Читать книгу In seinem mörderischen Element - Gerwalt - Страница 7

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Wasser

Er liebt die Schönheit an sich. Er liebt sie in allen ihren Ausprägungen, sei es in Form einer besonders schönen Landschaft, eines Gartens beispielsweise oder einer besonders schönen Stelle in der Natur, sei es in Form von Gebäuden, Skulpturen, Statuen oder Gemälden. Und natürlich liebt er die Schönheit ganz besonders in ihrer allerflüchtigsten Form: in der Gestalt einer Frau.

Nun ist es sicherlich nicht außergewöhnlich, das Schöne zu lieben; nahezu jeder schätzt das Schöne und wendet sich vom Hässlichen ab. Vielleicht ist es also mehr der Grad Seines Begehrens, der Ihn außergewöhnlich macht, vielleicht ist es die wilde, hemmungslose Gier, die ihn immer und immer vorwärts treibt.

Und natürlich ist es das Leid, welches ihm seine weitgehend unbefriedigte Liebe zur Schönheit tagtäglich bereitet. Wäre er Gott oder wäre er zumindest ein mächtiger Herrscher, er hätte vielleicht glücklich sein können in seiner Existenz. Er wäre trunken gewesen vor Glück, hätte sich alltäglich berauscht am Schönen; alles hätte er besessen und ausgekostet bis zur Neige, alles, alles …

Indessen, er ist es nicht. Er ist nicht einmal bedeutend, nicht auf die althergebrachte Art. Und so ist er beschränkt, ach, so jämmerlich beschränkt ist er in seinen Möglichkeiten.

Und auch wieder nicht.

Er hat gehadert, er hat gekämpft, er hat versucht zu verdrängen, lange Jahre tat er das. Und hat dabei gelitten wie ein Hund. Seine Hoffnung, durch Gewohnheiten, durch einen festen Tagesrhythmus, durch die Beschäftigung mit anderen Dingen seinen inneren Frieden oder zumindest so etwas wie Normalität zu finden, ist kläglich gescheitert, ja dieser Versuch hat ihn letztlich in eine tiefe Krise gestürzt, die ihn fast das Leben gekostet hätte.

Er lehnt sich in seinem Faltstuhl zurück und zündet sich eine Zigarre an. Es ist schneidend kalt, aber seine Wanderstiefel sind warm genug, auch die Jacke und die Thermohose isolieren die Kälte gut. Er hat sich eben umgezogen. Die neue Kleidung ist trocken und wärmt ihn wieder auf. Die beiden Fackeln, links und rechts neben dem Gumpen in den Schnee gerammt, tauchen den Wasserfall in ein mildes, flackerndes Licht, bringen die Eiszapfen, welche am Rande des Wasserlaufs von den Felsen herunterhängen, zum Funkeln und Glitzern, als wären es riesige Diamanten. Die Stämme der Bäume sind fast schwarz, die kahlen Zweige mit ihren immer filigraner werdenden Verästelungen bilden hoch über seinem Kopf ein gitterartiges Gewölbe. Er sieht nach oben, und da die Nacht klar ist, kann er einige Sterne erkennen. Zwischen den Bäumen stehen Stechpalmen, deren Blätter im Fackelschein von einem intensiven, von der Kälte unberührten Grün sind.

Die Zigarre ist gut, sie brennt jetzt richtig, die würzigen Schwaden ihres Rauches hüllen ihn ein. Er seufzt.

Ja, die Krise … Sie hatte ihn an den Rand der Auslöschung geführt, und so ist er schließlich gezwungen gewesen, eine Entscheidung zu treffen. Für seinen Tod oder für das Leben. Für ein Leben auf seine ureigene und ihm vorbestimmte Art. Er hat sich für letzteres entschieden.

Nachdem er auf diese Weise Klarheit erreicht hat, ist er, mit neuen Freiheitsgraden und Möglichkeiten ausgestattet, noch einmal in sich gegangen, hat erneut versucht, das Wesen der Schönheit zu ergründen, oder genauer: einen Weg zu finden, wie er sich der Schönheit befriedigend annähern könnte.

Wichtig für ihn ist, so hat er schließlich durch intensives Nachdenken herausgefunden, den AUGENBLICK zu erfassen, ihn auszuschöpfen und schließlich zu konservieren. Er hat verstanden und auch akzeptiert, dass er niemals in der Lage sein würde, Schönheit physisch zu sammeln, anzuhäufen, dazu waren seine Ressourcen viel zu knapp. Er muss sich also beschränken. Beschränken auf den einen, den entscheidenden Moment.

Er nimmt einen bedächtigen Zug, die Glut schwillt sacht an, der Rauch strömt in seinen Mund. Die Zigarre ist ein Gedicht, mild und gehaltvoll zugleich. Langsam bläst er den Rauch wieder hinaus. Die Luft ist kalt und klar, sie verstärkt den Geschmack des Tabaks. Er nimmt einen weiteren Zug.

Nein, das ist falsch. Es ist weit mehr als nur der eine Moment, es ist, genauer betrachtet, ein ganzer Zyklus: Zuerst entdeckt er die Schönheit. Dann, wenn er entschieden hat, dass sie seiner würdig ist, erarbeitet er sie sich Stück für Stück.

Wie bei Susanne. Sie war ihm aufgefallen, als er im Fremdenverkehrsamt eine Wanderkarte kaufen wollte. Susanne war eindeutig ein Kind der Region, mit dunkelbraunen, fast schwarzen Haaren und blauen Augen. Das Dirndl, das sie getragen hatte, verstärkte den landestypischen Eindruck natürlich, wäre aber keinesfalls nötig gewesen, zumindest nicht mehr ab dem Zeitpunkt, an dem sie gesprochen hatte, mit einer weichen Stimme und einem sehr angenehmen Schwarzwälder Dialekt. Susanne klang nicht gekünstelt oder betonte ihren Dialekt, im Gegenteil, sie sprach quasi im Naturzustand, genau so, wie sie vermutlich schon seit ihrer Kindheit gesprochen hatte, und ihre Sprachmelodie fuhr ihm wohlig durch Mark und Bein. Natürlich hatte er sie nicht etwa direkt angesprochen, zumindest nicht über den Kauf der Landkarte hinausgehend. Aber er hatte nach und nach alles über sie in Erfahrung gebracht, was in seiner Macht lag herauszufinden: Wo Susanne wohnte, wie sie lebte, was sie in ihrer Freizeit unternahm. Was ihre Vorlieben und Abneigungen waren, beispielsweise dass sie regelmäßig Sport trieb; sie war Mountainbikerin, wenn auch keine herausragende. Natürlich interessierte sie sich für Heimatkunde, bei ihrer Arbeitsstelle war das schließlich kein Wunder, und sie war Mitglied in einer regionalen Trachtengruppe; er hatte dann tatsächlich einmal eine diesbezügliche Veranstaltung besucht, um sie in der vollen Tracht zu sehen.

