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Miriam

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Miriam schließt das niedrige Gartentor hinter sich, während ihre beiden Hunde, ein kurzhaariger Chihuahua und ein kaum größerer Kleinspitz, dessen rassespezifisches langes Fell seltsam unregelmäßig geschoren ist, um ihre Beine herum Fangen spielen und sich gegenseitig ankläffen.

„Zeus! Apollo! Wollt ihr euch wohl benehmen!“, herrscht Miriam die beiden an. Mit einem kräftigen Ruck, der den Hunden beinahe den Boden unter den Füßen entzieht, strafft sie die Leinen und bringt ihre Kläffer damit zum Schweigen. Kurzzeitig.

„Brav, meine Schatzis“, säuselt sie sanft, was der Chihuahua sogleich zum Anlass nimmt, mit dem Kläffen fortzufahren. Miriam beugt sich ganz tief zu ihm hinunter, bis ihre Nasenspitze fast die seine erreicht, und bedenkt ihn mit einem finsteren Blick. Sofort verstummt das Tier. Anschließend richtet sich Miriam wieder auf, schüttelt ihr glänzendes rotes Haar, setzt ein selbstzufriedenes Lächeln auf und stolziert in ihrem langen roten, eng taillierten Wollmantel mit dem schwarzen Kunstpelzkragen im Vintage-Style und auf ihren pechschwarzen Wildlederstiefeln mit Pfennigabsätzen die ruhige Wohnstraße des idyllisch gelegenen Gifhorner Stadtteils Winkel entlang.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stutzt ein Ehepaar, beide in den Siebzigern, eine hohe Buchenhecke, die ihr Grundstück zur Straße hin vor neugierigen Blicken schützt. Der Mann, ein ehemaliger Betriebsratsvorsitzender mit zerzaustem grauen, schütteren Haar, bekleidet mit einer zerschlissenen alten Barbour-Jacke, einem dicken grauen Schal und einer ausgeleierten Cordhose, lässt unwillkürlich die elektrische Heckenschere in seiner Hand sinken und starrt Miriam mit offenem Mund hinterher. Seine Frau, eine ehemalige Lehrerin, die mit einer dicken dunkelblauen Weste und einer beigefarbenen Stoffhose bekleidet ist, harkt den Heckenschnitt zusammen. Als sie bemerkt, wie die laufende Schere dem Bein ihres Mannes gefährlich nahe kommt, macht sie ihn zischend darauf aufmerksam. Dann folgt ihr Blick dem ihres Gatten. Miriam grüßt die beiden mit einem vornehm verkniffenen Lächeln. Die Frau beantwortet Miriams Gruß mit einem kurzen Nicken. Ein scheeler Seitenblick auf ihren Mann zeigt ihr, dass er sich immer noch nicht wieder vollständig in der Gewalt hat. Sie schüttelt den Kopf und seufzt missbilligend, sagt jedoch nichts. Auf einmal fängt sich ihr Gatte wieder. Er klappt seinen Unterkiefer hoch und grüßt Miriam ebenfalls, als die sich schon längst abgewendet hat, um ihren Weg fortzusetzen. Ihre beiden Köter, die erneut aneinandergeraten sind und sich gegenseitig angiften, schleift sie hinter sich her.

„Wann erschießt sie die Biester endlich?“, murmelt die Frau, während sie sich bückt, um die zusammengerechten Zweige aufzuheben und in den PopUp-Gartensack zu stopfen.

Ihr Mann kann seinen Blick noch immer nicht von Miriam lösen. Er sieht ihr nach, während sie mit federleichtem Schritt und wiegendem Gang die Straße hinabschwebt. „Als ich letzte Woche die Schrotflinte aus dem Schrank geholt habe, weil die Biester wieder einmal kein Ende fanden mit ihrer Kläfferei, hast du mich genau davon abgehalten“, erwidert er vorwurfsvoll.

