Читать книгу Die mündliche Strafrechtsprüfung im Assessorexamen - Gert-Holger Willanzheimer - Страница 8

Fall 1 Nachts um zwei in der Innenstadt ★

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StGB Allgemeiner Teil: Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikte (§ 15 StGB) Konkurrenzen (§§ 52, 53 StGB) Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69 StGB) Anwendung materiellen Jugendstrafrechts auf Heranwachsende (§ 105 JGG)
StGB Besonderer Teil: Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort (§ 142 StGB), verfassungskonforme Auslegung Trunkenheit im Verkehr, Straßenverkehrsgefährdung (§§ 316, 315c Abs. 1 Nr. 1a StGB) Begriff der absoluten und relativen Fahruntüchtigkeit
Strafprozessrecht: Verdachtsgrade (§§ 152 Abs. 2, 170, 111a StPO) Anwendung des Zweifelssatzes für die Staatsanwaltschaft Sachliche Gerichtszuständigkeit (§§ 25 GVG, 108 JGG) Vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 111a StPO)

Fall: Sie sind Staatsanwältin/Staatsanwalt. Eines Morgens liegt eine neue Akte vor Ihnen, die folgenden Inhalt hat:


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Die Polizei wird nachts um 2 Uhr zu einem Verkehrsunfall mit Unfallflucht gerufen. Der Unfallbeteiligte, der sie angerufen hat, ist der Fahrer eines Rettungswagens, der, als Zeuge vernommen, folgendes Geschehen schildert, das sein ebenfalls zeugenschaftlich vernommener Beifahrer bestätigt:

„Ich wartete mit meinem Fahrzeug vor einer roten Ampel; wir waren auf dem Rückweg von einem Einsatz. Mein Fahrzeug war ordnungsgemäß beleuchtet. Auf einmal gab es einen mächtigen Knall. Wir stiegen aus und sahen, dass ein Pkw aufgefahren war. Beide Fahrzeuge waren beschädigt; bei meinem Rettungswagen waren Stoßstange und beide Hecktüren eingedrückt. Aus dem Pkw stieg ein jüngerer Mann. Er ging etwas unsicher und roch nach Alkohol. Mit etwas verwaschener Sprache sagte er: ‚Bitte keine Polizei. Ich habe etwas getrunken.‘ Ich erklärte ihm, dass wir klare Weisung haben, die Polizei bei jedem Unfall hinzuzuziehen. Er diskutierte noch etwas herum und erklärte sich bereit, bei Verzicht auf die Polizei seine Personalien zu hinterlassen, aber als er sah, dass wir uns nicht auf seinen Wunsch einließen, zog er einen Zettel und einen Stift aus der Tasche, schrieb einen Namen und eine Adresse sowie sein Kennzeichen darauf, stieg trotz unserer Proteste in sein Auto und fuhr weg.“

Die Polizeistreife stellte fest, dass Name und Adresse auf dem Zettel mit der Halteranschrift übereinstimmten. Die Streife fuhr die Adresse an und traf dort auf den Beschuldigten, einen 20-jährigen nicht vorbestraften kaufmännischen Angestellten, der nach ordnungsgemäßer Belehrung einräumte, dass er der Fahrer war, aber bestritt, alkoholisiert gewesen zu sein. Er war jedoch freiwillig zur Abgabe einer Blutprobe bereit. Aus dem später zu den Akten gelangten Blutalkoholgutachten ergibt sich ein Wert von 0,4 Promille zur Tatzeit.

Prüfer: Haben Sie noch Fragen zum Fall?
Kandidat: Nur eine: Wurde einer der beiden Insassen des Rettungswagens verletzt?
Prüfer: Nein. Ihre Frage ist aber sehr berechtigt. Wie gehen Sie als Staatsanwalt an einen solchen Fall heran?
Kandidat: Ich prüfe, ob ich einen hinreichenden Tatverdacht nach § 170 Abs. 1 StPO habe und Anklage erheben kann.
Prüfer: Ist das wirklich Ihr erster Prüfungsschritt? Überlegen Sie einmal, wann die Staatsanwaltschaft überhaupt nur ein Ermittlungsverfahren eröffnen darf.
Kandidat: Das ist in § 152 Abs. 2 StPO geregelt. Danach müssen zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine Straftat begangen wurde.