Der nächste Schritt im Zyklus, der konkrete Teil der Annäherung an die Schönheit nach einer weiteren, eingehenden Prüfung und positiver Entscheidung, ist naturgemäß eine große und aufregende Steigerung.

Er lässt sich hier so viel Zeit, als ihm nur immer möglich ist, ohne das Gesamtwerk zu gefährden. Er kostet dann alles aus, auch und gerade das Körperliche, das Intime, die sexuelle Lust.

Wenn es dann irgendwann soweit ist, gibt es früher oder später das unweigerliche Finale, den AUGENBLICK. Hier bietet er alles auf, was in seiner Macht steht, sein ganzes kompositorisches Können, sein Wissen, seine Ortskenntnis, sein Stilempfinden.

So wie jetzt gerade. Er hat seinen Feldstuhl am Rande der Gertelsbacher Wasserfälle aufgestellt. Es ist Nacht, es ist Winter, und der Weg zu dem etwas abseits liegenden Naturdenkmal ist vereist und gefährlich. Mit einer Störung ist also nicht zu rechnen. Die Wasserfälle sind eine längere Strecke von riesigen, übereinander getürmten Felsblöcken, über die ein Wasserlauf, nicht größer als ein Bach, zu Tal fließt. An mehreren Stellen stürzt das Wasser in Kaskaden einige Meter hinab und sammelt sich in kleineren Felsbecken, den so genannten Gumpen.

Er hat eine Kaskade ausgewählt, die nicht direkt in das Becken stürzt, sondern zuerst gegen eine Steinplatte prasselt. Bis auf die Stelle, wo das Wasser direkt auftrifft, ist der Fels mit einer Eisschicht überzogen, welche im Schein der beiden Fackeln funkelt und glitzert.

Mitten im eiskalten Wasserstrahl steht Susanne und stirbt gerade. Ihre Arme sind waagrecht ausgebreitet, an eine Stange gefesselt, welche auf ihren Schultern liegt und deren Enden er vorhin an den Felswänden fest gedübelt hat. Damit Susannes nackter Körper die gewünschte Kreuzform beibehält, hat er ihr die Fußknöchel und Knie eng zusammengeschnürt. Er sieht die gefesselte Frau aufmerksam an. Ihre Haut wirkt inmitten des herunterströmenden Wassers sehr hell. Das nasse Haar hängt bis zu den Ansätzen ihrer Brüste herunter. Letztere sind halbrund, nicht sehr groß und haben auffallend dunkle Warzen. Susanne ist zwar schlank, doch kräftig genug, dem harten Leben im Schwarzwald Genüge tun zu können, ihre Familie lebt schließlich schon seit Generationen dort. Ihr Becken ist breit, das gekräuselte Vlies an ihrem Schritt schimmert dunkel im herunter rinnenden Wasser. Sie hätte heiraten können, Kinder gebären, ein erfülltes Leben führen, doch jetzt stirbt sie.

Anfänglich hat sich Susanne trotz der eingeschränkten Bewegungsfreiheit gewunden, dann immerhin noch sichtbar gezittert, aber jetzt steht sie ganz still. Die Kälte verrichtet ihren barmherzigen Dienst. Der Strick, welcher Susannes Knöchel umschlingt, ist bereits mit einer dünnen Eisschicht bedeckt, die sich fast unmerklich auch über ihre Schienbeine auszubreiten scheint.

Wieder seufzt der Mann.

Der ultimative Moment der Schönheit ist jener, in dem sie unwiederbringlich zerstört wird.

*****

NAOMI GERBER stand vor dem Spiegel und betrachtete sich kritisch. Sie war Anfang dreißig, arbeitete als Journalistin für eine Stuttgarter Tageszeitung, und vor etwa einem halben Jahr hatte sie die Kleidergröße 42 wohl endgültig hinter sich gelassen. Seither schaute sie öfters in den Spiegel, wie sie sagte, um Schlimmeres zu verhindern.

Naomi seufzte, dann griff sie mit den Handflächen unter ihre Brüste und hob sie prüfend etwas an. Sie drehte sich ein paar Grad zur Seite, betrachtete kritisch das Spiegelbild ihres Halbprofils und lächelte probehalber.

Es geht so, dachte sie. Wirklich zufrieden war sie nicht mit dem, was sie sah.

Ihre Schenkel waren eine Spur oder inzwischen leider auch schon mehr als eine Spur zu voll. Ihr Bauch wölbte sich wahrnehmbar, was man möglicherweise gerade noch als sinnliche Kurve deklarieren konnte, und ihr Hintern … nun ja. Der war zwar straff, aber durchaus als prall zu bezeichnen. Doch gelobt sei der Schöpfer: Über der problematischen Kurve ihres Bauches rundeten sich zwei gut proportionierte Brüste in D-Größe, die ganz offensichtlich von der Problemzone unter ihnen abzulenken wussten.

Naomi nahm die Haarbürste in die Hand und kämmte sich, immer noch vor dem großen Spiegel stehend.

Mein Gott, warum mache ich mir eigentlich Gedanken um mein Aussehen?, dachte sie frustriert. Für die Männer, die gerade im Angebot sind, lohnt es sich nicht wirklich, Verrenkungen zu machen.

So beendete sie also ihre morgendliche Musterung und zog sich an, ein weites Top, welches von ihren Brüsten so weit nach vorne ausgebeult wurde, dass man den Bauch nicht sehen konnte, und enge Jeans. Nach Naomis Beobachtung war das die für sie vorteilhafteste Kombination, von einem eng anliegenden Kleid vielleicht abgesehen, aber das würde sie niemals anziehen, wenn sie in die Redaktion ging. Und die praktischen Treckinghosen mit den vielen Taschen trug sie nur in der Freizeit.

Naomis nicht sehr gemütliche Wohnung lag in Wangen, einem östlichen Stadtteil von Stuttgart, die Redaktion hingegen leider in Stuttgart-West, also auf der entgegengesetzten Seite der Stadt. So machte sie sich seufzend auf, das allmorgendliche Verkehrschaos zu meistern. Ihr alter Ford Ka war schon längst jenseits von Gut und Böse, sie selbst hatte im dichten Verkehr also nicht allzu viel zu verlieren, aber sie wunderte sich täglich, mit welcher verbissenen und unerschrockenen Sturheit der Auto fahrende Schwabe es sich nicht nehmen ließ, mit der aufpolierten E-Klasse auf seinem zumindest gefühlten Recht nach Vorfahrt zu beharren …

Sie benötigte heute fast eine Stunde, bis sie die Stadt durchquert hatte, wegen einiger Baustellen dauerte die Fahrt noch länger als gewöhnlich, und ihre Laune war auf dem Nullpunkt, als sie die Redaktion schließlich erreichte.

Ich sollte endlich eine richtig böse Kolumne über den schwäbischen Autofahrer mit Hut schreiben, dachte sie gallig, aber sie wusste, dass die Zeitung so etwas niemals abdrucken würde …

Wie jeden Tag ging sie durch den Flur in das Gemeinschaftsbüro und setzte sich an ihren Schreibtisch, ein ziemlich altes Modell, noch aus Blech. Sie schaltete den Computer ein und breitete, während er sich aufbaute, die Post auf der Tischplatte aus, um sie nach Dringlichkeit zu ordnen. Dann, mit einem Mal, hielt sie ein und hob den Blick.

