mein Schatz – ,wenn Sie nur einmal herüber kämen, Sie miserabler’ – bah … » unterbrach sich Herr Weigel in dieser nichts weniger als schmeichelhaften Lektüre, indem er den Brief in zwei Hälften riß und sich dann ein Streichhölzchen mit einem Gewaltstrich an der Tür entzündete. « S o viel für den Wisch!» Und das Papier anbrennend, warf er das auflodernde in den Ofen und schloß die Klappe so heftig er konnte.

Allerdings wollte er sich nun über den Brief hinwegsetzen, aber geärgert hatte er sich doch, und Rock und Stiefel anziehend, drückte er sich seinen Hut in die Stirn, griff seinen Stock aus der Ecke und verließ sein Büro, das er sorgfältig hinter sich abschloß und eine kleine Pappe mitten an die Tür hing, auf der die Worte standen :

«Kommt um elf Uhr wieder.»


Sechstes Kapitel

Die Weberfamilie.

Nicht weit von Heilingen, und selbst in Hörweite der Domglocke, in ziemlich bergigem, aber unendlich malerischem Land, lag ein kleines armes Dorf, dessen Bewohner sich kümmerlich, aber meist ehrlich mit verschiedenen Handwerken und Gewerben, mit Holzschnitten, wie auch hier und da mit dem Webstuhl ernährten. Das Dorf hieß eigentlich ‚Zur Stelle’, welchen Namen aber die Bewohner im Laufe der Zeit und mit Hilfe des Dialekts zu dem von Zurschtel umgearbeitet hatten, und mochte etwa dreißig Häuser und Hütten mit der doppelten Anzahl von Familien, wie der sechsfachen von Kindern zählen. Es ist eine wunderliche Tatsache, daß man in den ärmlichen Distrikten stets die meisten Kinder findet.

Mitten im Dorf lag eins der besseren Häuser, es war weiß getüncht, und hinter den sauber gehaltenen Fenstern hingen weiße, reinliche Gardinen. Vor dem Hause, über dessen Tür ein frommer Spruch mit roten und grünen Buchstaben angeschrieben war, stand ein Brunnen- und Röhrentrog, und ein kleiner Koven an der Seite desselben zeigte in der nach außen befestigten Klappe des Futterkastens dann und wann den schmutzigen Rüssel eines seine Kartoffelschalen kauenden Schweines. Auch ein ordentlich gehaltenes Staket umgab das Haus wie den kleinen Hofraum, und die Wohnung stach sehr zu ihrem Vorteil gegen manche der Nachbarhäuser ab.

Im Inneren selber sah es ebenfalls sehr reinlich, aber nichtsdestoweniger sehr ärmlich aus. In der einen Ecke stand ein großer, viereckiger, sauber gescheuerter Tisch aus Tannenholz, an zweien der Wände waren Bänke aus dem nämlichen Material befestigt, und um den großen viereckigen Kachelofen, der fast den achten Teil der Stube einnahm, hingen verschiedene Kochgerätschaften, während auf darüber angebrachten Regalen die braunen Kaffeekannen und geblümten Tassen gewissermaßen mit als Zierrat zur Schau ausstanden. Die dritte Ecke füllte der Webstuhl des Mannes aus, und dem gegenüber stand eine riesengroße, braun angestrichene Kommode mit Messinghenkeln und Griffen und fünf Schiebladen, die, mit wirklich rührender Eitelkeit als eine Art von Nipptisch benutzt, zwei mit bunten Blumen bemalte Henkelgläser, eine vergoldete Tasse mit der Aufschrift ,Der guten Mutter’ – ein Geschenk aus früherer Zeit – und ein gelbirdenes, aber allerdings sehr wenig benutztes Tintenfaß trug, während dahinter, in zwei ordinären Stangengläsern, in dem einen Schilfblütenbüschel und in dem andern große, stattliche Ähren von Roggen, Weizen, Gerste und Hafer standen, zur Erinnerung an eine frühere segensreiche Ernte.

Die Bewohner der kleinen Stube paßten genau in ihre Umgebung. Es war eine nicht mehr ganz junge, aber doch rüstige Frau, in die nicht unschöne Bauerntracht der dortigen Gegend gekleidet, die an ihrem Spinnrad saß und eifrig das Rädchen schnurren ließ. Dabei berührte die rechte Hand manchmal eine neben ihr stehende Wiege, um den darin ruhenden kleinen Säugling, der immer wieder die großen, dunklen Augen zu ihr aufschlug, endlich in Schlaf zu bringen. Sie war reinlich, aber in die gröbsten Stoffe gekleidet, ebenso der Bube von etwa vier Jahren, der ihr zu Füßen mit einer Hand voll Steinchen auf dem über die Diele gestreuten Sand Schäfer und Schafe spielte.

Außerdem war noch eine vierte Person im Zimmer, die alte Mutter der Frau, eine Greisin von nahe an siebzig Jahren, die auch noch ihr Spinnrad drehte, sich aber mit demselben hinter den noch warmen Ofen gesetzt hatte, weil ihr das heutige naßkalte, unfreundliche Wetter fröstelnd durch die alten Glieder zog. Es war eine gutmütige, aber mürrische alte Frau, selten zufrieden mit dem, was sich ihr gerade bot, unermüdlich darin, sich und ihren Kindern die Last vorzuwerfen, die sie ihnen mache, und den lieben Gott täglich zu bitten, daß er sie doch bald zu sich nähme. Nur eine kleine, ganz kurze Frist erbat sie sich immer noch – dann wollte sie gern sterben. Erst, wie das Älteste geboren war, wollte sie das noch gern laufen sehen, dann hätte sie gern erlebt, wie es zum erstenmal in die Schule ging, dann war es Frühjahr geworden und sie hoffte nur noch einmal neue Kartoffeln zu essen, zu Jakobi aber wollte sie noch einmal von dem Pflaumenbaum die Früchte kosten, den ihr ,Seeliger’ noch gepflanzt. Wie der Herbst kam, wünschte sie im Frühjahr begraben zu werden, und die knospenden Maiblumen weckten den Wunsch nach den Astern, ihrer Lieblingsblume, von denen sie sich eigenhändig ein schmales Beet in dem kleinen Garten dicht am Hause gepflanzt. So lebt und webt die Hoffnung in unseren Herzen mit immer neuer, nie sterbender Kraft, und je älter wir werden, desto mehr lernen wir die schöne Erde lieb gewinnen, desto mehr klammern wir uns an sie und wollen uns gar nicht mehr von ihr trennen.

Der Tag neigte sich dem Abend zu, der Mann war in die Stadt gegangen, um seine Steuern zu bezahlen und manches einzukaufen, was sie notwendig im Hause brauchten. Zum Ersatz dafür hatte er das zweite Schwein, das sie bis dahin gehalten, hineingetrieben, und der Erlös sollte seine Ausgaben bestreiten.

Der Regen wurde jetzt wieder heftiger, die großen schweren Tropfen schlugen gegen das Fenster, und das Kind wurde vollständig munter und fing an zu schreien. Die Mutter schob ihr Spinnrad zurück, nahm das Kleine aus der Wiege, und ging damit trällernd im Zimmer auf und ab. Die Alte spann indes ruhig weiter und versuchte mit zitternder, leiser Stimme ein geistliches Lied zu singen, und mit dem Rad trat sie den Takt dazu. Sonst sprach keine ein Wort.

