Читать книгу Frei sollst du sein – Take your time - Gerti Gabelt - Страница 9

WEG INS UNGEWISSE

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In den letzten Stunden hatte Ana Sue erfahren, dass es noch andere Menschen gibt. Nicht nur die Besucher, die sie bisher kannte. Sie muss schnell handeln bevor der Inhaber sie vermisst, muss sie weg sein. Am besten untertauchen im Nirgendwo.

Einer inneren Intuition folgend geht sie zum Hafen, sieht die großen Schiffe. Ralf hatte gesagt, sein Kahn würde hier im Hafen liegen. Aber wie sollte sie unter den unzähligen Schiffen dieses besondere Schiff finden? Zumal sie nicht einmal den Namen weiß. Zum ersten Mal hier am Hafen fühlt sie sich klein und verlassen. Sie setzt sich auf die große Treppe, die zu den Anlegestellen führt. Hier will sie auf Ralf warten. Sie wird ihn sofort erkennen – sollte er denn kommen - ‥

Stunden vergehen. Es ist dunkel geworden. Sie fragt einen der Hafenarbeiter, ob er weiß, wann das nächste Schiff ablegt.

„Heute gegen Mittag ist der letzte Kahn rausgefahren. Kurs Cape Town glaube ich. Heute Nacht wird kein Schiff mehr ablegen. Mädchen, dein Warten ist also umsonst. Und du solltest heute Nacht nicht hierbleiben. Es ist gefährlich für eine junge Frau hier alleine.“ Er wendet sich zum Gehen. Nach kurzem Zögern dreht er sich um.

„Hast sicher keine Bleibe für die Nacht? Du kannst mit zu mir kommen.“

Ohne zu überlegen hatte er ihr eine Übernachtung bei sich angeboten.

„Meine Frau wird nichts dagegen haben, wenn ich ihr sage, dass du „sozusagen Treibgut“ bist. Nichts für ungut. Ich meine es nicht böse. War nur so eine unüberlegte Bemerkung.“

Er wartet auf ihre Antwort.

Ana-Sue hat keine Möglichkeit, wenn sie nicht hier im Freien und in der unsicheren Hafengegend übernachten will, dann muss sie das Angebot annehmen.

„Ja, ich komme mit.“

„Gut, dann lass uns gehen.“

So geht Ana-Sue mit in ein fremdes Haus zu fremden Menschen. Ihre Angst erzeugt ein ungutes Gefühl im Bauch. Ob das mit seiner Frau wirklich stimmt? Oder wollte er sie lediglich zu einer Zusage bewegen? Na, sie könnte ja immer noch gehen. Könnte sie das wirklich? Wenn sie erst einmal in seiner Wohnung war?

„Hinter der nächsten Straßenkreuzung ist es nicht mehr weit. Nur noch wenige Minuten. Hier ist ein Supermarkt. Wenn du etwas Bestimmtes zum Essen kaufen willst? Bei mir gibt es nur Brot am Abend. Und eine Banane dürfte auch noch für dich da sein.“

Ana-Sue schaut ihn unsicher von der Seite an. Gibt es sie wirklich - seine Frau? Dann hätte er doch sicher gesagt bei uns…

„Willst du nun etwas kaufen oder nicht?“

„Nein danke, ich habe keinen Hunger.“

Nun stehen sie vor seiner Wohnungstür. Er schließt die Türe auf.

„Komm, hier ist mein Zuhause.“

Zögernd folgt sie. Sie weiß nicht einmal seinen Namen, geht mit einem „fremden Mann“ in ein fremdes Haus. Aber sie kann es sich nicht leisten wählerisch zu sein.

Zögernd folgt sie ihm. Der Korridor ist schwach beleuchteten, fast dunkel. Es dauert einige Sekunden bis ihre Augen sich an die Dämmerung gewöhnt haben. Ein kurzes Klopfen, dann tritt er ein.

Ana-Sue bleibt an der Haustüre stehen. Noch kann ich umkehren, geht es ihr durch den Kopf, die Haustüre im Rücken. Nur wenige Schritte trennen sie vom Ausgang.

Dann hört sie eine Frauenstimme.