Jesus, dachte sie, habe ich das hier wirklich gewollt?

Gerd Wolter von der Sportredaktion saß ihr schräg gegenüber und nickte ihr zu. Gerd war ein Fossil, er hatte allerhöchstens noch fünf Jahre, bevor er in den Ruhestand gehen würde. An seinem dicken Fell prallte alles ab, was sich in der Redaktion täglich entlud.

Michael Hammerbacher, der das Wirtschaftsressort betreute, war ebenfalls bereits da, sah aber – farblos wie immer – konzentriert auf seinen Schirm und schien seine Umgebung nicht wahrzunehmen. Naomi hatte in den ganzen drei Jahren, in denen sie schon bei der Zeitung arbeitete, kaum mehr als ein paar Sätze mit ihm gesprochen.

Karl Marquard vom Politikressort war krank gemeldet, eine Magen- und Darmgeschichte. Vielleicht war Michael auch so wortkarg, weil er Karl nun vertreten musste.

Timo Hesselbach, der »Star-Reporter«, wie ihn Naomi insgeheim nannte, glänzte ebenfalls durch Abwesenheit. Timo war schon der Kronprinz gewesen, als Naomi ihre Stelle angetreten hatte, und im Lauf der Jahre hatte er diese Stellung noch weiter ausgebaut. Etwas jünger als sie, war Timo immer in lässigem Chic gekleidet, und er entsprach dem Bild des eifrigen, tüchtigen Enthüllungsjournalisten so sehr, dass Naomi sich wunderte, wie der zynische, erfahrene Chefredakteur Gunnar Kempf ihm diese Rolle so offensichtlich kritiklos abnehmen konnte. Timo würde erst kurz vor Beginn der Redaktionskonferenz erscheinen, wieder ganz offensichtlich gefesselt von irgendwelchen unglaublich spannenden Enthüllungen, welche wie immer pulitzerpreisverdächtig sein würden, zumindest nach Darstellung des hoffnungsvollen Nachwuchsjournalisten. Gunnar Kempf, der die Redaktion mit eiserner Faust regierte und die frühmorgendliche Anwesenheit seiner Mitarbeiter normalerweise einforderte, würde bei seinem Günstling wieder einmal ein Auge zudrücken.

Naomi schnaubte leise. Sie selbst war in die Kultur-und-Feuilleton-Ecke gerutscht. Möglicherweise, weil sie neben Louisa Tremalzo die einzige Frau in der Redaktion war. Louisa war eine junge, pummelige Italienerin und betreute die Anzeigensparte, fröhlich, nett und hilfsbereit, und sie wurde von den männlichen Kollegen natürlich in keiner Weise als gleichwertig betrachtet. Naomi hätte Louisa gerne mehr unterstützt, anfänglich hatte sie das auch getan, doch dann hatte sie erkannt, dass sie selbst unmerklich ebenfalls aus dem Kollegenkreis ausgegrenzt wurde. So hatte sie aus reinem Selbstschutz auf eine weibliche Allianz verzichtet und beschränkte sich nur noch darauf, zu grobe Übergriffe auf Louisa zu unterbinden. Zumal die junge Italienerin längst nicht in dem Maß wie sie selbst unter der herablassenden Behandlung der Kollegen zu leiden schien, im Gegenteil, sie nahm das alles mit fröhlicher Gelassenheit hin.

Naomi seufzte. Als sie nach Stuttgart gekommen war, schien doch alles so positiv zu sein, eine kleine, aber aufstrebende und niveauvolle Tageszeitung, in die sie sich einbringen könnte, dazu ein erfahrener Chefredakteur mit einem in der Branche durchaus klingenden Namen. Nach wie vor hielt Naomi sich für eine fähige Reporterin, doch es war nicht abzuleugnen, dass sie inzwischen selbst bei dieser kleinen Redaktion ins zweite Glied gerutscht war – warum, das wusste sie eigentlich nicht so genau. Und auch »Stuttgart aktuell« hatte sich bei näherem Hinsehen nicht als das entpuppt, was Naomi sich vorgestellt hatte.

Früher oder später würde sie sich entscheiden müssen, ob sie sich eine andere Arbeitsstelle suchen sollte oder ob sie sich damit abfand, irgendwie hier zu leben und einen gleichförmigen Job ohne große Höhepunkte oder Perspektiven zu machen. Die Bezahlung bei »Stuttgart aktuell« war eigentlich nicht schlecht, auch wenn viel von dem eigentlich guten Gehalt durch die hohen Lebenshaltungskosten in Stuttgart wieder aufgefressen wurde.

Naomi schüttelte die im Augenblick müßigen Grundsatzgedanken ab und vertiefte sich in die Post. Um zehn Uhr war die Redaktionskonferenz; bis dahin musste sie das Material gesichtet haben.

»Was haben wir heute?« Gunnar sah sie reihum an. Er hatte eine Stirnglatze, halblange und ungepflegt wirkende Haare und eine Lesebrille, die er auf der Nasenspitze trug, um bedeutungsvoll über sie hinwegsehen zu können.

In gewisser Weise ist er genauso ein lebendig gewordenes Klischee wie sein Jünger Timo, dachte Naomi. Bestärkt wurde dieser Eindruck durch Gunnars unsägliche schwarze Weste, die er täglich trug, ebenso durch die Tatsache, dass er bei ihren Sitzungen permanent rauchte, was sie durchaus störte. Da Gunnar aber ohne weiteres sehr unangenehm zu seinen Mitarbeitern werden konnte, hütete sich Naomi, ihren Unwillen allzu deutlich zu zeigen. Heute kam noch hinzu, dass Timo nicht einmal zur Redaktionssitzung erschienen war, ein Fakt, der Gunnar sichtlich reizte, den er aber auf gar keinen Fall mit seinen Untergebenen diskutieren würde. In angespannter Stimmung gingen sie die Themen des Tages durch; es war alles in allem nichts wirklich Spektakuläres dabei.

»Was ist eigentlich mit diesem badisch-elsässischen Frauenmörder?«, fragte Gunnar schließlich. »Ist der immer noch auf freiem Fuß?«

Timo hatte nach dem ersten Mord und auch nach den weiteren jeweils einen Artikel geschrieben, aber die Suche nach dem Mörder schien sich schwierig zu gestalten, und nun waren auch schon mehrere Monate ohne weitere Morde verstrichen.

»Der Pamina-Mörder? Der wurde tatsächlich noch nicht gefasst.«

Da weder Gerd noch Michael reagierten, übernahm es Naomi, die eher rhetorisch gemeinte Frage zu beantworten. Es war wohl ausgeschlossen, dass Gunnar nicht wusste, dass der Mörder noch sein Unwesen trieb.

»Ach, heißt der jetzt so?«, sagte Gunnar mürrisch.