Prüfer: Richtig. Wie nennt man diesen Verdachtsgrad?
Kandidat: Das ist der sogenannte Anfangsverdacht.
Prüfer: Ja. Können Sie den Begriff inhaltlich erläutern?
Kandidat: Ein Anfangsverdacht liegt vor, wenn es aufgrund bestimmter Tatsachen möglich erscheint, dass eine verfolgbare Straftat begangen wurde. Dabei sind die Anforderungen relativ gering. Bloße Mutmaßungen oder Spekulationen reichen aber nicht aus.
Prüfer: Das haben Sie völlig richtig umschrieben. Wie sieht das in unserem Fall aus?
Kandidat: Den Anfangsverdacht halte ich für ganz unproblematisch gegeben. Der Beschuldigte hat ja sogar gestanden, das Unfallfahrzeug geführt zu haben.
Prüfer: Im Ergebnis mag das richtig sein, aber wir wollen sauber Schritt für Schritt vorgehen. Sie haben vorhin selbst gesagt, dass sich der Anfangsverdacht auf eine Straftat beziehen muss. Das heißt, dass wir unsere Eingangsprüfung nach § 152 Abs. 2 StPO nicht nur auf die Beweislage beschränken dürfen, sondern uns auch rechtliche Gedanken machen müssen. Sonst besteht die Gefahr, dass wir fleißig herumermitteln, die Polizei beschäftigen und dann hinterher feststellen müssen, dass das nachweisbare Verhalten des Beschuldigten überhaupt keinen Tatbestand erfüllt oder Verjährung vorliegt. Welche Tatbestände kommen denn Ihrer Meinung nach in Betracht?
Kandidat: Als erstes fällt mir Unfallflucht nach § 142 StGB ein.
Prüfer: Dann subsumieren Sie bitte einmal.
Kandidat: Ich fange mit Abs. 1 Nr. 1 an. Der Beschuldigte war unproblematisch Unfallbeteiligter. Es hat sich auch um einen Unfall im Straßenverkehr gehandelt, von dem sich der Beschuldigte auch entfernt hat. Zuvor müsste er die Feststellung seiner Person, seines Fahrzeugs oder der Art seiner Beteiligung nicht ermöglicht haben. Hier könnte allerdings ein Problem liegen. Eigentlich hat er ja seine Personalien korrekt angegeben, und das Kennzeichen seines Fahrzeugs auch. § 142 StGB verlangt ja nicht, dass er diese Angaben gegenüber der Polizei macht.
Prüfer: Soweit einverstanden. Weiter?
Kandidat: Bliebe noch die Art seiner Beteiligung. Aber auch dazu hat er ja den Unfallgegnern keine Informationen vorenthalten. Er ist auf ein stehendes Fahrzeug aufgefahren.
Prüfer: Naja, so ganz hat er die Art seiner Beteiligung vielleicht doch nicht offenbart. Woran denke ich?
Kandidat: Dann können Sie höchstens noch die Alkoholisierung meinen. Aber ist das eine Art der Beteiligung?
Prüfer: Was spricht dagegen?
Kandidat: Vom Wortlaut her eigentlich nichts. Aber …
Prüfer: Ich merke, Sie haben kein gutes Gefühl dabei. Woher kommt es?
Kandidat: Die Alkoholisierung kann ja im Gegensatz zu Name, Adresse, Kennzeichen usw. eigentlich nur die Polizei genau feststellen. Wenn nun das Gesetz jemanden dazu zwingt, sich durch Warten auf die Polizei einer Trunkenheitsfahrt überführen zu lassen, habe ich ein Problem mit dem Nemo-tenetur-Grundsatz. Er muss ja gewissermaßen an seiner eigenen Überführung mitwirken.
Prüfer: Gut beobachtet. Dieses Problem müssen wir lösen. Ich gebe Ihnen einen Hinweis: Was ist das Schutzgut des § 142 StGB? Sie finden einen Anhaltspunkt im Gesetz.
Kandidat: Aus dem Passus zugunsten der anderen Unfallbeteiligten und der Geschädigten entnehme ich, dass wohl ausschließlich deren Individualinteressen geschützt werden sollen. Also insbesondere Schadensersatzansprüche und Beweissicherungsrechte.