„Du bist spät.“

„Ich habe Besuch mitgebracht. Eine junge Frau, die am Hafen saß und auf ein Schiff wartete, keine Bleibe hat. Sie kann auf dem Sofa schlafen, habe ich gedacht.“

Ana-Sue bleibt vor der Türe stehen.

Ich muss etwas sagen, geht es ihr durch den Kopf.

„Hallo, sorry, dass ich so ungebeten zu Ihnen komme. Ich warte auf meinen Freund, der wollte heute am Hafen sein.“

Spontan kommen die Worte aus ihrem Mund. Ohne zu überlegen, einfach so.

Die Frau schaut sie prüfend an.

„Ich bin Ana-Sue“,

mit diesen Worten streckt sie der Frau ihre Hand entgegen, die diese aber übersieht.

„Hier am Hafen warten viele auf ihren Freund.“

Sie wirkt wirklich nicht wie eine, die es auf meinen Mann abgesehen hat,

geht es ihr durch den Kopf

Dann wendet die Frau sich dem vorbereiteten Essen zu, legt noch ein Gedeck für Ana-Sue auf.

Ana Sue wendet sich zur Tür. Sie will weg, nur weg von hier. Die Frau misstraut ihr. Sie ist ein ungebetener Gast. Ana Sue kann es irgendwie verstehen. Woher soll diese Frau auch wissen, dass sie, Ana Sue, soeben ihre erste, ihre einzige, ihre große Liebe verloren hat. Sie hat die Hand an der Tür, will sie öffnen und verschwinden.

Da kommt die Frau auf sie zu,

„ich bin Mona, komm, iss’ mit uns. Du kannst heute Nacht bei uns bleiben.“

Ungläubig schaut Ana-Sue in ihre gütigen Augen.

Mona nimmt Ana-Sues Hand und führt sie zu ihrem Platz am Tisch.

„Danke.“

Es gibt Geflügel mit Reis. Ana Sue verspürt keinen Hunger. Eine unendliche Traurigkeit, die sie bisher verdrängt hat, bemächtigt sich ihrer. Tränen steigen ihr in die Augen. Ihre Stimme versagt. Bewegungslos sitzt sie am Tisch

„Sorry, es duftet köstlich. Aber ich kann nichts essen.“

Langsam löst sich die Spannung bei Ana-Sue und ihren Gastgebern.

Dann kann Ana Sue ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie laufen ihr übers Gesicht, zum Hals und tropfen auf das T-Shirt. Sie schluchzt. Kann es nicht vermeiden, dass sie bei diesen fremden Menschen von ihrem Schmerz überwältigt wird. Überwältigt von dem gestern Erlebten, von ihrem bisherigen Leben überhaupt. Was bleibt ihr? Sie steht vor einem Nichts. Hoffnungslos, verzweifelt… sie zittert am ganzen Körper.

Mona nimmt ihre Hand und führt sie zur Couch.

„Leg’ dich hin. Du bist müde und erschöpft. Schlaf erst mal. Wenn du später Hunger bekommst, steht eine Schüssel für dich in der Küche. Die kannst du dir im Mikro Ofen aufwärmen. Lass dich durch unser Essen nicht stören. Wir haben leider keinen anderen Raum. Wenn wir gegessen haben, gehen wir ins Bett. Dann kannst du schlafen.“

„Warum sind Sie so gut zu mir?“

„Frag’ nicht so etwas. – Ich kann nicht anders.“

Der Mann, sie kennt immer noch nicht seinen Namen, bringt eine Decke. Ana Sue legt sich hin. Innerhalb von wenigen Minuten ist sie eingeschlafen.

Egal, was mit mir geschieht, ich kann nicht mehr, nur noch Schlafen

Von Ralf träumen und nicht mehr aufwachen…

Am nächsten Morgen erwacht sie erst, als die Sonne schon hoch am Himmel steht. Sie schaut sich um. Allmählich kommt die Erinnerung an den gestrigen Tag zurück. Sie schaut nach ihrem kleinen Beutel, der ihre ganze Habe enthält. Sie findet die Tasche zu ihren Füßen und schaut nach, was sie in der Eile eingepackt hat. Im Bad, das sie mit ihrer Kollegin teilte, hat sie alles liegen gelassen. Nicht mal eine Haarbürste hat sie mitgenommen. Einen frischen Slip und ein zweites T- Shirt. Eine rote Hose, dann noch die Hose, die sie trägt. Das ist alles, was sie hat.