Endlich wurde die Haustür geöffnet, jemand kam von draußen herein und strich sich die Füße auf den Steinen und der Strohdecke ab, und sie hörten gleich darauf, wie der zurückkehrende Vater und Gatte seinen großen, rotblauwollenen Schirm auf die Steine stieß, um das Wasser soviel wie möglich davon abzuschütteln, und den Mantel auszog und über den großen Schleifstein hing, der draußen im Flur stand – wie er das gewöhnlich tat. Die Frau öffnete rasch die Tür, um den Mann zu begrüßen, der den Hut abnahm, sich die nassen Haare aus der Stirn strich und das Kind küßte, das sie ihm entgegenhielt.

«Jesus, ist das ein Wetter, Gottlieb!» sagte sie dabei, als sie ihm den Hut aus der Hand nahm und neben den Ofen an den Nagel hing. «Komm nur herein, daß Du ‘was Trockenes auf den Leib bekommst. Wo hast Du denn den Jungen? – Ist er nicht bei Dir?» setzte sie, fast ängstlich, hinzu.

«Er ist draußen bei Lehmanns hineingegangen, denen wir ein paar Sachen aus der Stadt mitgebracht», sagte der Mann, «wird wohl gleich kommen – wie geht’s, Frau? – Wie geht’s, Mutter? – Ha, das regnet einmal heute, was vom Himmel herunter will, was nur daraus werden soll, wenn das Wetter so fortbleibt. Ein paar gute trockene Tage haben wir gehabt, und jetzt wieder Guß auf Guß – Guß auf Guß, als ob sie uns unsere paar Stücken Feld noch hinunter in die Wiesen waschen wollten. Von dem einen Acker ist die Saat schon halb fortgespült – wenn diesmal das Korn mißrät, weiß ich nicht, wo der arme Mann das Brot hernehmen soll.»

«Klag’ nicht, Gottlieb», sagte aber die Frau freundlich, «es geht noch vielen schlechter wie uns, und was sollen da die g a n z armen Leute sagen? Lieber Gott, es ist viel Not in der Welt, und wer heutzutage eben sein Auskommen und ein Dach über dem Kopf hat und gesund ist, sollte sich nicht versündigen.»

Sie hatte dabei das Kind auf die Erde gesetzt, holte den Topf aus der Röhre, in der, trotz der vorgerückten Jahreszeit, noch ein Feuer brannte, der alten fröstelnden Mutter wegen, und groß den darin heiß gehaltenen Kaffee – sie nannten das braune Getränk von gebrannten gelben Rüben und Gerste wenigstens so – in die eine braune Kanne, damit sich der Mann, der den ganzen Tag draußen im Regen herumgezogen war, daran erquicken könne. Zugleich deckte sie ein weißes Tuch über den Tisch, auf den sie noch Butter und Brot stellte, um die versäumte Mittagsmahlzeit wenigstens in etwas nachzuholen.

Der Mann setzte sich an den Tisch, schenkte sich eine Tasse Kaffee ein, in den ihm die Frau die Milch goß, und schnitt sich ein großes Stück Brot ab, das er mit Butter bestrich und verzehrte. Er sprach kein Wort dabei und beendete still seine Mahlzeit, schob dann die Tasse und den Butterteller zurück, nahm das Kleinste, das die Mutter zu ihm auf die Erde gesetzt hatte, herauf auf sein linkes Knie, blieb, den rechten Ellbogen auf den Tisch gestützt, den Kopf gegen die Wand gelehnt, regungslos sitzen, und schaute still und schweigend nach dem Fenster hinüber, an das die Regentropfen immer noch, vom Wind draußen gepeitscht, hohl und heftig anschlugen.

Die Frau hatte ihn eine ganze Zeit lang mit scheuem Blick betrachtet, es war irgendetwas vorgefallen, aber sie wagte nicht zu fragen, denn Gottlieb, so seelensgut er auch sonst sein möchte, hatte doch auch seine ,verdrießlichen Stunden’, und war dann, wenn gestört, oft rauh und unfreundlich; aber eine eigene Angst überkam sie plötzlich. Ihr ältester Sohn – der Hans – war nicht mit nach Hause gekommen, konnte dem – heiliger Gott, wie ein Stich traf es sie ins Herz – und sie sprang erschreckt von ihrem Stuhl auf und auf den Mann zu.

«Gottlieb – um aller Heiligen willen, wo ist der Hans? – Es ist – es ist ihm doch nicht etwa ein Unglück geschehen?»

«Der Hans?» sagte der Mann aber ruhig und sah erstaunt zu ihr auf. «Was fällt Dir denn ein? Was soll denn dem Hans zugestoßen sein? Ich habe Dir ja gesagt, daß er bei Lehmanns etwas abzugeben hat und dort wahrscheinlich das Wetter abwarten wird.»

«Ich weiß nicht», sagte die Frau, der dadurch allerdings eine Zentnerlast von der Seele gewälzt wurde, «aber Du bist so sonderbar heut Abend, so still und ernst, und da schlug’s mir wie ein Schreck in die Glieder über den Hans. Ist etwas vorgefallen, Gottlieb?»

Gottlieb schüttelte langsam den Kopf und sagte:

«Nicht daß ich wüßte – nichts Besonderes wenigstens, oder nichts anderes, als was jetzt alle Tage vorfällt – Geld zahlen!»

«War es denn so viel?» sagte die Frau leise und schüchtern.

Der Mann schwieg einen Augenblick und sah still vor sich nieder; endlich erwiderte er seufzend:

«Das Schwein ist drauf gegangen, und vier Taler siebzehn Groschen sind immer noch mit Gerichtskosten und der alten Prozessgeschichte mit der Brückenplanke, mit der ich eigentlich gar nichts mehr zu tun hatte, stehen geblieben. Ich muß sie bis zum 1. Juli nachzahlen, unter Androhung von Pfändung.»

«Nun, lieber Gott», sagte die Frau tröstend, «wenn das das Schlimmste ist, läßt sich’s noch ertragen; da verkaufen wir eben das andere Schwein und behelfen uns so. Wie wenig Leute im Dorf haben überhaupt eins zu schlachten und leben doch; warum sollen wir nicht ebenso gut ohne eins leben können als die.»

«Ja,» sagte der Mann, leise und still vor sich hinbrütend, «verkaufen und immer nur verkaufen, ein Stück nach dem anderen, und während woanders die Leute mit jedem Jahr ihr kleines Besitztum vergrößern und für ihre Kinder etwas zurücklegen können, sieht man es hier mehr und mehr zusammenschmelzen, unter Müh’ und Plack das ganze Jahr lang.»

«Aber kannst Du’s ändern?» sagte die Frau leise und fuhr, wie der Mann schwieg und, mit der Faust die Stirn stützend, vor sich niederstarrte, schüchtern fort : «Arbeitest Du nicht von früh bis spät fleißig und unverdrossen? Gönnst Du Dir eine Zeit der Ruhe, wo Dich irgendeine nötige Beschäftigung ruft, und haben wir uns etwa das Geringste vorzuwerfen?»

«Nein», sagte der Mann, während er die Hand auf den Tisch sinken ließ und die Frau voll und fest ansah, «nein, aber das ist es ja eben, was mir am Leben frißt. Wir k ö n n e n nicht m e h r arbeiten, nicht m e h r verdienen, wie wir jetzt tun, und jetzt sind wir noch jung und kräftig, unsere Kinder noch klein und gesund, und dennoch geht es mit jedem Jahr zurück, wird es mit jedem Jahr schlechter und schlimmer. Wie nun soll das werden, wenn uns erst einmal Krankheit heimsuchte, wenn die Kinder heranwachsen und mehr brauchen, wenn wir selber älter werden und nicht mehr so zugreifen können wie jetzt? – Schon jetzt können wir uns nicht mehr in der teuren Zeit oben halten – das eine Schwein ist verkauft, das andere wird noch fort müssen, unser Acker ist kleiner geworden in den letzten zehn Jahren, unsere Bedürfnisse aber sind gewachsen – wie soll das enden?»