Prüfer: Sehr schön vom Wortlaut her argumentiert. Was schützt § 142 StGB demnach gerade nicht?
Kandidat: Das staatliche Strafverfolgungsinteresse.
Prüfer: Ganz richtig. Können Sie daraus Schlüsse für die Auslegung der Norm ziehen?
Kandidat: Man müsste § 142 StGB einschränkend auslegen, und zwar dahin, dass er keine Selbstbelastung verlangen kann, wenn dies ausschließlich dem Ziel der Strafverfolgung dient. Sonst wäre er verfassungsrechtlich bedenklich.
Prüfer: Ausgezeichnet. Wissen Sie auch, wie man es nennt, wenn man eine bestimmte Auslegung einer Norm vornimmt, um ihre Verfassungswidrigkeit zu vermeiden?
Kandidat: Verfassungskonforme Auslegung.
Prüfer: Richtig. Wenden Sie diese Erkenntnisse bitte auf unseren Fall an.
Kandidat: Das Problem ist, ob die Frage der Alkoholisierung des Beschuldigten irgendwelche Auswirkungen auf seine Schadensersatzpflichten haben könnte. Wenn ja, wird eine Unfallflucht vorliegen. Wenn er sich dagegen ausschließlich der Strafverfolgung entziehen wollte, wäre das bei verfassungskonformer Auslegung nicht durch § 142 StGB erfasst. Da der Beschuldigte unstreitig auf ein ordnungsgemäß beleuchtetes und vor einer roten Ampel wartendes Fahrzeug aufgefahren ist, ist kaum vorstellbar, dass er sich einer Schadensersatzpflicht entziehen kann. Egal, ob er alkoholisiert war oder nicht, er trägt die Alleinschuld an dem Unfall.
Prüfer: Abgesehen davon, dass Sie zivilprozessuale Termini wie „unstreitig“ nicht auf strafrechtliche Sachverhalte anwenden sollten, bin ich völlig einverstanden. Zwischenergebnis?
Kandidat: Es besteht kein Anfangsverdacht nach § 142 StGB, da sich der Beschuldigte ausschließlich der Strafverfolgung wegen einer eventuellen Trunkenheitsfahrt entziehen wollte.
Prüfer: Das ist gut vertretbar. Kommen weitere Delikte in Betracht?
Kandidat: Ja, wie gerade gesagt: Trunkenheit im Verkehr nach § 316 StGB.
Prüfer: Wie sind die tatbestandlichen Voraussetzungen?
Kandidat: Der Beschuldigte müsste im Verkehr ein Fahrzeug geführt haben, obwohl er infolge Alkoholgenusses nicht in der Lage war, das Fahrzeug sicher zu führen.
Prüfer: Richtig. Sehen Sie insoweit einen Anfangsverdacht?
Kandidat: Das denke ich schon. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Beschuldigte alkoholbedingt fahruntüchtig war.
Prüfer: Den Begriff der Fahruntüchtigkeit müssen wir allerdings etwas konkreter herausarbeiten.
Kandidat: Man unterscheidet zwischen absoluter und relativer Fahruntüchtigkeit. Absolute liegt bei einer Blutalkoholkonzentration ab 1,1 Promille zur Tatzeit vor. Ab diesem Wert wird die Fahruntüchtigkeit unwiderleglich vermutet.
Prüfer: Das ist richtig. Wobei das Gesetz den Begriff der Fahruntüchtigkeit gar nicht kennt, sondern davon spricht, dass der Täter nicht in der Lage ist, ein Fahrzeug sicher zu führen. Können wir in unserem Fall zu absoluter Fahruntüchtigkeit kommen?
Kandidat: Nein, festgestellt wurden laut Blutalkoholgutachten ja nur 0,4 Promille zur Tatzeit. Aber in Betracht kommt relative Fahruntüchtigkeit.
Prüfer: Was ist darunter zu verstehen?
Kandidat: Relative Fahruntüchtigkeit verlangt 0,3 Promille und eine alkoholbedingte Ausfallerscheinung. Dabei gilt: Je weiter die BAK von der 1,1-Promille-Grenze entfernt ist, umso größer muss das Gewicht der Ausfallerscheinung sein.
Prüfer: Sehr schön! Bitte subsumieren Sie!