Man braucht so wenig zum Leben

Das waren die Worte ihrer Mutter, bevor sie ihr Zuhause verlassen hatte.

Sie schaut sich um. Niemand ist in der Nähe. Es ist ganz ruhig hier. Auf dem Tisch findet sie ein Gedeck, zwei Scheiben Brot, Butter und etwas Marmelade.

Sie geht in die Küche. Hier steht eine Kanne mit einem Teebeutel. Sie beschließt, zu frühstücken, und dann wird sie das Haus verlassen.

Aber zuerst brüht sie Tee auf. Sie muss etwas essen bevor sie geht. Weiß sie doch nicht, wann sie heute noch einmal etwas zu essen bekommt.

Eine Nacht kannst du bleiben, hatte die Frau gesagt.

Die Nacht ist vorbei. Während des Frühstücks überlegt sie, was sie nun machen soll. Wieder zurück in das Etablissement? Nein!

Aber wohin?

Noch während sie ihr Brot isst, hört sie, dass die Haustüre geöffnet wird.

Hoffentlich ist es nicht der Mann.

Dann steht die Frau vor ihr, die ihr gestern eine Übernachtung angeboten hatte.

„Hast du gut geschlafen? Das Frühstück hast du gefunden, gut.“

Mit diesen Worten geht Mona zur Garderobe und hängt ihre Jacke auf. Dann setzt sie sich zu Ana Sue an den Tisch.

Sie steht noch einmal auf und holt sich eine Tasse. Ana Sue gießt Tee in Monas Tasse.

„Wo willst du hingehen?“

Kurz und knapp, fast unfreundlich, aber auch ein wenig besorgt, klingt die Stimme der Frau, die gesagt hat, dass sie Mona heißt.

„Danke für alles. Ich weiß noch nicht genau, wohin ich gehe. Aber danke, dass ich die Nacht hier sein konnte.“

Mona schaut das Mädchen lange an. Dann geht sie ohne ein Wort zu sagen in die Küche.

Ana Sue will weg. Hier gehört sie nicht hin. Sie gehört nirgends hin. Zu niemandem. Sie hat kein Zuhause. In dieser Stadt kennt sie niemanden.

Sie muss Geld verdienen, also Arbeit suchen. Sie räumt den Tisch ab, bringt das Geschirr in die Küche, kehrt zurück und packt ihren kleinen Beutel.

„Ana-Sue, so heißt du doch. Geh’ ins Bad, ich habe die ein paar Sachen zurechtgelegt. Du kannst duschen und alles was du brauchst, kannst du mitnehmen.“

Ana-Sue schaut verwundert zu Mona.

„Komm schon“, mit diesen Worten nimmt Mona ihre Hand und bringt sie ins Bad. Der Ton verrät, dass Mona keine Antwort und schon gar keinen Widerspruch erwarten oder dulden würde.

Als Ana-Sue erfrischt aus dem Bad kommt, gibt Mona ihr den kleinen Beutel. Eine Flasche Wasser und eine Banane als kleinen Imbiss für den Tag, hat sie für Ana Sue in den Beutel gelegt.

„Wenn du heute keine Bleibe hast, kannst du hierherkommen“, mit diesen Worten verabschiedet Mona ihren Gast.

Sie sieht so verloren aus. Ich hoffe, sie kommt heute Abend wieder.

Mona schüttelt den Kopf, um ihre unwirschen Gedanken zu vertreiben.

Was ist nur los mit mir? Erst gestern kam dieses fremde Mädchen zu uns und heute vermisse ich es schon.

Ana-Sue steht auf der Straße.

Nun bin ich frei, frei wie ein Vogel. Die Welt steht mir offen. Aber wo ist die Türe, die in die Welt führt? Was ist es für eine Welt?

Eins weiß sie. Wenn sie heute am ersten Tag ihrer Suche nichts findet, dann ist diese Türe hier offen für sie. Aber sie will nicht von Almosen leben. Sie muss es alleine schaffen.

Frei sollst du sein – Take your time

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