»Pamina ist die Bezeichnung des Grenzgebietes zwischen Pfalz, Baden und dem Elsass«, antwortete Naomi so beiläufig als möglich, denn Gunnar mochte es nicht, wenn seine Angestellten ihr Wissen zu deutlich zur Schau stellten.

»Palatinat, Mittlerer Oberrhein und Nord-›Alsace‹, also Nordelsass. Steht so im Internet«, fügte sie hinzu.

»Was könnten wir denn als Aufhänger nehmen, um jetzt noch mal einen Artikel über den Frauenmörder zu schreiben?«, fuhr Gunnar fort, ohne auf ihren letzten Satz einzugehen. »… solange er nicht gefasst ist oder einen weiteren Mord begeht?«

»Ich könnte einen Hintergrundbericht schreiben. Die bisherigen Schauplätze aufsuchen, Systematiken darstellen.«

Naomi hatte eigentlich nicht vorgehabt, diesen Vorschlag zu machen.

»Du? Seit wann fällt Frauenmord in das Kulturressort?«

Gunnars Erstaunen wirkte eine Spur zu geheuchelt, als dass es glaubwürdig gewesen wäre.

»Ich muss ja nicht im Kulturressort alt werden, nur weil ich eine Frau bin«, sagte Naomi bissiger, als sie eigentlich gewollt hatte.

»Ich weiß nicht … Ob sich der ganze Aufwand lohnt? Du müsstest ja jeden Tag hin- und herfahren. Oder sogar ein Zimmer dort nehmen.«

Gunnar wiegte den Kopf bedenklich hin und her.

Naomi hatte mit einem Mal die Nase voll von dieser Redaktion.

Gunnar war dick geworden in der letzten Zeit, dick und überheblich. Der anfängliche Respekt, den sie vor ihm empfunden hatte, war verloren gegangen, inzwischen fürchtete sie nur noch seine Tadel und seine oft nörgelnden Angriffe – und seine gerade in ihrem Fall an den Tag gelegte Sparsamkeit provozierte sie. Bei Timo war er immer wesentlich großzügiger, was Spesen und Ausgaben anging.

»Ich habe noch den ganzen Jahresurlaub. Ich nehme jetzt einfach zwei Wochen frei. Und die 50 Euro pro Tag für ein Zimmer kann ich mir gerade noch selbst leisten. Du kannst mir den Artikel dann ja abkaufen, wenn er fertig ist.«

Sie war jetzt ernsthaft böse. Gunnar hingegen schien eher belustigt zu sein.

»Abgemacht«, sagte er zu ihrer Überraschung. »Wenn sie gut ist, dann kaufe ich dir die Story ab.«

Naomi war sich selbst nicht ganz im Klaren, warum sie sich gerade eben so exponiert hatte, aber sie nahm sich zweierlei vor: Zum einen würde sie einen sehr guten Artikel schreiben. Und zum anderen in diesen zwei Wochen intensiv über ihre berufliche Zukunft nachdenken.

*****

NOCH AM ABEND hatte sie ihren Urlaub formell bei Gunnar eingereicht und ein Zimmer in einem badischen Gasthof gebucht, unweit vom Tatort des ersten Mordes entfernt, in einem kleinen Dorf namens Neusatz. Am nächsten Morgen packte sie ihren Koffer, und nach einem üppigen Frühstück mit Rührei und Speck setzte sie sich in ihr Auto. Bald hatte sie Stuttgart verlassen und bewegte sich auf der Autobahn in Richtung Westen. Naomi folgte dem Auf und Ab der A8 bei Pforzheim, fand sich auf den Steigungsstrecken zwischen Lastwagen eingekeilt, die sie wegen der schwachen Motorleistung ihres Kas nicht überholen konnte, ohne sich den Unmut der von hinten auf der Überholspur herandrängenden stärkeren Wagen zuzuziehen. So zuckelte sie mit sechzig Stundenkilometern die Steigungen hinauf, um sich dann wenigstens bergab beherzt auf die Überholspur zu wagen, damit sie etwas schneller vorankam.

Doch schließlich hatte sie die Ausläufer des Schwarzwaldes überquert und fuhr den Abstieg in die Rheinebene hinunter. Sie bog auf die A 5 in Richtung Süden ein und ließ den Ka mit hundert Stundenkilometern die fast kerzengerade Autobahn entlang rollen, bis sie nach gut einer halben Stunde die Ausfahrt nach Bühl erreichte. Die Weite der Rheinebene tat ihr gut. Die Felder und Kiefernwälder, welche sich links und rechts neben der Autobahn erstrecken, und der sanft geschwungene Höhenzug des Schwarzwalds, dem sie nach Süden gefolgt war, hatten etwas Beruhigendes. Jetzt bewegte sie sich auf die Berge zu, im Näherkommen erkannte sie die Weinberge, die sich bis etwa auf halbe Höhe die Hänge hinaufzogen. Naomi hatte kein Navigationssystem im Auto, sie hatte deshalb die Wegbeschreibung aus dem Internet ausgedruckt und nun auf dem Beifahrersitz liegen. Doch die Beschilderung war recht eindeutig, so dass sie das Gasthaus Traube in Neusatz ohne größere Schwierigkeiten erreichte. Das Hotel – oder besser gesagt: die Pension – mit Fremdenzimmern lag am Rande der Ortschaft, ein weiß verputztes Haus mit naturfarbenen Balken und Fensterläden. Naomis heruntergekommener Ka wirkte merkwürdig deplatziert auf dem gepflasterten Parkplatz. Als sie ausstieg, dachte sie besorgt über die Möglichkeit nach, dass der Motor Öl verlieren und dieses auf die rotbraunen, makellosen Pflastersteine tropfen könnte. Sie ging an dem Vorgarten voller Blumen und Ziersträuchern vorbei in das Haus hinein. Die Eingangstür war aus massivem Holz, in den Griff, welcher sich quer über die Türbreite erstreckte, war eine Weintraube geschnitzt. Drinnen herrschte derselbe Stil vor: massives, aber freundlich helles Holz, weißer Putz an den Wänden. Als Naomi etwas unschlüssig an der Rezeption stand, kam eine Frau auf sie zu. Sie war etwa in Naomis Alter, Anfang dreißig, und trug einen für Naomis Geschmack etwas abenteuerlichen Aufzug: eine rot karierte Bluse, enge und kurze Trachtenlederhosen, dazu rote Ballerinas. Ihre Beine waren schlank und ausgesprochen anziehend, doch auf ihrem linken Oberschenkel prangte ein großer blauer Fleck. Die Frau hatte kurze, etwas zerzaust wirkende blonde Haare, eine prägnante, gerade Nase und graue Augen. Trotz ihrer merkwürdigen Aufmachung fand Naomi sie recht hübsch.