«Aber Gottlieb», sagte die Frau freundlich, «wie kommen Dir jetzt doch nur solche Grillen? Haben Dir die paar Taler Steuern den Kopf verdreht? Mann, Mann, Du bist doch sonst so ruhig und hast immer vertrauensvoll in die Zukunft gesehen. Wie sind Dir auf einmal solche schwarze Gedanken durch den Sinn gefahren?»

Die alte Mutter hatte, schon so lange wie die beiden miteinander gesprochen, ihr Spinnrad ruhen lassen und dem Gespräch aufmerksam zugehört, dabei schüttelte sie fortwährend mit dem Kopf und sagte endlich mir ihrer schrillen, scharf klingenden Stimme:

«Jawohl, jawohl – das Geld wird rar und das Brot teuer, und mehr Mäuler kommen – mehr Mäuler sind da zum Verzehren, wie zum Verdienen. Schlagt mich tot, schlagt mich tot, daß ich wegkomme aus dem Weg und Euch Platz mache – schlagt mich tot.»

«Mutter», bat die Frau in Todesangst, daß sie dem Manne mit solcher Rede wehe tun würde, denn e r gerade hatte sie immer auf das Freundlichste behandelt und alles getan, was in seinen Kräften stand, ihr jede Erleichterung, die ihr Alter bedurfte, zu verschaffen, «wie dürft Ihr nur so etwas reden; versündigt Ihr Euch denn nicht?»

«Wir haben noch genug für uns alle, Mutter», sagte aber der Mann freundlich, der ihre Launen kannte und der alten Frau nicht wehe tun mochte, «nur für spätere Zeit ist mir bange; Sie aber wären die Letzte, die darunter leiden sollte. Wir werden alle alt, und wenn wir unsere Schuldigkeit in unserer Jugend getan, wie Sie, dann ist es nicht mehr wie Pflicht und Schuldigkeit der Jüngeren, für ihre Eltern zu sorgen – wenn sie nicht auch einmal wieder von ihren Kindern wollen verlassen werden.»

Die Alte war wieder still geworden, sah noch eine Zeitlang vor sich nieder, und begann dann auf’s neue ihre Arbeit; aber die Frau fuhr fort und sagte fast mit einem leisen Vorwurf im Ton zu ihrem Mann:

«Siehst Du, Gottlieb, das hast Du nun davon mit Deinen trüben und traurigen Ideen; Du machst Dir und mir und der Mutter nur das Herz schwer, und nützest und hilfst doch nichts. Der liebe Herrgott da oben wird’s schon machen und lenken; Er hat die Welt so viele Jahrhunderte hindurch in ihrer Bahn gehalten, und die Menschen darauf geschirmt und gepflegt, wie unser Herr Pastor sagt, Er wird’s auch schon weiter tun, und wir dürfen uns eigentlich gar nicht sorgen und kümmern um den ,nächsten Tag’».

«Doch, doch, Frau», sagte aber der Mann, aufstehend und jetzt, die Hände in den Hosentasche, in der Stube auf und abgehend, «doch, Frau, der Mann m u ß, denn wenn er’s n i c h t täte, wär er ein schlechter Hausvater, und ihm allein fielen dann all’ die schweren Folgen zur Last, die daraus entständen. Ich kann Dir das nicht so mit Worten deutlich machen, wie mir’s neulich der Schulmeister, mit dem ich darüber sprach, erklärte, aber der meinte, es wäre etwa so wie wenn einer im Wasser wäre. Da sei es auch nicht genug, daß man sich oben hielte an der Luft und im Kreis herumschwämme, eben nur nicht zu ertrinken, das täte nicht einmal ein unvernünftiges Stück Vieh, nein, des Menschen, des verständigen Menschen Pflicht sei es, sich schon im Wasser nach dem festen Land umzusehen, ob man das irgend erreichen könne, denn zuletzt würde man da im Wasser, man möchte noch so tapfer schwimmen, doch müde, und ließen erst einmal die Kräfte nach, dann hilft auch zuletzt das Schwimmen nichts mehr und man sänke eben langsam zu Boden.»

«Ich verstehe nicht recht, was Du damit meinst,» sagte die Frau, «aber Du siehst mich so sonderbar dabei an – hast Du noch ‘was anderes dahinter?»

«Nein und ja», sagte der Mann nach kleiner Pause, indem er sich mit dem Rücken an den Ofen lehnte und langsam dazu mit dem Kopf nickte. «Eigentlich nicht, denn Gott da oben weiß, daß es wahr ist, und weiß, wie und ob’s einmal enden kann; aber dann – dann hab’ ich allerdings noch ‘was dahinter, denn ich meine – ich meine… » Er schwieg und es war augenscheinlich, er hatte etwas auf dem Herzen, das er sich scheue so mit blanken, klaren Worten heraus zu sagen. Die Frau aber, die eben damit beschäftigt war das Geschirr hinauszuräumen, setzte die Kanne wieder auf den Tisch, sah den Mann erstaunt an, ging dann langsam zu ihm an den Ofen und sagte leise, vor ihm stehenbleibend :

«Geh her, Gottlieb – Du hast ‘was, was Dich drückt, und willst nicht mit der Sprache heraus. Es ist irgend noch etwas vorgefallen in der Stadt, was Du nicht sagen magst. Du mußt doch nicht s i t z e n ?»

«Sitzen? – Weshalb?» lächelte der Mann kopfschüttelnd. «Ich habe nie etwas Böses getan.»

«Nun, was ist’s dann, so sprich doch nur, denn Du ängstigst mich ja mehr mit Deinem Schweigen, als wenn Du mir das Schlimmste gleich voraus erzählst – dem Hans fehlt doch nichts?»

«Was soll dem Hans fehlen, närrische Frau – wenn’s aufhört zu gießen, wird er schon kommen.»

«Und was ist’s dann? – Gelt, Du sagst mir’s?»

«Ich m u ß Dir’s wohl sagen», seufzte der Mann, «nun sieh, Hanne, ich meine – ich habe so darüber nachgedacht, daß es jetzt hier in Deutschland immer schlechter wird mit uns – und daß wir’s zu nichts mehr bringen können, trotz aller Arbeit, trotz allem Fleiß, und daß jetzt – daß jetzt doch so viele Menschen – hinüber ziehen … »

«Hinüberziehen?» frug die Frau erstaunt, fast erschreckt, und legte die hand fest auf’s Herz, als ob sie die aufsteigende Angst und Ahnung über etwas Großes, Schreckliches da hinunter und zurückdrücken wolle, ehe sie zu Tage käme. «Wo hinüber, Gottlieb?»

«Nach Amerika», sagte der Mann leise – so leise, daß sie das Wort wohl nicht einmal verstand, und nur an der Bewegung der Lippen es sah und erriet. Wie ein Schlag aber traf sie die Wirklichkeit ihres Verdachts, und ohne ein Wort zu erwidern, ohne eine Silbe weiter zu sagen, setzte sie sich auf den dicht am Ofen stehenden Stuhl, deckte ihr Gesicht mit der Schürze zu, und saß eine lange, lange Weile still und regungslos. Auch der Mann wagte nicht zu sprechen – er hatte den Gedanken wohl schon eine zeitlang mit sich herumgetragen, aber sich immer davor gefürchtet, ihm Worte zu geben, sogar gegen sich selbst, wie viel weniger denn gegen die Frau. Jetzt war es heraus, und er betrachtete nur scheu die Wirkung, die er hervorgebracht.