Kandidat: Die festgestellten 0,4 Promille zur Tatzeit liegen oberhalb der 0,3-Promille-Grenze, und der Auffahrunfall an der roten Ampel ist typisch alkoholbedingter Fahrfehler. Also liegt relative Fahruntüchtigkeit vor. Hinsichtlich der Trunkenheit im Verkehr liegt damit ein Anfangsverdacht vor, aber auch ein hinreichender Tatverdacht.
Prüfer: Soweit einverstanden, wenn Sie auch zum subjektiven Tatbestand noch nichts gesagt haben. Das stellen wir auch noch kurz zurück, weil vielleicht noch ein weiterer Tatbestand in Betracht kommt.
Kandidat: Es könnte auch eine Straßenverkehrsgefährdung nach § 315c Abs. 1 Nr. 1a StGB vorliegen. Das Delikt baut sozusagen auf § 316 StGB auf und verlangt außerdem noch eine Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert.
Prüfer: Wie muss diese Gefährdung beschaffen sein?
Kandidat: Sie muss konkret sein. Ein Beinahe-Unfall.
Prüfer: Genau. Es handelt sich um ein sogenanntes konkretes Gefährdungsdelikt. Was meinen Sie bezogen auf den Fall?
Kandidat: Konkret wäre die Gefährdung auf jeden Fall, sie hat sich ja sogar in einem Unfall verwirklicht. Aber bei dem Tatbestandsmerkmal „Leib und Leben eines anderen Menschen“ habe ich Zweifel. So ein Rettungswagen ist ja wie ein kleiner Lkw; ich weiß nicht, ob die Leute im Führerhaus bei einem Auffahrunfall verletzt werden können. Es kommt vielleicht auch auf die Geschwindigkeit des Auffahrenden an, und da ich die nicht kenne, würde ich in dubio pro reo einen hinreichenden Tatverdacht verneinen.
Prüfer: Das könnte man sicherlich auch anders entscheiden, denken Sie nur an ein Schleudertrauma. Aber mit Ihrer Begründung halte ich Ihr Ergebnis für durchaus vertretbar. Aber sie sprachen vom „In-dubio-Satz“. Gilt denn der für die Staatsanwaltschaft überhaupt?
Kandidat: Nicht direkt, aber mittelbar. Die Staatsanwaltschaft muss ja bei der Prüfung des hinreichenden Tatverdachts eine Prognose bezogen auf die Hauptverhandlung anstellen, nämlich dahin, ob eine Verurteilung wahrscheinlicher ist als ein Freispruch. Wenn abzusehen ist, dass das Gericht in einer gedachten Hauptverhandlung den Zweifelssatz anwenden wird, muss die Staatsanwaltschaft das bei der Prognose berücksichtigen.
Prüfer: Sehr schön. Wie sieht es mit der Gefährdung fremder Sachen von bedeutendem Wert aus?
Kandidat: Das ist ebenfalls problematisch. Ich kenne ja die Höhe des Schadens nicht. Die Rechtsprechung geht wohl von einer Wertgrenze von etwa 1 300 € aus.
Prüfer: Das ist eigentlich die Wertgrenze des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB, die für die Entziehung der Fahrerlaubnis bei Unfallflucht maßgeblich ist. Das OLG Frankfurt hat diese Grenze übrigens auf 1 600 € heraufgesetzt. Der BGH zieht bei § 315c StGB die Grenze allerdings bei 750 €. Aber kommt es überhaupt auf den konkret eingetretenen Schaden an?
Kandidat: Nein, es kommt auf die Gefährdung an.
Prüfer: Richtig. Wie gehen Sie methodisch vor?
Kandidat: Man braucht zunächst eine Sache von bedeutendem Wert. Der Rettungswagen dürfte sicherlich einen mindestens fünfstelligen Wert haben. Und im zweiten Schritt muss festgestellt werden, dass ein Schaden von 750 € zumindest konkret drohte, was auch dann der Fall sein kann, wenn tatsächlich kein oder nur ein geringer Schaden eingetreten ist. Ein Auffahrunfall, bei dem es laut den Zeugen einen mächtigen Knall gegeben hat, also mehr als ein bloßes Anstoßen, dürfte jedenfalls einen Schaden von mehr als 750 € verursacht haben.