»Sie müssen Frau Gerber sein«, sagte die Frau, und ihr sächsischer Akzent traf Naomi völlig unerwartet. Sie reichte Naomi die Hand. »Ich bin die Ulli.«

Immer noch perplex ob des unerwarteten Dialekts schüttelte Naomi Ulli die Hand. »Ich bin Naomi.«

»Ein schöner Name. Komm, holen wir dein Gepäck rein.«

Das Zimmer war nicht sehr groß und eher spartanisch eingerichtet, aber hell und freundlich. Naomi stellte ihren Koffer ab.

Ulli sah sie von der Seite an.

»Tasse Kaffee und ein Stück Schwarzwälder? Geht aufs Haus.«

Naomi kämpfte kurz und vergeblich mit sich.

»Gerne.«

Sie folgte Ulli also wieder hinunter in den Schankraum.

Die Sächsin in Lederhosen schnitt zwei große Stücke von der Schwarzwälder Kirschtorte ab, goss Kaffee in zwei Tassen und trug Kaffee und Kuchen zu einem der Tische.

Naomi trank einen Schluck, dann grub sie ihre Gabel in das Tortenstück. Einen Augenblick lang gab sie sich ganz dem Genuss hin, kostete den Geschmack von Sahne, braunem Biskuit, Schokolade, Sauerkirschen und Schnaps aus. Möglicherweise hatte sie die Augen geschlossen, denn Ulli lächelte amüsiert.

»Du stammst nicht aus der Gegend, nicht wahr?«, fragte Naomi.

Ulli nahm einen Schluck Kaffee und lachte.

»Ei verbibbsch, nee«, sagte sie mit übertriebenem Akzent. »Meine Eltern ham gleisch nach der Wende riebergemacht. Bloß mein Männe stammt aus der Gegend hier.«

Sie kicherte, und auch Naomi stimmte in ihr Lachen ein.

»Gefällt es dir hier?«

Wieder lachte Ulli und klopfte auf ihre Lederhose.

»Du siehst doch, ich versuche mich anzupassen …«

Etwas ernster setze sie hinzu:

»Doch, ich bin gerne hier. Wir haben die ›Traube‹ vor fünf Jahren gekauft und renoviert und zahlen jetzt kräftig ab. Aber es lebt sich hier sehr gut. Die Leute sind einerseits ziemlich geschäftig, aber auf der anderen Seite sehr entspannt. Das gefällt mir.«

»Ist dein Mann nicht da?«

Naomi wusste selbst nicht, warum sie fragte, war sie doch erst vor einer halben Stunde angekommen, und Ullis Mann konnte sich sowohl irgendwo im Haus aufhalten als auch zum Beispiel gerade auf eine Besorgung unterwegs sein. Dennoch wusste sie intuitiv, dass Ulli alleine lebte.

»Mein Mann reist viel. Er ist auf Montage, jetzt gerade in Südafrika. Aber am Wochenende war er da.«

Ulli lächelte halb sehnsüchtig, halb verloren, und Naomi sah unwillkürlich auf Ullis Oberschenkel mit dem verblassenden Hämatom.

»Er kommt nur alle paar Wochen, und ich muss den Laden hier notgedrungen alleine schmeißen. Aber wir brauchen das Geld.« Sie brach ab und sah Naomi von der Seite an. »Ich will dich aber jetzt um Himmels Willen nicht mit meinen Problemen zutexten.«

Sie nahm einen Bissen von der Torte.

»Und was treibt dich hierher?«

Naomi dachte kurz nach, dann entschloss sie sich, die Wahrheit zu sagen.

»Ich mache hier Urlaub. Und gleichzeitig will ich eine Reportage schreiben.«

»Über die Gegend hier?«

»Über den Pamina-Mörder.«

Ganz offensichtlich hatte sie gerade das Falsche gesagt, denn Ullis Miene verschloss sich augenblicklich.

»Um den wird jetzt schon viel zu viel Aufhebens gemacht«, sagte sie abweisend.

»Schlecht fürs Geschäft?«

»Unter anderem auch, ja.«

Naomi dachte über dieses »unter anderem« nach.

»Ich weiß noch nicht, ob der Artikel je veröffentlicht wird. Ich schreibe ihn ohne konkreten Auftrag.«

»Bist du nun Journalistin oder nicht?«

»Ich bin schon eine Journalistin, aber normalerweise schreibe ich für das Feuilleton.«

»Und warum dann diese Sensationsnummer mit dem Pamina-Mörder?«

Naomi zuckte mit den Schultern.

»Berufliche Krise? Selbstfindungsprozess? Ein letzter Versuch, doch noch Karriere zu machen? Ich habe keine Ahnung.«

Ulli deutete auf die Tasse.

»Nimmst du noch einen?«

»Danke, nein.«

Naomi aß ihren Kuchen auf. Sie seufzte genießerisch.

»Es ist eine Sünde. Es ist echt eine Sünde. Aber er schmeckt einfach zu gut … – Um auf den Mordfall zurück zu kommen: Sagst du mir trotzdem, wo ich die Gertelsbacher Wasserfälle finden kann?«

Ulli seufzte.

»Fahr die Straße den Berg hinauf, bis du nach Bühlertal kommst. Dann weiter, links den Berg hoch. Beim Hotel Wiedenfelsen zweigt genau an der Serpentine ein Weg ab. Dort sind die Wasserfälle. Sie sind eigentlich nicht zu verfehlen.«

»Danke.«

»Kommst du zum Abendessen zurück?«

»Ich denke schon.«

»Dann bis später.«

»Ja, bis später. Es war nett mit dir zu plaudern, Ulli.«

Ulli lächelte und stand auf.

Wieder musste Naomi auf ihre Beine sehen, auf den blauen Fleck auf Ullis schlankem Schenkel. Sie fragte sich, wie er wohl entstanden sein mochte.

*****

DER PARKPLATZ war wirklich leicht zu finden gewesen. Naomi hatte sich während der Durchfahrt durch Bühlertal in einem kleinen Lebensmittelladen noch eine Flasche Wasser und ein paar Äpfel gekauft.

Jetzt stellte sie den Ka am Beginn des Wanderweges auf dem Parkplatz ab und folgte zu Fuß der Beschilderung. Nach einer Viertelstunde hatte sie den Beginn der mehrstufigen Wasserfälle erreicht. Der Wald war hier hoch und dicht, es herrschte ein feuchtes, kühles Halbdunkel. Naomi schloss die Augen und roch: Moos, Farn, Tannen und den Geruch des herabstürzenden Wassers.

Kann man Wasser eigentlich wirklich riechen?, dachte Naomi und öffnete die Augen wieder. Sie folgte dem Wanderweg, der die Kaskaden entlang von unten nach oben führte, stieg über flache Steinplatten, ging an großen, mit Moos bewachsenen Felsen vorbei.

Das ist wirklich eine wildromantische Zauberwelt aus Tannen, Felsen und plätscherndem Wasser, dachte Naomi. Es würde mich nicht wundern, wenn es hier Trolle oder Wichtel gäbe.

Doch dann fielen ihr wieder der Polizeibericht und die Reportagen ihrer Kollegen ein, und sie fröstelte.