Auch die alte Mutter saß, mit der Hand auf dem Rad, das sie im Drehen aufgehalten, und horchte nach den beiden hinüber, was sie mitsammen hatten; und wie die so still waren und kein Wort mehr sprachen, mochte es ihr auch unheimlich vorkommen, und sie sagte laut und mürrisch:

«Nun, Gottlieb, was gibt’s – was hast Du wieder mit der Hanne? Was habt Ihr denn, daß Ihr so still und heimlich tut – macht einem nicht auch noch Angst unnötigerweise – was ist nun wieder los?»

«Ja, Mutter», sagte der Mann jetzt, der sich gewaltsam Mut faßte über das, was nun doch nicht länger mehr verschwiegen bleiben konnte und besprochen werden m u ß t e, auch l a u t zu reden, daß er’s vom Herzen herunter bekam. «Es geht mit uns hier den Krebsgang, und ich habe eben zu Hannen gesagt, daß uns zuletzt nichts anderes übrigbleiben würde, als – als es eben auch wie andere zu machen und …. »

«Und ? – Und was zu machen?» frug die alte Frau gespannt.

«Als a u s z u w a n d e r n», sagte der Mann mit einem plötzlichen Ruck und seufzte dann tief auf, als ob er selber froh wäre, es los zu sein.

«Herr du meine Güte!» rief die alte Frau, ließ die Hände erschreckt in den Schoß sinken und lehnte sich in ihren Stuhl zurück, während ihr alle Glieder am Leibe flogen. «Herr du meine Güte!» wiederholte sie noch einmal, und die Finger falteten sich unwillkürlich zusammen, so hatte sie der Schreck getroffen.

«Auswandern», sagte aber auch jetzt Gottliebs Frau mit tonloser Stimme und ließ die Schürze vom Gesicht herunterfallen. «Auswandern, das ist ein schweres – schweres Wort, Gottlieb – hast du Dir das auch recht – recht reiflich überlegt?»

«Tag und Nacht die ganze letzte Woche hindurch», rief der Mann, der jetzt, da das Eis einmal gebrochen war, wieder Leben und Wärme gewann. «Wie ein Mühlstein hat’s mir auf der Seele gelegen, und ich habe so lange und tapfer dagegen angekämpft. Aber es wäre das Beste für uns, was wir auf der weiten Gotteswelt tun könnten; und wenn auch nicht einmal für uns, wenn wir selber auch schwere und bittere Zeiten durchzumachen hätten, doch für die Kinder, die einmal den Segen ernten, den wir mit unserem Schweiß, unseren Tränen gesät.»

«Auswandern? Ja», sagte jetzt die Großmutter, mit dem Kopfe nickend und schüttelnd, als ob sie den schrecklichen Gedanken wieder von sich abwerfen wollte, «ja, wohin es Euch lüstet, aber erst wenn ich tot bin. Die paar Tage müßt Ihr noch hier bleiben, die ich noch zu leben habe, oder sonst schlagt mich tot, werft mich ins Wasser, oder schlagt mich mit dem Beil auf den Kopf, daß ich fortkomme und hier auf dem Kirchhof unter der alten Linde liegen kann, wo der Lebrecht liegt. In der Welt könnt Ihr mich doch nicht mehr umherschleppen, und nutz bin ich auch nichts mehr, wie das mit zu verzehren, was andere verdienen. Wenn Ihr jetzt fort wollt, schlagt mich vorher tot.»

«Ach Mutter, wenn Sie nur nicht gar so häßlich reden wollen», sagte die Frau traurig, während der Mann wieder zum Tisch ging, sich dort auf den Stuhl setzte und den Kopf in die Hand stützte. «Sie sind noch wohl und rüstig, und werden, will’s Gott, noch manches Jahr leben und sich Ihrer Kinder freuen. Wo die dann hinziehen und sich ihr Brot suchen müssen, da gehören Sie auch hin, und was die verdienen, das haben Sie auch verdient mit Mühe und Not und banger Sorge schon vor langen Jahren, wo w i r noch klein und unbehilflich waren, wie unsere Kinder jetzt.»

«Wozu mich mitnehmen», sagte aber die Frau, störrisch dabei mit dem Oberkörper herüber und hinüber schwankend, «unterwegs müßtet Ihr mich doch aus dem großen Schiff hinaus ins Wasser werfen, die Fische zu füttern. Bleibe im Lande und nähre Dich redlich, das ist m e i n Spruch und meines Leprecht Spruch von alter Zeit her gewesen, und wir haben uns wohl dabei befunden; aber das junge Volk jetzt will immer alles anders haben, will oben zur Decke ‘naus und fliegen und schwimmen, anstatt hübsch auf der Erde und im alten Gleis zu bleiben. Warum ist’s denn früher gegangen? – Nein, Gott bewahre, jetzt soll alles mit Eisenbahnen und Dampf gehen und keine Geduld, keine Ausdauer mehr, nur fort, immer gleich fort, in die Welt hinein und mit dem Kopf gegen die Wand – schlagt mich tot, dann seid Ihr mich los und könnt hingehen, wohin Ihr wollt.»

Und die alte Mutter stand auf, rückte ihr Spinnrad beiseite und humpelte, noch immer vor sich hinmurmelnd und grollend, aus der Stube hinaus.

«Sie meint es nicht so bös, Gottlieb», sage die Frau zu dem Mann tretend und ihre Hand auf seine Schulter legend, «es ist eine alte Frau, die an ihrer Heimat mit ganzem Herzen hängt und sich vor der Reise fürchtet.»

«Und Du n i c h t, Hanne?» rief der Mann, sich rasch nach ihr umdrehend und ihre Hand ergreifend. «Du nicht ? Du würdest Dich dazu entschließen können, unsere Heimat hier, unser Häuschen, unser Feld zu verlassen und mit mir und den Kindern über das weite Meer zu fahren in eine fremde Welt?»

Die Frau schwieg und ihre Hand zitterte in der des Mannes – endlich sagte sie leise:

«So weit fort? – Und m u ß es denn sein, ist es denn gar nicht mehr möglich, daß wir hier uns auch ein bißchen knapper einrichten wie bisher? Ach, Gottlieb, es ist gar hart, so von zu Hause fortzugehen, die Tür zuzuschließen und zu denken, daß man nun nie und nimmer wieder dahin zurückkommt.»

Der Mann nickte traurig mit dem Kopf und sagte endlich:

«Du hast Recht, Hanne, es ist ein schwerer, recht schwerer Schritt, und man sollte ihn sich wohl vorher überlegen, ehe man ihn tut, denn zurück kann man nicht wieder, wenn man wenigstens nicht alles opfern will, was einem bis dahin noch zu eigen gehört hat. Tun wir aber recht, nur allein an u n s zu denken? – Sieh, w i r schleppen und vielleicht noch, wenn auch kümmerlich, doch ehrlich durch, bis wir einmal sterben, und wenn es auch hart ist, daß es einem nachher im Alter schlechter gehen soll wie in der Jugend, brauchten wir doch gerade keine Furcht zuhaben, daß wir verhungerten; aber die Kinder – die Kinder – was wird aus denen? Unser kleines Grundstück ist die Jahre über kleiner und kleiner geworden, mit dem Geschäft geht’s auch kümmerlicher wie bisher – neue, geschicktere Arbeiter, junge Burschen, die noch keine Familie haben und weniger brauchen, sitzen in den Dörfern herum, und die Fabriken und Maschinen geben uns ohnehin den Todesstoß. Stahl und Holz brauchen nichts zu essen und arbeiten unermüdet Tag und Nacht durch, und die Räder und Walzen und Hämmer klopfen und drehen und schwingen ununterbrochen fort gegen den Schweiß des armen Arbeiters, der darüber zugrunde geht. Ich murre auch nicht darüber, es muß wohl schon so recht sein, denn Gott hat’s den Menschen selber gelehrt und die Welt muß vorwärts gehen – wir älteren Leute können uns aber eben nicht mehr dareinschicken, können nichts anderes mehr ergreifen und wieder von vorn anfangen. Wir können das wenigstens hier im Land nicht, wo einem die Hände nach allen Seiten hin gebunden sind, und darum ist mir der Gedanke gekommen a u s z u w a n d e r n. Da drüben über dem Weltmeere hat der liebe Herrgott noch für uns arme Leute einen großen gewaltigen Fleck Erde liegen, den Maschinen und Räderwerken aus dem Weg. Dort haben wir Platz uns zu bewegen, und wer da nur ordentlich arbeiten will, hat nicht allein zu leben, sondern kann auch vielleicht für sich und die Kinder ‘was vorwärts bringen, und braucht sich nicht mehr vor der Zukunft und vor Hunger und Not zu fürchten. Wenn wir n i c h t auswandern, was bleibt unseren Kindern da einmal anderes übrig, als in Dienst zu gehen und sich bei fremden Leuten doch herumzuschlagen ihr Leben lang.»

«Und die Mutter?» sagte die Frau, sich ängstlich nach der Tür umsehend. «Was würde aus der alten Frau auf dem Meer?»

«Was aus so vielen alten Frauen da wird, liebes Herz», sagte aber der Mann, augenscheinlich mit froherem, freudigerem Herzen, als er bei dem eigenen Weib nicht den Widerstand fand, den er vielleicht gefürchtet, «sie gewöhnen sich an das neue Leben, sobald sie das alte nicht mehr um sich sehen, und die Seeluft soll kräftigen und stärken.»

«Aber sie wird nicht mit uns wollen.»

«Sie wird ihre Kinder nicht verlassen», tröstete sie der Mann, «und ohne sie dürften wir ja auch gar nicht fort.»

Die Frau reichte ihm schweigend die Hand, die er herzlich drückte, und wandte sich dann und wollte eben das Zimmer verlassen, als draußen jemand die Tür aufriß und in das Haus trat. Das Unwetter hatte jetzt seinen höchsten Grad erreicht und der Regen schlug in ordentlichen Güssen gegen die Fenster an, während der Wind die Wipfel der Bäume herüber und hinüber schüttelte und die Blüten mit rauher Hand von den Zweigen riß.

«Schönen Gruß miteinander», sagte dabei eine rauhe Stimme, während die Stubentür halb geöffnet wurde, «darf man hineinkommen?»

«Gott grüß Euch», sagte die Frau, «kommt nur herein, bei dem Wetter ist’s bös draußen sein – es tobt ja, als ob der letzte Tag hereinbrechen sollte.»

Der Fremde hing seinen Hut und Mantel draußen ab und trat mit nochmaligem Gruß in die Stube.

«Gott grüß Euch», sagte auch Gottlieb, «da, nehmt Euch einen Stuhl und setzt Euch zum Ofen; es ist heute unfreundlich draußen und man kann ein bißchen Feuer brauchen.»

«Sauwetter, verdammtes», fluchte der Mann, als er der Einladung Folge geleistet und sich die nassen Haare aus der Stirn strich. «Ich wollte erst sehen, daß ich die Schenke erreichte; hier um die Ecke herum kam der Wind aber so gepfiffen, daß er mich halb von den Füßen hob, und es war gerade, als ob sie einem von da oben einen Eimer voll Wasser nach dem anderen entgegen gössen. Schönes Wetter für Enten, aber für keine Menschen.»

Es war eine rauhe, kräftige Gestalt, der Mann, mit krausem, dickem schwarzen Bart und ein paar tiefliegenden, unsteten Augen, in einen groben braunen Tuchrock gekleidet, wie ihn die Fleischer nicht selten auf dem Lande tragen. Die ebenfalls braunen Hosen hatte er dabei heraufgekrempelt bis fast unter das Knie, um mit seinen derben Wasserstiefeln besser durch alle Pfützen und Schlammwege hindurch zu können. Die aus ungeborenem Kalbfell gemachte Weste war ihm bis an den Hals hinauf zugeknöpft, und eine lange silberne Uhrkette hing ihm darüber hin.

«Ihr seid wohl weit von hier zuhaus?» frug Gottlieb nach einer längeren Pause, in der er den Mann und dessen Äußeres nur flüchtig betrachtet hatte. «Hab’ euch wenigstens noch nicht hier bei uns gesehen.»

«Zehn Stunden etwa», sagte der Fremde, seine Pfeife jetzt aus der Brusttasche seines Rockes nehmend und mit Stahl und Schwamm27, den er bei sich führte, entzündend. «Wie weit ist’s noch bis Heilingen?»

«Eine tüchtige Stunde. Wenn der Weg jetzt nicht so schrecklich wäre, könnte man’s recht bequem in kürzerer Zeit gehen.»

«Hm – ist noch verdammt weit, puh, wie das draußen stürmt; und die Pflaumenblüten pflückt’s beim Armvoll herunter – Pflaumenmus wird teuer werden nächsten Herbst.»

«Das weiß Gott», sagte Gottlieb, «es wird alles teurer, immer mehr jedes Jahr, langsam aber sicher.»

«Bah, es geschieht denen recht, die hier bleiben, wenn sie nicht hier bleiben müssen; ‘s gibt Plätze, die besser sind.»

«Wollt Ihr auch auswandern?» sagte Gottlieb rasch.

«Auswandern? – Nach Amerika? Hm – ich weiß noch nicht», brummte der Fremde, sich den Bart streichend. «Es wäre aber möglich, daß sie einen noch dazu trieben. Sind das Eure Kinder?»

«Ja.»


«Habt Ihr noch mehr?»

«Noch einen Jungen von elfundeinhalb Jahr.»

«Und Ihr seid ein Weber?» sagte der Fremde mit einem Blick auf den Webstuhl. «Auch schwere Zeiten für derlei Arbeit, mit einer Familie durchzukommen.»

«Jawohl, schwere Zeiten», seufzte Gottlieb, als in diesem Augenblick die Tür draußen wieder aufging und die Mutter laut ausrief:

«Der Hans, lieber Himmel, kommt der in dem Wetter!»

Es war Hans, der älteste Sohn des Webers, durch und durch naß, aber mit frischem, gesunden Gesicht und roten Backen, auf denen das Regenwasser in großen Perlen stand.

«Guten Tag miteinander», sagte er, als er ins Zimmer trat und die triefende Mütze vom Kopf riß. «Guten Tag, Mutter.»

«Guten Tag, Hans, aber wo um Gotteswillen kommst Du in dem Regen her? Warum hast Du das Wetter nicht bei Lehmanns abgewartet?»

«Es wurde mir zu spät, Mutter, und ich war hungrig geworden; habe auch noch heut Abend dem Vater etwas zu helfen.»

«Ein derber Junge», sagte der Fremde, der sich den Knaben indes mit finsterem Blick betrachtet hatte. «Kann wohl schon ordentlich mitarbeiten?»

«Ach ja, er packt tüchtig mit zu», sagte der Vater. «Lieber Gott, in jetziger Zeit muß alles mit Brot verdienen helfen.»

«Die Kinder fressen einen arm», sagte der Fremde.

«Habt Ihr Kinder?» frug Gottlieb.