Prüfer: Das sehe ich auch so, und davon wollen wir ausgehen. Letztlich fehlen hier konkrete Zahlen. Wie lautet Ihr Ergebnis?
Kandidat: Dass sich der Beschuldigte einer Straßenverkehrsgefährdung nach § 315c Abs. 1 Nr. 1a StGB hinreichend verdächtig gemacht hat.
Prüfer: Jetzt kommen wir, wie angekündigt, aber noch zu inneren Tatseite. Bei § 315c Abs. 1 Nr. 1 StGB handelt es sich um ein reines Vorsatzdelikt, wie sich aus § 15 StGB ergibt. Der Beschuldigte müsste also doppelten Vorsatz gehabt haben: Einmal im Hinblick auf seine Fahruntüchtigkeit, zum zweiten bezogen auf die Gefährdung.
Kandidat: Die Gefährdung wird er kaum vorsätzlich verursacht haben. Aber nach Abs. 3 Nr. 1 gibt es insoweit auch eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit. Eine Sorgfaltspflichtverletzung wird unproblematisch gegeben sein.
Prüfer: Richtig. Dann müssten Sie dem Beschuldigten aber noch nachweisen, dass ihm seine Fahruntüchtigkeit bewusst war.
Kandidat: Das ist nicht schwer. Er hat doch selbst gesagt, dass er keine Polizei dabei haben will, weil er getrunken hat.
Prüfer: Vorsicht, Sie machen gerade einen Denkfehler. In welchem Zeitpunkt muss der Vorsatz vorliegen?
Kandidat: Ach ja. Im Zeitpunkt der Tathandlung. Das ergibt sich aus § 16 Abs. 1 S. 1 in Verbindung mit § 8 StGB.
Prüfer: Genau. Und werden Sie das aufgrund dieser Äußerung nachweisen können?
Kandidat: Ich werde wohl zugunsten des Beschuldigten davon ausgehen müssen, dass er sich während der Fahrt noch fahrtüchtig gefühlt hat und ihm erst durch den Unfall klar wurde, dass er es nicht mehr war.
Prüfer: Das ist überzeugend. Scheitert der Tatbestand damit?
Kandidat: Nein, es gibt noch die Fahrlässigkeits-Fahrlässigkeits-Kombination des § 315c Abs. 3 Nr. 2 StGB. Danach ist auch strafbar, wer fahrlässig handelt und die Gefahr fahrlässig verursacht. Zumindest insoweit sehe ich einen hinreichenden Tatverdacht als gegeben.
Prüfer: Sehr schön. Wie sieht das Konkurrenzverhältnis zwischen § 315c und § 316 StGB aus?
Kandidat: § 316 StGB tritt zurück, denn er ist in § 315c Abs. 1 Nr. 1a StGB enthalten.
Prüfer: Ja. Wäre noch ein Delikt zu prüfen?
Kandidat: Ich sehe im Moment keines.
Prüfer: Dann denken Sie daran, dass der Beschuldigte seine Fahrt nach dem Unfall fortgesetzt hat.
Kandidat: Ah ja. Das könnte eine neue Straftat darstellen, da der Unfall eine Zäsur gebildet hat. Der Beschuldigte ist ausgestiegen und hat mit der Weiterfahrt einen neuen Entschluss gefasst.
Prüfer: Und welche Straftat prüfen Sie?
Kandidat: Jetzt kommt nur noch § 316 StGB in Betracht, weil bei der zweiten Fahrt keine Gefährdung mehr stattfand.
Prüfer: Gut. In welcher Schuldform?
Kandidat: Hier kann man nun die Äußerung des Beschuldigten gegenüber den Zeugen, er habe Alkohol getrunken, heranziehen; außerdem müsste ihm die Tatsache, dass er einen Unfall verursacht hat, seine Fahruntüchtigkeit klar gemacht haben. Bei dem erneuten Fahrtantritt dürfte er damit vorsätzlich gehandelt haben.
Prüfer: So sieht es in der Regel auch die Praxis. Wie lautet also das Ergebnis unseres Falles?