Sie erreichte nun einen kleinen Wasserfall, der Bach stürzte hier etwa drei Meter in die Tiefe, in einen kleinen, flachen Teich hinein. Naomi überlegte, ob das die Stelle gewesen sein mochte, doch der Platz passte nicht ganz zu den Schilderungen, die sie gelesen hatte. Sie ging also weiter, folgte dem Pfad nach oben. Auch der zweite Wasserfall passte nicht zu der Beschreibung. Dann erreichte sie den dritten, und sofort als sie ihn sah, wusste sie, dass es der richtige war. Naomi holte tief Luft und ließ die Szene auf sich wirken. Dem herabstürzenden Wasser gegenüberliegend gab es eine kleine ebene Fläche aus flachen Steinplatten, kleineren Felsbrocken und Kieselsteinen dazwischen. Ob der Platz nun natürlichen Ursprungs oder künstlich angelegt war, vermochte Naomi nicht zu sagen. Das Ganze machte auf sie in jedem Fall den Eindruck einer kleinen Arena mit dem Wasserfall als Bühne. Das Wasser prasselte auf eine Felsplatte, bevor es sich in das kleine Becken unterhalb der Platte ergoss. Naomi versuchte sich die nackte gefesselte Frau im eisigen Wasserstrahl vorzustellen.

Wie lange mochte sie in der Kälte wohl noch gelebt haben?

Eine Zeitlang verweilte sie noch vor der Kulisse des Wasserfalls, an der Stelle, an welcher vielleicht auch der Mörder gestanden haben mochte, während sein Opfer langsam den Erfrierungstod gestorben war. Dann ging sie näher an den kleinen Teich heran. Nach einigem Suchen entdeckte sie die beiden Löcher im Fels, mit denen die Stange festgemacht gewesen war. Die Stange, an der die Frau quasi gekreuzigt im tödlich kalten Wasserstrahl gestanden hatte. Die beiden Löcher im Fels waren das einzige noch sichtbare Zeichen des Mordes. Naomi zog ihre flachen Wanderhalbschuhe und die Strümpfe aus, dann krempelte sie die Hosenbeine ihrer Jeans nach oben und stieg in den flachen Teich, um sich die beiden Bohrungen näher anzusehen. Auch jetzt im Frühsommer war die Kälte des Wassers ein Schock. Die Strömung zerrte zudem mit erstaunlicher Kraft an ihren Füßen.

Jetzt nur nicht ausrutschen, dachte Naomi. Der Gedanke, in voller Länge in das eisige Wasser zu fallen, hatte keinerlei Reiz für sie. Sie bewegte sich vorsichtig auf die Felswand neben dem Wasserfall zu. Das Spritzwasser begann, ihre Bluse zu durchnässen. Endlich hatte sie eines der Löcher erreicht und besah es sich von nahem. Es war annähernd kreisrund und maß vielleicht einen Zentimeter im Durchmesser. Naomi hob ein Stöckchen auf, das gerade vorbeischwamm, und steckte es probehalber bis zum Anschlag in das Loch hinein. Die Bohrung war etwa eine Handbreit tief.

»Vermutlich hat er eine Akku-Bohrmaschine benutzt.«

Naomi erschrak, als sie die Stimme hinter sich hörte, und beinahe hätte sie das Gleichgewicht verloren. Sie drehte sich vorsichtig, um zu schauen, wer sie angesprochen hatte.

Es ist nicht fair, dachte sie, als sie ihn gesehen hatte. Es ist kein bisschen fair, dass Apoll hier frei herumläuft. Dass er mich anspricht. Und dass ich mit hochgekrempelten Hosenbeinen, mit mindestens zehn Kilo Übergewicht im Wasser herumturne, während mir der Mann meiner Träume begegnet.

Apoll war recht groß, aber er war kein Riese. Er hatte breite Schultern, ohne massig zu wirken, lange braune Haare, ohne wie ein Hippie auszusehen, ein markantes Gesicht mit hohen Wangenknochen und blitzenden braunen Augen, die Naomis Knie weich werden ließen. Sie stakste durch das Wasser zurück. Als sie die Böschung erreicht hatte, rutschte sie prompt aus. Ein stechender Schmerz zuckte durch ihren rechten Knöchel. Verzweifelt versuchte sie, einen wenig damenhaften Fluch zu unterdrücken. Es gelang ihr nicht.

Ausgerechnet jetzt musste sie umknicken! Einen Augenblick lang stützte sie sich an der Felswand ab und blieb stehen. Sie wartete, dass der Schmerz in ihrem Knöchel weniger wurde. Apoll war zu ihr geeilt, stand nun mit den Schuhen ebenfalls im Wasser und hielt sie am Arm.

»Meinen Sie, Sie kommen die Böschung hoch?«

Naomi winkte ab.

»Es ist nichts.«

Eine glatte Lüge, denn in ihrem Knöchel pochte es immer noch dumpf.

Sie fluchte innerlich.

Mein Gott, wie peinlich! Endlich mal ein attraktiver Mann, und ich muss mich aufführen wie ein dummes, hilfloses Weibchen.

Sie biss also die Zähne zusammen und kletterte die Böschung wieder hinauf, Apolls Hand immer noch stützend an ihrem Unterarm. An der kleinen Freifläche angekommen, setzte sie sich auf einen Stein und betastete ihren schmerzenden Knöchel.

»Sie interessieren sich also auch für den Mord?«, fragte sie betont beiläufig.

»Ja. Ich wohne hier in der Gegend, da kriegt man so etwas geradezu zwangsläufig mit. Sie kommen von weiter weg?«

»Aus Stuttgart.«

Der Apoll grinste breit.

»Nun ja, man kann wohl nicht alles haben. Aber Sie haben gottlob keinen schwäbischen Akzent.«

»Ich bin Naomi Gerber. Und ich komme eigentlich nicht aus Schwaben. Ich arbeite nur in Stuttgart.«

Der Apoll nahm ihre Hand in seine und schüttelte sie.

»Ralf Schuhmann.«

Ralfs Hand war groß und warm. Er ließ sie nun wieder los.

»Ja, das Dreieck zwischen Stuttgart, Böblingen und Gesindelfingen ist ein Moloch, wo ganze Heerscharen arbeiten, alleine schon bei Daimler Benz.«

… Moloch, in dem ganze Heerscharen …, korrigierte Naomi im Stillen.

»Und wieso interessieren Sie sich so sehr für den Mord, dass Sie dafür ins eiskalte Wasser steigen?«

»Berufliches Interesse«, sagte Naomi. »Ich bin Journalistin.«

»Schreiben Sie einen Artikel über den Mord? Ist das nicht ein bisschen spät?«

»Ja, ich schreibe darüber. Eine Art Zusammenfassung. Es ist ja wohl eine ganze Serie. Ich will versuchen, auf die Hintergründe einzugehen, eventuelle Muster herauszuarbeiten. So diese Richtung.«

Ralf lachte.