Seine Frau sieht auf und stellt fest, dass ihr Gatte immer noch der schönen Nachbarin hinterherstarrt. Mit rollenden Augen fährt sie fort, abgeschnittene Zweige in den Korb zu stopfen. „Du weißt, wie die Leute heutzutage sind. Vermutlich hätte sie die Polizei gerufen und dich angezeigt. Diese Scherereien sind die Viecher nicht wert. Außerdem hätten mir die Kinder leidgetan.“

Endlich gelingt es ihrem Mann, seinen Blick von Miriam zu lösen und sich seiner Frau zuzuwenden. Erstaunt blickt er sie an. „Wieso das?“, fragt er.

Seine Gattin richtet sich stöhnend auf und massiert sich das Kreuz. „Die Zwillinge hängen an den Biestern. Gott allein weiß, warum. Vielleicht, weil sie auf diese Weise wenigstens ein bisschen Nestwärme zu spüren bekommen, wenn sie mit den Drecksviechern herumtoben und kuscheln können. Auf so eine Idee würden ihre Eltern ja nicht kommen.“

Ihr Gatte schnaubt verächtlich. „Pah! Das wüsste ich aber, wenn den beiden Gören etwas an den Kötern läge! Das Mädchen hat letztens versucht, die nackige Teppichratte im Vogelhäuschen einzusperren und der Junge hat dem Spitz Harz ins Fell geschmiert, um ihn anzuzünden. Der Vater ist im letzten Moment dazwischen gegangen.“

Die Frau nickt vielsagend mit dem Kopf. „Da siehst du es! Die Kinder betteln um Aufmerksamkeit. Was erwartest du, wenn sie in einem Elternhaus aufwachsen, wo sich niemand wirklich für sie interessiert?“

„Um Aufmerksamkeit betteln?“, ruft ihr Mann entgeistert.

Seine Gattin zischt ihn an und bedeutet ihm mit Blick auf die benachbarten Häuser, dass er seine Lautstärke reduzieren möge.

„Um Aufmerksamkeit betteln?“, wiederholt ihr Mann, nun in einem durchdringenden Flüsterton. „Die Gören sind der beste Grund dafür, Abtreibungen bis mindestens zum zwölften Lebensjahr zu erlauben. Verzogen bis zum Gehtnichtmehr und grausam gegenüber allem und jedem, der schwächer ist als sie selbst. Eine furchtbare Brut!“

„Wen wundert‘s?“ entgegnet seine Frau. „Die Kinder können doch nichts dafür, dass die Eltern ihnen jeden Luxus in die kleinen Ärsche stopfen, um zu kompensieren, dass sie sich die Bälger eigentlich nur zu Repräsentationszwecken zugelegt haben. Hauptsache, die Schulnoten stimmen und sie können die Gören der staunenden Öffentlichkeit geschniegelt und gebügelt in Edel-Klamotten präsentieren. Jeder soll glauben, alles sei bestens im Hause der perfekten Familie Witt“, schimpft sie. Empört schüttelt sie den Kopf. „Ich bleibe dabei: Es sind arme Kinder!“

Ihr Mann brummt: „Trotzdem sollte man sie erschießen.“ Er blickt auf die elektrische Heckenschere in seiner Hand. Plötzlich scheint er sich daran zu erinnern, wozu er eigentlich mit seiner Frau zusammen auf dem Gehweg steht. Er schaltet das Gerät wieder ein und setzt seine Arbeit an der Hecke fort.

Währenddessen hat Miriam mit ihren Hunden im Schlepptau bereits eine weitere Straße des beschaulichen Viertels hinter sich gelassen. Sie spaziert vorbei an Architektenhäusern auf großzügig geschnittenen Grundstücken mit hohen Bäumen in gepflegten Gärten. In der Einfahrt eines hellgelb verputzten Hauses, das im Stil einer italienischen Villa erbaut wurde, steht eine Frau neben einem makellos sauberen schneeweißen SUV der neuesten Generation aus Ingolstadt und unterhält sich mit einer Bekannten, die auf ihrem Spaziergang bei ihr vorbeigekommen ist. Als sich Miriam den beiden nähert, unterbrechen sie ihre Unterhaltung. Mit undurchdringlicher Miene schauen sie ihr und ihren Hunden entgegen, die sich gegenseitig anknurren und nach einander schnappen. Dabei kommen sie Miriams spitzen Absätzen immer wieder gefährlich nahe, was die jedoch ignoriert.