«Ich ? – Hm, ja», sagte der Fremde nach einer Pause, «könnte noch jemandem davon abgeben.»

«Ich möchte keins hergeben», sagte die Frau rasch und küßte das Jüngste, das sie eben wieder aufgenommen hatte, um es zu füttern. «Kinder sind ein Segen Gottes.»

«Ja – so sprechen die Leute wenigstens», sagte der Fremde trocken. «Aber ich glaube, es läßt nach mit Regnen; ich werde die Schenke wohl jetzt erreichen können.»

«Wollt Ihr nicht vielleicht erste eine Tasse heißen Kaffee trinken?» frug die Frau, das Kind auf dem linken Arm, zum Ofen gehend, um die warmgestellte Kanne wieder vorzuholen.

«Danke, danke», sagte der Fremde abwehrend. «Kann das warme Zeug nicht vertragen; ein Glas Branntwein ist mir lieber.»

«Das tut mir leid», sagte der Mann, «den kann ich Euch nicht anbieten, ich habe keinen im Hause.»

«Tut auch nichts», sagte der Mann, «so lange halt’ ich’s schon noch aus. – Sind doch hilflose Dinger so junge Menschen, ehe sie die Kinderschuhe ausgetreten haben», setzte er dann hinzu, als das Jüngste das Mäulchen nach dem schon einmal gereichten Löffel vorstreckte, «was machte nun so ein jung Ding, wenn man es hinsetzte und sich selber überließe.»

«Ach Du lieber Gott», sagte die Frau bedauernd, «so ein armer Wurm müßte ja elendiglich umkommen!»

«Bis den Nachbarn das Geschrei zu arg würde, und sie kämen und es fütterten», lachte der andere.

«Dafür haben die Kinder Eltern», sagte die Frau, das kleine, die Ärmchen zu ihr ausstreckende Mädchen liebkosend und küssend, «die sorgen schon dafür, daß kein Nachbar danach zu sehen braucht.»

«Wenn die aber einmal plötzlich sterben, wie dann?» frug der Fremde mit einem Seitenblick auf die Frau, indem er seinen Rock wieder zuknöpfte und sich zum Gehen rüstete.

«Dann ist G o t t im Himmel», sagte Hanne mit einem frommen, vertrauensvollen Blick nach oben.

«Ja, das ist wahr», sagte der Fremde mit einem leichtfertigen Lächeln, «der hat allerdings die große Kinderbewahranstalt. Aber es hat wirklich mit Gießen aufgehört», unterbrach er sich rasch, «den Augenblick will ich doch lieber benutzen. So, schön Dank für gegebenes Quartier, Ihr Leute, und gut Glück.»

«Bitte, Ihr habt für nichts zu danken; behüt’ Euch Gott», sagte Gottlieb freundlich.

«Behüt’ Euch Gott», sagte auch die Frau, und der Mann, ihnen noch einmal zunickend, nahm draußen wieder den nassen Mantel um, drückte sich den breiträndigen Hut in die Stirn, griff einen derben Knotenstock, der daneben in der Ecke lehnte, auf und verließ rasch das Haus, die Richtung nach der Schenke einschlagend.

«Mich freut’s, daß er fort ist», sagte die Frau, die dem Knaben gerade das Essen auf den Tisch setzte und den Kaffee einschenkte. «Bewahr’ uns Gott, was hatte der Mann für ein finsteres Gesicht und ein barsches Wesen; nicht schlafen könnt’ ich die Nacht, wenn ich den unter einem Dach mit mir wüßte. In dem Gesicht lag auch nichts Gutes – und wie er fluchte und über die Kinder sprach! Ob er nur wirklich selber welche hat?»

«Er sagt’s ja», bestätigte Gottlieb, «aber mir schien’s ein Fleischer zu sein, seinem Gewerbe nach, und die sind immer rauh und derb, meinen’s aber nicht immer so bös.»

«So bess’re ihn Gott», sagte die Frau mit einem Seufzer, «und je seltener er unseren Weg kreuzt, desto besser.»

* * *

Siebtes Kapitel

Nach Amerika.

«Nach Amerika!» – Leser, erinnerst Du Dich noch der Märchen in ,Tausendundeine Nacht’, wo das kleine Wörtchen ,Sesam’ dem, der es weiß, die Tore zu ungezählten Schätzen öffnet? Hast Du von den Zaubersprüchen gehört, die vor alten Zeiten weise Männer gekannt, um Geister aus ihrem Grabe heraufzurufen und die geheimen Wunder des Weltalls sich dienstbar zu machen? – Mit dem ersten Klang der einfachen Silbe schlugen, wie sich die Sage seit Jahrhunderten im Munde des Volks erhalten, Blitz und Donner zusammen, die Erde zitterte, und das kecke, tollkühne Menschenkind, das sie gesprochen, bebte vor der furchtbaren Gewalt zurück, die es heraufbeschworen.

Die Zeiten sind vorüber; die Geister, die damals dem Menschengeschlecht gehorcht, gehorchen ihm nicht mehr, oder wir haben auch vielleicht das rechte Wort vergessen, sie zu rufen – aber ein anderes dafür gefunden, das, kaum minderstark, mit e i n e m Schlage das Kind aus den Armen der Eltern, den Gatten von der Gattin, das Herz aus allen seinen Verhältnissen und Banden, ja aus der eigenen Heimat Boden reißt, in dem es bis dahin mit seinen stärksten, innigsten Fasern treulich festgehalten.

«Nach Amerika!» Leicht und keck ruft es der Tollkopf trotz der ersten schweren, traurigen Stunde entgegen, die seine Kraft prüfen, seinen Mut stählen sollte. – «Nach Amerika!» flüstert der Verzweifelte, der hier am Rand des Verdeerbens dem Abgrund langsam, aber sicher entgegengerissen wurde. – «Nach Amerika!» sagt still und entschlossen der Arme, der mit männlicher Kraft und doch immer und immer wieder vergebens gegen die Macht der Verhältnisse angekämpft, der um sein ,tägliches Brot’ mit blutigem Schweiß gebeten – und es nicht erhalten, der keine Hilfe für sich und die Seinen hier im Vaterland sieht, und doch nicht betteln w i l l, nicht stehlen k a n n. – «Nach Amerika!» lacht der Verbrecher nach glücklich verübtem Raub, frohlockend der fernen Küste entgegenjubelnd, die ihm Sicherheit bringt vor dem Arm des beleidigten Rechts. – «Nach Amerika!» jubelt der Idealist, der wirklichen Welt zürnend, weil sie eben wirklich ist, und über dem Ozean drüben ein Bild erhoffend, das dem in seinem eigenen tollen Hirn erzeugten gleicht. – «Nach Amerika!» und mit dem einen Wort liegt hinter ihnen abgeschlossen ihr ganzes früheres Leben, Wirken, Schaffen – liegen die Bande, die Blut oder Freundschaft hier geknüpft, liegen die Hoffnungen, die sie nur hier gehegt, die Sorgen, die sie gedrückt. – «N a c h A m e r i k a !»