Kandidat: Der Beschuldigte hat sich einer fahrlässigen Straßenverkehrsgefährdung nach § 315c Abs. 1 Nr. 1a, Abs. 3 Nr. 2 und einer vorsätzlichen Trunkenheitsfahrt nach § 316 Abs. 1 StGB hinreichend verdächtig gemacht. Beide Delikte stehen zueinander in Tatmehrheit, da ein neuer Tatentschluss vorliegt. Ein Verdacht nach § 142 StGB besteht nicht.
Prüfer: Ein sehr gut vertretbares Ergebnis. Wie verfahren Sie nun prozessual?
Kandidat: Ich würde wegen beider Delikte Anklage erheben.
Prüfer: Zu welchem Gericht?
Kandidat: Da bei einem nicht vorbestraften Beschuldigten nur eine Geldstrafe in Betracht kommen wird und es sich um ein Vergehen handelt, zum Strafrichter, § 25 Nr. 2 GVG.
Prüfer: Das ist nicht ganz richtig; Sie haben etwas übersehen. Denken Sie an das Alter des Beschuldigten.
Kandidat: Er ist 20 Jahre alt, also Heranwachsender. Damit unterfällt er noch dem Jugendgerichtsgesetz. Ich müsste also schauen, ob dort eine abweichende Gerichtszuständigkeit geregelt ist.
Prüfer: So ist es. Wo sehen Sie nach?
Kandidat: In § 108 Abs. 1 JGG ist geregelt, dass die Zuständigkeit der Jugendgerichte auch für Heranwachsende gilt, und Abs. 2 stellt klar, dass das selbst dann gilt, wenn die Anwendung materiellen Erwachsenenstrafrechts zu erwarten ist.
Prüfer: Gut. Das wird oft falsch gemacht. Bei der Frage der Gerichtszuständigkeit kommt es also auf ein Reifedefizit oder eine jugendtypische Verfehlung wie bei § 105 JGG überhaupt nicht an. Von ganz wenigen hier nicht interessierenden Ausnahmen abgesehen, sind Heranwachsende immer zu den Jugendgerichten anzuklagen.
Kandidat: Dann erhebe ich also Anklage zum Jugendrichter. Die örtliche Zuständigkeit richtet sich bei Jugendlichen und Heranwachsenden vorrangig nach dem Wohnort, § 42 Abs. 1 Nr. 2 JGG.
Prüfer: Sehr schön. Fehlt noch etwas?
Kandidat: Ich wüsste nicht.
Prüfer: Dann denken Sie einmal daran, dass unser Beschuldigter ständig weiter Auto fährt. Sollte das bei diesen Delikten sein?
Kandidat: Nein, §§ 315c, 316 StGB sind Katalogtaten nach § 69 Abs. 2 StGB, die regelmäßig die Entziehung der Fahrerlaubnis zur Folge haben. Diese Maßregel kann aber erst in der Hauptverhandlung mit dem Urteil angeordnet werden.
Prüfer: Völlig korrekt. Und bis dahin lassen wir unseren Beschuldigten weiterfahren?
Kandidat: Es gibt die Möglichkeit der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO, wenn dringende Gründe dafür bestehen, dass sie endgültig entzogen werden wird.
Prüfer: Richtig. § 111a StPO fordert also einen erhöhten Verdachtsgrad über den hinreichenden Tatverdacht hinaus.
Kandidat: Den dringenden Tatverdacht, wie beim Haftbefehl. Dazu muss aufgrund verwertbarer Beweise die Wahrscheinlichkeit groß sein, dass der Beschuldigte Täter oder Teilnehmer einer verfolgbaren Straftat ist bzw. hier dass eine endgültige Entziehung der Fahrerlaubnis durch Urteil erfolgen wird.
Prüfer: Genau. Bejahen Sie ihn in unserem Fall?
Kandidat: Angesichts der Beweislage, insbesondere des Blutalkoholgutachtens und der Einlassung des Beschuldigten, der die Fahrereigenschaft eingeräumt hat, ist es hoch wahrscheinlich, dass dem Beschuldigten die genannten Delikte in der Hauptverhandlung nachgewiesen und ihm im Urteil die Fahrerlaubnis entzogen werden wird. Für letzteres spricht insbesondere, dass eben ein Regelbeispiel des § 69 Abs. 2 StGB greift und ein diese Regelwirkung entkräftendes Moment nicht ersichtlich ist.
Prüfer: Sehr schön! Was bedeutet das für Ihre staatsanwaltliche Abschlussverfügung?