„Hallo Beate, hallo Ewa“, grüßt sie höflich lächelnd.

„Hallo Miriam“, antworten die beiden im Chor.

Die Blicke von Beate und Ewa folgen Miriam, während sie an ihnen vorbeistolziert. Kaum treffen sie auf ihren Rücken, wispert Ewa: „Hast du gehört? Unsere fromme Arztgattin soll ein Verhältnis haben.“

Beate lässt einen abschätzigen Grunzlaut hören. „Das kann ich mir kaum vorstellen! Die lässt doch keine Gelegenheit aus, aller Welt aufs Brötchen zu schmieren, was für eine gute Christin sie ist und wie sehr sie sich in ihrer Kirchengemeinde engagiert. Ihr guter Ruf bedeutet ihr alles!“

Ewa schüttelt den Kopf. „Na, ich weiß nicht. Wo Rauch ist …“

Der restliche Satz geht im Geklapper von Miriams Absätzen unter. Sie selbst hat wohl gehört, was die beiden über sie sprachen, doch es stört sie nicht. Im Gegenteil. Ein überlegenes Lächeln malt sich auf ihren Lippen. Miriam weiß selbstverständlich um ihre Wirkung auf Männer. Das war schon immer so und daran hat sich bis zum heutigen Tag nichts geändert. Ihre Figur ist trotz ihrer neununddreißig Jahre genauso makellos wie ihre Haut, ihr Haar und ihre Kleidung. Alles an ihr wirkt perfekt. Sie versteht es, ihre Reize durch figurbetonte Outfits zur Schau zu stellen, doch sie tut es mit Stil und stets in untadeliger Form. Sie weiß, was sich gehört, und sie kleidet sich immer so, dass sie jederzeit, ohne Aufsehen zu erregen, ein Gotteshaus betreten könnte: Reizvoll und ihrer Figur schmeichelnd, aber ganz bestimmt nicht billig. Das ist unter ihrer Würde.

Es ist der Neid der Besitzlosen, sagt sie sich im Stillen als Antwort auf den Klatsch, der hinter ihrem Rücken ausgetauscht wurde. Selbstbewusst reckt sie ihren Kopf, der auf einem langen, wohlgeformten Hals ruht, noch ein Stückchen weiter aus dem schwarzen Kunstpelzkragen heraus. Außerdem haben die beiden Damen durchaus recht mit dem, was sie sagen, überlegt sie. Mein tadelloser Ruf ist mein Kapital. Niemals würde ich ihn aufs Spiel setzen!

Miriam weiß, dass ihr Mann das auch nicht tolerieren würde. Philipp Witt, Schönheitschirurg mit eigener Privatklinik, entstammt einer erzkonservativen, alteingesessenen Gifhorner Familie. „Sein“ bedeutet in seinen Kreisen nichts, „Schein“ dafür alles. Das wusste Miriam vom ersten Moment ihrer Bekanntschaft an und das hat sie fasziniert. Sie war ehrgeizig und wollte den gesellschaftlichen Aufstieg. Allerdings wäre ihr nie in den Sinn gekommen, selbst hart dafür zu arbeiten oder sich in einem Unternehmen hochzubuckeln. Es wäre ihr auch zu ungewiss gewesen, sich auf eine Ausbildung oder ein Studium, den eigenen Fleiß und die nötige Portion Glück zu verlassen. Sie suchte sich lieber ein picobello hergerichtetes Nest und setzte sich hinein. Mit ihrem Aussehen, ihrer Intelligenz, ihren Umgangsformen und weil sie jederzeit wusste, was von ihr erwartet wurde, eroberte sie sich ihren Platz an Philipps Seite und damit in der besseren Gifhorner Gesellschaft. Mit der Geburt ihrer Kinder sicherte sie sich ihre Position endgültig. Darüber hinaus ist sie ihrem Mann eine in fast allen Lebenslagen untadelige Ehefrau, die die Fassade des perfekten Familienglücks aufrecht und ihm alle lästigen Privatangelegenheiten vom Hals hält. Das weiß er zu schätzen und dafür zeigt er sich erkenntlich, indem er ihr alle Freiheiten lässt, die sie begehrt, und alle Wünsche erfüllt, die er sich leisten kann.