»Ist denn jetzt schon Saure-Gurken-Zeit?«

»Es steckt in erster Linie etwas Persönliches dahinter.«

»Ah.«

Ralf fragte nicht weiter nach, was Naomi als sehr angenehm empfand.

»Gut also: Sie sind doch aus der Gegend. Und wir sitzen hier am Tatort. Was können Sie mir über den Mord nun erzählen? Was spricht man darüber? Haben die Leute Angst vor weiteren Morden?«

Ralf nickte.

»Darf ich mir mal Ihren Knöchel ansehen? Bevor wir über das Verbrechen an sich plaudern, würde ich gerne wissen, ob ich Sie ins Krankenhaus schaffen muss.«

»Kennen Sie sich denn mit Knöchelverletzungen aus?«

»Bis auf meinen eigenen Bänderriss vor ein paar Jahren nicht besonders. Darf ich?«

Ralf griff vorsichtig unter Naomis Wade, weit weg von der schmerzenden Stelle, und hob ihren Unterschenkel an. Naomi war unbehaglich zumute, ihre Füße waren noch nass und durch das Laufen über die Böschung auch sandig. Sie hatte ihre Füße schon immer als hässlich empfunden: mit Schuhgröße 38 waren sie zwar durchschnittlich groß, aber sie waren einfach zu breit. Sie zeigte sie nur ungern und trug, soweit es möglich war, geschlossene Schuhe. Und nun betrachtete der fleischgewordene Apoll ihren unattraktiven Fuß mit großer Aufmerksamkeit von allen Seiten.

»So richtig dick geschwollen ist eigentlich nichts«, stellte er fest. Dann legte er zu allem Überfluss noch seine warme Handfläche unter ihre Fußsohle.

»Wenn Sie nichts dagegen haben, dann drücke ich jetzt ganz leicht nach oben. Es sollte nicht weh tun. Aber wenn Ihr Band am Sprunggelenk gerissen ist, dann lässt sich der Knöchel verschieben. Darf ich?«

Naomi nickte.

»Ich weiß nicht genau warum, aber irgendwie vertraue ich Ihnen …«, sagte sie mit bereits zusammengebissenen Zähnen.

Ralf lächelte und drückte sacht gegen ihren Knöchel.

»Der sitzt bombenfest«, sagte er zufrieden. »Vielleicht bleibst du noch eine Weile sitzen, bevor wir versuchen, zu deinem Auto zu kommen. Parkst du unten auf dem Wanderparkplatz? Der Ka mit dem Stuttgarter Kennzeichen?«

Naomi war der Wechsel zum vertrauten Du nicht entgangen, und sie überlegte, ob sie es angemessen finden sollte.

Ach was, dachte sie. Die Menschen hier auf dem Land sind nicht so kompliziert, das ist alles.

»Was ist jetzt mit dem Mord? Was weißt du darüber?«

»Also gut. Die junge Frau stammte aus der Gegend hier. Sie hat im Fremdenverkehrsbüro in Bühlertal gearbeitet.«

»Hast du sie gekannt?«

»Nein. Nicht persönlich. Ich wohne allerdings auch etwas weiter im Süden. Jedenfalls, er hat sie entführt, ich glaube auf dem Nachhauseweg von einer Sportveranstaltung. Oder von irgendeinem Verein. Er hat sie hierher gebracht und gefesselt, die Arme ausgestreckt an eine Stange, ähnlich Jesus am Kreuz. Dann hat er sie unter den Wasserfall gezerrt und die Stange an den Felsen geschraubt. Man hat keine Betäubungsmittel in ihr gefunden. Sie muss sich also ziemlich gewehrt haben. Trotzdem hat er sie dort unter dem Wasserstrahl fixiert. Dann ist er vermutlich so lange geblieben, bis sie erfroren war. Als man sie gefunden hat, war sie mit einer Eisschicht bedeckt. Sie soll eine ziemlich schöne Frau gewesen sein. Er hat sie vergewaltigt, bevor er sie umgebracht hat.«

Naomi schluckte. Diese nüchterne, drastische Zusammenfassung gerade aus dem Mund dieses Apolls berührte sie unangenehm, und das, obwohl sie doch Reporterin war.

»Du weißt ziemlich viel darüber.«

»Über diesen und über die anderen drei Morde.«

»Warum?«

»Ich schreibe ein Buch darüber.«

»Ach. Kann man denn über vier Morde, die noch nicht aufgeklärt sind, ein Buch schreiben?«

»Ich setze sie ins Verhältnis zu, sagen wir: ›historischen‹ Morden – Jack the Ripper, Fritz Haarmann, Jürgen Bartsch.«

»Du bist also Schriftsteller?«

Naomi versuchte sich zu erinnern, doch sein Name sagte ihr nichts.

»Ich bin alles Mögliche. Von der Schriftstellerei alleine könnte ich nicht leben.«

»Ja, das kann ich mir leider nur zu gut vorstellen.«

Ralf streckte sich.

»Ein wirklich schöner Ort, nicht wahr?«

»Schön, obwohl hier ein Mord geschehen ist – oder gerade deswegen?«

Naomi wunderte sich selbst über ihre Direktheit.

Ralf lachte leise.

»Auf diese Frage weiß ich beim besten Willen keine Antwort. Und wenn ich sie wüsste, dann würde ich sie möglicherweise nicht äußern.«

Naomi ruderte eilends zurück.

»Okay, ich gebe zu, die Frage ist unsinnig. Letzten Endes wird die Schönheit nicht davon beeinflusst, was hier geschehen ist. Nicht objektiv.

Aber ich habe schon einige Zeit einen anderen Gedanken im Hinterkopf: Hat der Mörder diesen Ort wegen seiner Schönheit ausgesucht? Kennst du die Plätze, an denen die anderen Morde begangen wurden? Sind sie auch so ausgewählt … romantisch

Ralf stand auf.

»Darüber würde ich mich gerne ausführlicher mit dir unterhalten, Naomi. Aber jetzt wäre mir wohler, wenn ich dich zunächst einmal zu deinem Auto schaffen könnte. Warte, ich helfe dir, deine Schuhe wieder anzuziehen.«

Er nahm Naomis verletztes Bein wieder auf und rieb den inzwischen getrockneten Sand von ihrem Fuß. Naomi empfand die Berührung als sehr intim, und sie war sich nicht ganz darüber im Klaren, ob sie es gut finden sollte, dass Ralf sie so anfasste. Der hatte ihr inzwischen den Strumpf angezogen und schob ihr nun vorsichtig den Schuh über den Fuß. Dann schloss er ihn behutsam und zog die Schnürsenkel straff.

»Den anderen Schuh kann ich selbst anziehen«, sagte Naomi, doch Ralf lächelte nur und nahm ihren anderen Fuß, säuberte auch ihn und zog ihr auch hier Strumpf und Schuh an. Seine Finger waren sanft, warm und zielstrebig.

»Komm jetzt, versuch mal zu laufen.«

Naomi erhob sich und trat vorsichtig auf den Fuß mit dem lädierten Knöchel.

»Es geht schon«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen.

Ralf nahm sie am Unterarm, und sie gingen langsam los.