So gärt und keimt der Same um uns her – hier noch als leiser, kaum verstandener Wunsch im Herzen ruhend, dort ausgebrochen zu voller Kraft und Wirklichkeit, mit der reifen Frucht seiner gepackten Kisten und Kasten. Der Bauer draußen hinter seinem Pflug, den der nahe Grenzrain noch nie so schwer geärgert, und der im Geist, während er an dem Stein wieder und wieder wenden muß, schon weit über dem Meer drüben die langen geraden Furchen zieht, – der Handwerker in seiner Werkstatt, dem sich Meister nach Meister mit Neuerungen und großen, marktschreierischen Firmen in die Nachbarschaft setzt, um die wenigen Kunden, die ihm bis dahin noch geblieben, in s e i n e Tür zu locken, – der Künstler in seinem Atelier oder seiner Studierstube, der über einer freieren Entwicklung brütet und von einem Lande schwärmt, wo Nahrungssorgen ihm nicht Geist und Hände binden, – der Kaufmann hinter seinem Pult, der Nachts, allein und heimlich, die Bilanz in seinen Büchern zieht und, das sorgenschwere Haupt in die Hand gestützt, von einem neuen, anderen Leben, von lustig bewimpelten Schiffen, von reichgefüllten Warenhäusern träumt, in Tausenden von ihnen drängt’s und treibt’s und quält’s, und wenn sie auch noch vielleicht jahrelang nach außen die alte frühere Ruhe wahren, in ihren Herzen glüht und glimmt der Funke fort – ein stiller, aber ein gefährlicher Brand. Jeder Bericht über das ferne Land wird gelesen und überdacht, neue Arznei, neues Gift bringend für den Kranken. Vorsichtig und ängstlich, und weit herum um ihr Ziel, daß man die Absicht nicht erraten soll, fragen sie versteckt nach dem und jenem Ding – nach Leuten, die vordem ,hinübergezogen’ und denen es gut gegangen – nach Land- und Fruchtpreis, Klima, Boden, Volk – für andere natürlich, nicht für sich etwa – sie lachen bei dem Gedanken. Ein Vetter von ihnen will hinüber, ein entfernter Verwandter oder naher Freund, sie wünschen, daß es dem wohl geht, und häufen mehr und mehr Zunder für sich selber auf.

So ringt und drängt und wühlt das um uns her, keiner ist unter uns, dem nicht ein lieber Freund, ein naher Verwandter den salto mortale getan und alles hinter sich gelassen, was ihm einst lieb und teuer war – aus dem, aus jenem Grund – und täglich, stündlich noch hören wir von anderen, von denen w i r im Leben nie geglaubt, daß s i e je an Amerika gedacht, wie sie mit Weib und Kind und Hab und Gut hinüberziehen. Und d o r t ? – Noch liegt ein dichter Schleier über ihrem Schicksal dort, doch Gottes Sonne scheint ja überall. – Dir aber, lieber Leser, greif’ ich aus dem Leben noch hier und da ein paar Freunde heraus, die wir auf dem weiten Weg begleiten wollen.

* * *


Oben in der Brandstraße – nicht weit vom Brandtor entfernt und dem Gasthaus zum Löwen schräg gegenüber – wohnte Professor Lohenstein mit seiner Familie in der ersten Etage eines zwar sehr alten, aber auch sehr wohnlich eingerichteten Hauses, das ihm eigen gehörte.

Der Professor war ein Mann, gerade an der anderen Seite der ,besseren Jahre’, etwa einundfünfzig Jahre alt, aber rüstig und gesund, nur erst mit einzelnen grauen Haaren zwischen den rabenschwarzen Locken, die ihm über die bleiche, aber hohe und geistvolle Stirn fielen, wie mit fast jugendlichem, elastischem Gang und Wesen. Ein tüchtiger Kopf dabei, hatte er Jura und Cameralia28 studiert und einen großen Schatz von Kenntnissen angehäuft, auch in manchem, mit schweren mühsamen Nachtwachen erkauften Werk der Welt, der undankbaren Welt das Resultat seiner Studien und Forschungen gebracht und dargelegt. Unzufrieden aber mit dem Erfolg und der kalten Aufnahme, die es gefunden, wandte er sich später wieder von den bis dahin bevorzugten juristischen Wissenschaften ganz ab und allein seinem Lieblingsstudium, den Cameralien zu, in denen er besonders der Gewerbskunde seine Tätigkeit widmete, auch mit einem Buchhändler in Heilingen eine Gewerbezeitung gründete und herausgab.

Hierin hatte er Unglück, der Buchhändler machte bankrott und er übernahm die Zeitung, mit ziemlich großen Verlusten schon, allein.

So vortrefflich aber Professor Lohenstein in der Theorie seiner Wissenschaft bewandert sein mochte, so wenig sattelfest war er es in der Praxis, und seine Zeitung wollte und wollte keinen Boden gewinnen. Mit fabelhaftem Fleiß suchte er dem zu begegnen, umsonst – umsonst auch, daß er Kapital nach Kapital in das zuletzt nur noch zur Ehrensache gewordene Unternehmen steckte. Sein Haus bekam Hypothek auf Hypothek, und mit einer höchst ungünstigen politischen Periode, in der ihm eine große Anzahl Abonnenten absprang, trafen ihn auch so bedeutende pekuniäre Verluste, daß er sich endlich genötigt sah, sein Blatt vollständig aufzugeben. Es war das schwerste Opfer, das er bis dahin gebracht.

Professor Lohenstein hatte eine ziemlich starke Familie; eine Frau, zwei erwachsene Töchter von siebzehn und zwanzig Jahren, einen Sohn von achtzehn und zwei kleinere Kinder, einen Knaben von acht und ein Mädchen von sieben Jahren. Wenn auch nicht in Reichtum, doch in einem gewissen Wohlstand erzogen, war aber der Familie bis jetzt das schwere Wort N a h r u n g s- s o r g e n fremd geblieben; der Professor hatte immer, was man so nennt, ein Haus gemacht und sich in einem Umgangskreis bewegt, der ihnen schon an und für sich eine gewisse Verpflichtung auferlegte, manches mitzumachen, was seinen sonst mehr einfachen Neigungen eben nicht Bedürfnis schien. Das alles sollte, ja m u ß t e sich jetzt ändern, denn wenn er auch aus den Trümmern seines Vermögens nach allen erlittenen Verlusten einen kleinen Teil zu retten vermochte, genügte der nicht, das bisherige Leben fortzuführen. Die Wahl blieb ihm jetzt allein, von Neuem eine Laufbahn mit geringeren Mitteln anzufangen und sich und den Seinen schwere und ungewohnte Entbehrungen an einem Orte aufzuerlegen, wo ihn alles und jedes an frühere und bessere Zeiten erinnerte, oder – es war eine schwere Stunde, in der ihm d a s Bild zum erstenmal vor die Seele stieg – in einem anderen Erdteil, ungekannt, aber auch nicht bemitleidet oder verspottet, ein vollkommen neues L e b e n zu beginnen.

Aber die Frauen? Würden sie den Mühseligkeiten einer so langen Reise, einer Ansiedelung drüben in einem noch wilden Lande gewachsen sein? – Daß er selber die Beschwerden eines solchen Lebens leicht ertragen würde, daran zweifelte er keinen Augenblick; er hatte so viel über Amerika gelesen, sich mit den dortigen Verhältnissen aus allen erschienenen Schriften so vertraut gemacht, daß er alles kannte, was ihn dort erwartete, und einem derartigen Wirken eher mit Freude und Lust, als Bangen entgegenging. Aber durfte er seine Frau all’ den sie erwartenden Unbequemlichkeiten und Strapazen aussetzen? Durfte er seine Töchter aus ihrem geselligen, glücklichen Leben reißen und ihnen mit einem Schlage alle jene Vergnügungen entziehen, die ihnen hier schon mehr als Erholung, die ihnen fast Bedürfnis geworden?