Das Lächeln auf Miriams Gesicht wird eine Spur kälter. Unwillkürlich zieht sie den Kragen aus schwarzem Kunstpelz dichter an ihren Hals heran. Es ist wirklich ganz schön kalt geworden, denkt sie bei sich. Vielleicht hätte ich mir doch etwas Wärmeres anziehen sollen! Das nächste Mal nehme ich den Daunenmantel, wenn ich bei diesen Temperaturen vor die Tür gehe, überlegt sie.

Doch glücklicherweise hat sie es jetzt nicht mehr weit. Sie wirft einen schnellen Blick über ihre Schulter, überquert die Straße und biegt kurz darauf links ab. Dann hat sie ihr Ziel erreicht. Es liegt hinter einem dunkel gestrichenen Jägerzaun, der die Verlängerung einer Hecke aus riesigen Koniferen bildet. Miriam folgt der mit Betonplatten ausgelegten Einfahrt, deren Ende das breite graue Tor einer Doppelgarage bildet. Die Garage selbst geht nahtlos über in ein klobiges weiß verputztes Haus mit schwarzer Tür, schwarzen Fensterahmen und ebensolchen Fensterläden. Der tadellos kurz gehaltene Rasen, auf dem kein Blatt und nicht einmal eine Nadel von einer der umstehenden Kiefern zu liegen scheint, sowie die ordentlich eingefassten, gerade geschnittenen Beete an der Hauswand entlang vermitteln einen fantasielosen Eindruck, den die Besitzer augenscheinlich durch einen übergroßen Ordnungssinn bis hin zur Pedanterie wettzumachen suchen. Wobei in diesem Haus seit einiger Zeit kein Paar mehr wohnt, sondern nur noch ein alleinstehender älterer Herr von achtundsechzig Jahren. Es ist der Kirchenvorstand von Miriams Gemeinde. Seit dem Tod seiner Frau führt er ein zurückgezogenes Leben und scheint einzig und allein für die Belange der Kirche und die seines Gartens zu leben. Jeder in der Gemeinde weiß, dass Miriam es als ihre christliche Pflicht erachtet, ab und zu nach dem Rechten zu sehen. Sie selbst weiß, dass ihre Besuche ihm guttun, auch wenn er es nicht direkt sagt. Aber er zeigt es ihr – auf seine Weise – und er hat sie noch nie enttäuscht.

Für einen Moment flackert in Miriams Augen eine Gefühlsregung auf, die nicht ganz zu der kühlen, untadeligen Arztgattin zu passen scheint. Schnell hat sie sich wieder im Griff. Während sie den schmalen Weg auf den sorgfältig gekärcherten Betonplatten entlangstolziert, die von der Einfahrt bis zur Haustür führen, herrscht sie ihre zankenden Hunde an, gefälligst still zu sein, und tatsächlich gehorchen sie. Dann betätigt Miriam die Klingel. Im Inneren des Hauses hört sie Schritte und einen Moment später wird die Tür von einem großen, schlanken Mann mit grauen Schläfen und hellblauen Augen geöffnet. Für sein Alter hat er sich gut gehalten und er ist unbestreitbar attraktiv. Gleichzeitig hat sein Auftreten etwas Autoritäres und Abweisendes, das die Menschen normalerweise davon abhält, ihm näher zu kommen. Alle, bis auf Miriam.

Als der Mann sie erkennt, nimmt sein Blick einen wissenden Ausdruck an. „Was kann ich für dich tun?“, fragt er. Sein kühler, strenger Blick scheint sie zu durchbohren.

„Ich möchte beichten“, antwortet Miriam und senkt beschämt den Kopf. „Doch vorher werde ich sündigen.“ Sie knöpft ihren Mantel auf und öffnet ihn. Darunter ist sie splitterfasernackt.





















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