Die Strecke war viel länger, als Naomi in Erinnerung hatte, und es tat auch mehr weh, als sie Ralf gegenüber zugeben wollte. Sie merkte, dass ihr der Schweiß auf der Stirn stand, und mit jedem Schritt stützte sie sich mehr auf Ralfs Arm. Schließlich blieb sie stehen.

Ralf blieb ebenfalls stehen, ohne ein Wort zu sagen.

»Ich glaube, ich kann nicht mehr weiter«, sagte Naomi unglücklich. Die ganze Situation war ihr unendlich peinlich.

»Es wundert mich, ehrlich gesagt, dass du überhaupt so weit gekommen bist«, sagte Ralf trocken. »Komm, ich trage dich.«

Naomi protestierte, doch Ralf packte sie am Arm und am Oberschenkel und warf sie sich ohne Federlesens wie ein Kalb über die Schultern. Er ging sofort schnellen Schrittes los.

»Entschuldige mein rabiates Vorgehen, aber ich denke, wir bringen das jetzt so schnell wie möglich hinter uns.«

Zehn Minuten später hatten sie den Parkplatz erreicht, und Ralf ließ Naomi neben ihrem Auto wieder auf den Boden hinunter.

Neben ihrem Ka stand ein Boxster. Naomi interessierte sich nicht für Autos, aber man kann schwerlich in Stuttgart leben, ohne ein Mindestmaß an Kenntnis über die Porsche-Modellreihe zu gewinnen. Dieser Porsche hier war in jedem Falle bemerkenswert. Es handelte sich um einen offenen Roadster, der wohl schon ziemlich heruntergewirtschaftet, vor allem aber über und über bemalt war. Mit Blumen, Gesichtern und Ornamenten.

»Er ist dem 356er Porsche von Janis Joplin nachempfunden. Ein Freund von mir kann gut mit der Airbrush-Pistole umgehen«, sagte Ralf. »Glaubst du, dass du fahren kannst?«

»Das sollte nun wirklich gehen.«

»Möchtest du zu einem Arzt?«

»Nein, es geht schon. Ich denke nicht, dass der Knöchel wirklich verletzt ist.«

»Gut. Wie ich vorhin schon sagte: Ich würde mich gerne weiter mit dir unterhalten. Darf ich dich vielleicht heute Abend zum Essen einladen?«

Naomi zögerte. Es ging ihr alles viel zu schnell, sie war es nicht gewohnt, auf diese Art Kontakt aufzunehmen. Andererseits …

»Hmm. Ich habe meiner Wirtin versprochen, heute Abend bei ihr in der Traube zu essen … ich glaube, sie wartet auf mich.«

»Welche Traube?«

»Die in Neusatz.«

»Ah, bei der Ulli? Deren Angus-Steaks sind sehr gut.«

Naomi gab sich innerlich einen Fußtritt.

»Äh … wenn es dir nichts ausmacht, dorthin zu kommen …«

»Aber gerne. Sagen wir um acht? Oder wäre sieben Uhr besser? Ich glaube, ich bin jetzt schon hungrig.«

»Um sieben wäre für mich okay.«

Ralf wartete, bis Naomi in ihr Auto gestiegen war, dann folgte er ihr in seinem buntbemalten Boxster, bis sie in die Straße nach Neusatz eingebogen war.

*****

NAOMI atmete tief durch. Sie humpelte durch die vom Morgentau noch feuchten Weinberge an den Hängen um Neusatz und versuchte, ihrer Verwirrung Herr zu werden. Ralf und sie hatten gestern Abend zusammen gegessen, die Steaks, welche Ralf empfohlen hatte. Ulli hatte sie ihnen zubereitet und dafür extra den Holzkohlegrill angeworfen. Und das Essen war wirklich ein Traum gewesen. Ulli hatte serviert und sich dann diskret zurückgezogen. Irgendwie hatte Naomi den Eindruck gewonnen, dass Ralf und Ulli sich näher kannten. Wie nahe genau, hatte sie bisher allerdings nicht richtig ergründen können.

Nachdem sie Steaks und Salat gegessen hatten, sprachen sie über die Mordfälle und tranken dabei einen nicht näher etikettierten Rotwein. Naomi kannte badische Weine und fand sie zumeist etwas flach im Geschmack, doch dieser war dem französischen Roten sehr nahe, nur dass er reiner und natürlicher schmeckte. Vielleicht hatte sie deshalb etwas mehr getrunken als sonst.

Natürlich hatte Ralf sie verführt. Die diesbezügliche Unausweichlichkeit war Naomi schon am Wasserfall klar gewesen. Ihre Verwirrung gründete daher nicht auf der Tatsache selbst, dass sie mit Ralf geschlafen hatte. Ralf war auch kein schlechter Liebhaber gewesen, ganz im Gegenteil … Aber er hatte etwas getan, dass sie zutiefst verunsicherte: Er hatte ihr Befehle erteilt. Nicht etwa grob oder herrisch, aber er hatte sie mit einer sanften Selbstverständlichkeit herumkommandiert, die Widerspruch weder duldete noch überhaupt in Betracht zog. Er hatte ihre Bewegungen und Aktivitäten mit großer Selbstverständlichkeit gesteuert. Nicht, dass er ausgefallene Dinge von ihr verlangt oder sie zu irgendetwas gezwungen hätte, das sie nicht wollte. Aber er hatte ihr die ganze Zeit befohlen. Und sie war seinen Befehlen gefolgt. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Sie ahnte aber, dass Ralf in der Lage sein würde, sie tief zu verletzen. Und das beunruhigte sie.

Inzwischen hatte die Sonne an Kraft gewonnen, der Tau war verschwunden. Naomi kehrte also um und ging langsam zum Hotel zurück. Ihr Knöchel schmerzte zwar noch, aber es ging schon viel besser als am Vortag.

In der Traube empfing sie der Duft von Kaffee und frischen Brötchen. Ulli kam zu ihr, als sie den Frühstücksraum betrat. Sie trug wieder ihre anscheinend unvermeidliche knappe Trachtenlederhose und zur Begrüßung umarmte sie Naomi kurz.

Naomi war darüber ein wenig überrascht, auch wenn sie Ulli mochte, und sie fragte sich, ob diese körperliche Herzlichkeit mit Ralf zu tun haben mochte.

Das letzte, was sie jetzt gerade gebrauchen konnte, war, nun in anzügliche Gespräche über den gestrigen Abend verwickelt zu werden. Doch das hatte Ulli anscheinend nicht vor. Sie fragte Naomi nur, ob sie zum Frühstück Rühr- oder Spiegelei mit Speck haben wolle, und Naomi bat sie nach kurzem Zögern um Rührei. Ulli ließ sie in Ruhe, nachdem sie die Eier gebracht hatte, und Naomi war ihr sehr dankbar dafür. Sie hatte sich für den Nachmittag mit Ralf verabredet, und der Gedanke, ihn wiederzusehen, beunruhigte sie.

In seinem mörderischen Element

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