Kandidat: Zugleich mit Anklageerhebung beantrage ich, dem Beschuldigten die Fahrerlaubnis vorläufig nach § 111a StPO zu entziehen.
Prüfer: Richtig. Damit beenden wir den Fall. Vielen Dank.

Auf einen Blick

Prägen Sie sich die Verdachtsgrade (von unten nach oben) ein:
Der Anfangsverdacht (§ 152 Abs. 2 StPO) berechtigt und verpflichtet die Staatsanwaltschaft, in strafprozessuale Ermittlungen einzutreten.
Der hinreichende Tatverdacht (§ 170 Abs. 1 StPO) bezeichnet die Schwelle zur Anklageerhebung.
Dringender Tatverdacht ist insbesondere für die Anordnung der Untersuchungshaft (§ 112 StPO) und die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 111a StPO) erforderlich). Der Begriff spielt im Rahmen der Vermögensabschöpfung auch bei vorläufigen Maßnahmen nach §§ 111b, 111e StPO eine Rolle. Letzteres dürfte aber kaum prüfungsrelevant sein.
Ab einer Blutalkoholkonzentration von 1,1 Promille wird die Fahruntüchtigkeit i.S.d. §§ 315c, 316 StGB unwiderleglich vermutet (absolute Fahruntüchtigkeit). Dabei kommt es auf die Tatzeit, nicht auf die Entnahmezeit an. Wenn Sie vom Entnahmewert auf den Tatzeitwert zurückrechnen müssen, bedenken Sie bitte, dass (außer im Fall des Nachtrunks) der Tatzeitwert niemals niedriger sein kann als der Entnahmewert. Erstaunlicherweise ein häufiger Fehler!
Bei Blutalkoholkonzentrationen zwischen 0,3 und 1,1 Promille spricht man von relativer Fahruntüchtigkeit. Hier müssen weitere Merkmale hinzutreten, die die Kausalität zwischen Alkoholisierung und Fahruntüchtigkeit belegen, zum Beispiel Fahrfehler. Kurz: 0,3 Promille plus alkoholbedingte Ausfallerscheinung.
§ 315c StGB verlangt als konkretes Gefährdungsdelikt eine konkrete Gefahrensituation (Unfall oder „Beinahe-Unfall“).
Nach der Rechtsprechung gelten für den „bedeutenden Schaden“ i.S.d. § 69 Abs. 3 Nr. 3 StGB und die „Sache von bedeutendem Wert“ i.S.d. § 315c StGB unterschiedliche Wertgrenzen: dort 1 300 bis 1 600 €, hier 750 €.
Der Rechtssatz „In dubio pro reo“ gilt für die Staatsanwaltschaft im Rahmen der Prognoseentscheidung (nur) mittelbar.
Bei Heranwachsenden gilt für die Gerichtszuständigkeit § 108, nicht § 105 JGG – es kommt hier also nicht auf Reifedefizite oder jugendtypische Verfehlungen an.

Zur Vertiefung

Fahrlässigkeitsdelikte: Wessels/Beulke/Satzger Rn. 1100 ff.
Konkurrenzen: Wessels/Beulke/Satzger Rn. 1237 ff.
§§ 315c, 316 StGB: Wessels/Hettinger/Engländer Rn. 991 ff. Küper/Zopfs Gefahr, konkrete
Ermittlung der Blutalkoholkonzentration: Haller/Conzen Rn. 683 ff.
§ 142 StGB: Wessels/Hettinger/Engländer Rn. 1013 ff. Küper/Zopfs Unfallort, Sich-Entfernen vom Küper/Zopfs Unfall im Straßenverkehr Küper/Zopfs Unfallbeteiligter
Verdachtsgrade: Haller/Conzen Rn. 120, 194, 1161 ff. Beulke/Swoboda Rn. 175 ff. Tofahrn Rn. 14 ff. 116
Gerichtszuständigkeit: Haller/Conzen Rn. 210 ff. Beulke/Swoboda Rn. 71 ff. Tofahrn Rn. 45 ff. Streng Rn. 90 ff.
Vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis: Haller/Conzen Rn. 1251 ff. Charchulla/Welzel Rn. 39 ff.
Die mündliche Strafrechtsprüfung im Assessorexamen

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