Einen langen und schweren Kampf kämpfte er mit sich selber monatelang, und er wurde alt in der Zeit, die Augen lagen tief in ihren Höhlen, und seine Züge bekamen etwas Mattes und Abgespanntes, das sie sonst, in seiner schwersten Arbeitszeit noch nie gehabt. Wenn auch die Kinder sich leicht mit einem vorgeschützten Unwohlsein beruhigen ließen, dem scharfen Blick der Gattin entging die Sorge nicht, die an seinem Herzen heimlich, aber desto gewaltiger nagte, und ihren dringenden, ängstlichen Bitten konnte er zuletzt nicht länger widerstehen. Was sie doch zuletzt hätte erfahren m ü s s e n, vertraute er ihr an, und wenn es die arme Frau auch wie ein Schlag aus heiterem Himmel traf, nahm sie das Ganze doch viel ruhiger auf, als er erwartet, gefürchtet, und damit eine schwere Last von s e i n e m Herzen – auf das ihre.

Aber leichter trägt sich die geteilte, und bereden konnten sie jetzt zusammen, was zu tun, welchen Weg zu gehen, die Möglichkeit zu besprechen, die sich hier ihrem Leben bot, die Möglichkeit erwägen, die ihnen dort eine andere, freiere Zukunft öffnete. Und die Kinder? Wohin Mutter und Vater gingen, folgte die ja gern; nur die Szene wechselte für sie, anderen, vielleicht selbst bunteren Bildern Raum zu geben, und Kummer und Sorge kannten die ja nicht.

An demselben Abend waren die beiden ältesten Töchter zu einem kleinen Fest, dem Geburtstag einer Freundin, eingeladen, und hatten schon den ganzen Tag mit rastlosen Fingern an dem bunten, blitzenden Ballstaat genäht. Der Vater begleitete sie dorthin, nur die Mutter blieb daheim, Kopfschmerz und die Sorge um das jüngste Kind vorschützend, das mit einem leichten Unwohlsein in seinem Bettchen lag. Aber gegen zehn Uhr schlummerte es sanft und ruhig auf dem weichen Lager ein, und daneben, das sorgenschwere Haupt in die Hand gestützt, saß die Mutter und weinte – weinte, als ob sie mit dieser Tränenflut all’ den Gram und Kummer fortwaschen wollte, der jetzt, ein dunkler Wolkensaum, am Horizont ihres Glücks erschien, und wild und drohend höher und höher stieg.

Lachend und plaudernd kehrten die Töchter mit dem Vater spät in der Nacht zurück; den leichten, sorglosen Herzen lag die Welt noch wie ein weiter Garten offen da, und was etwa an wuchernden Giftpflanzen dazwischen stand, mischte noch sein saftgrünes Laub, dem jungen Auge nicht erkennbar, mit Blumen- und Blütenpracht.

Aber der Moment näherte sich auch, wo mit der vorgerückten Jahreszeit all’ die nötigen und mannigfaltigen Vorbereitungen zu einer so langen Reise, zu einer gänzlichen Umgestaltung all’ ihrer Verhältnisse getroffen werden m u ß t e n, auch schien die Zeit eine passende für den Sohn, der, von der Schule gerade abgegangen, eben sein Abiturientenexamen glücklich bestanden hatte. Der Vater wünschte allerdings, daß er hier erst studieren und ihnen dann später, wenn er etwas Tüchtiges gelernt, folgten sollte, dachte ihm aber doch die freie Wahl zu lassen und seinem Herzen keinen Zwang aufzuerlegen.

Am nächsten Morgen nach der durchschwärmten Nacht waren die beiden jungen Damen spät aufgestanden, und nur der Sohn zur gewöhnlichen Zeit ausgegangen, um seine ,englische Stunde’ zu halten. Als aber Marie – die zweite Tochter – bald nach Anna zum Kaffee herüberkam, saß der Vater ungewohnter-weise nicht in seiner Studierstube an der Arbeit, sondern im Sofa, aus der langen Pfeife den Dampf in weißen Kräuselwolken von sich blasend, und die Mutter am Nähtisch, Kleider für das Jüngste ausbessernd, das in seinem herübergeschafften Bettchen wieder mit klaren Augen seine Puppe schaukelte.

«Schon ausgeschlafen, Väterchen?» sagte Marie, als sie, etwas beschämt, als letzte am Kaffeetisch Platz genommen. «Ich habe wohl heut recht lange geschlafen? Aber – was ist Dir denn? – Und der Mutter auch!» rief sie, vom Stuhl wieder aufspringend, als sie das ungewohnte ernste Wesen der Eltern gewahrte. «Bist Du böse auf mich, Mütterchen?»

«Nein, mein Kind», sagte diese und zwang ein Lächeln auf die Lippen, «aber der Vater hat Euch etwas recht Ernstes heute zu sagen, von dem wir noch nicht wissen, ob es Euch betrüben wird oder nicht.»

«Der Vater!» rief Marie erschreckt, und auch Anna, die älteste Tochter, sah ängstlich zu ihm auf.

Professor Lohenstein aber, so in die Enge und zum Äußersten getrieben, hustete, paffte den Dampf ein paarmal scharf vor sich hin, um die Pfeife ordentlich in Glut zu bringen, und sagte:

«Ja, Kinder, Ihr wißt – wir – wir haben doch in den letzten Tagen viel über Nordamerika gesprochen, und auch manches gelesen…. »

«Ja, die herrlichen Romane von Cooper!» rief Marie rasch.29

«Und die schrecklichen Berichte im Tageblatt», lächelte Anna.

«Der Doktor Hayde ist ein Esel», sagte der Professor, den rauch wieder ein paarmal rasch ausstoßend. «Wenn der hätte in Amerika ordentlich arbeiten wollen, brauchte er sich jetzt nicht von einer Winkeladvokatur und vom Schimpfen auf freisinnige Leute zu ernähren. Über dessen Berichte wollen wir uns keine Sorgen machen, aber… » Er schwieg wieder einen Augenblick und sah, wie furchtsam, nach der Frau hinüber. Die jedoch arbeitete umso emsiger weiter, und selber mit dem Bedürfnis, dem, was ihn schon so lange gedrückt, endlich einmal Worte zu geben, fuhr er rasch fort: «Ich habe eine Frage an Euch zu tun, Kinder: Hättet Ihr – hättet Ihr wohl selber Lust, hinüber nach – nach Amerika zu gehen?»

«Nach Amerika!» rief Anna rasch und auch wohl erschreckt. Marie aber sprang auf, schlug in die Hände und rief jubelnd:

«Nach Amerika! Oh, das wäre ja prächtig – das wäre herrlich! – Nicht war, da sind a u c h Bälle, Väterchen?»

Die Mutter seufzte tief auf, und der Vater zog wieder etwas verlegen an der Bernsteinspitze.

«Hm – ich weiß nicht», sagte er, langsam mit dem Kopf schüttelnd, «wo wir im Anfang hinwollen, werden wohl keine sein. Hängst Du so an Bällen, Marie?»

«Ich tanze gern», lächelte das junge fröhliche Mädchen etwas verlegen und schüchtern.

«Nun, tanzen wirst Du dort hoffentlich auch können, mein Kind», sagte der Vater freundlich, «wenn auch nicht gerade gleich auf solchen Bällen, wie wir sie hier gewohnt sind – das Leben ist dort einfacher.»

«Oh, und bis zum nächsten Fasching sind wir gewiß auch wieder zurück!» rief Marie.

Der Vater schwieg erst eine kleine Weile und sagte dann leise, aber entschlossen:

«Wir wollen g a n z hinüberziehen, mein Kind.»

«Auswandern?» rief die ältere Schwester fast erschreckt – das Wort, dessen Bedeutung sie noch gar nicht vollkommen verstand, traf sie mit einem unbekannten ahnenden Gefühl von Schmerz und Leid. «Und die Mutter?»

Nach Amerika! Bd. 1

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